Sechs Jahre später gibt es eine Fortsetzung! Zumindest „Pambi“ hat einen ‚Doppelgänger‘ bekommen (LINK). Für ihn habe ich glasklare Studien von Wyatt MacGaffey zu den „Minkisi“-Fetischen an der Küste und in Mayombe ins Deutsche übersetzt (z.B. LINK), im Kontext des „Minkisi“-Projekts 9. Juni 2023
Originalbeitrag unverändert :
Die Gruppe brachte vor einem Jahr mein „Kongo-Projekt“ ins Rollen. Sie hat es selber bis heute nicht auf die Seite geschafft. Zum Jahreswechsel nahm ich mir vor, damit zu beginnen. Ich beginne mit Einzelbeschreibungen von Frau und Hund zum genaueren Hinschauen, erzähle etwas über Aufstellungsorte solcher Figurengruppen, stelle ein paar Überlegungen zur männlichen Figur an. Beispiele aus der Fachliteratur für den Stilvergleich. 23.1.2017
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Mutter mit Kind (MAMA NDONA) , 85 cm hoch, 10,5 kg schwer
Zum lebendigen Gesamteindruck tragen bei:
- das expressive Gesicht, schmal, nach oben gerichtet, mit eingeklebten Glasaugen und breiter Nase, aufgerissenem Mund, energischer Zunge und gefeilten Zähnen – übrigens alles typisch für den Stil der Yombe
- eine weiche, aber kräftige, gerundete und untersetzt wirkende Körperlichkeit mit leichten individuellen Asymmetrien und Achsenverschiebungen, wie sie beim Menschen normal sind
- der Eindruck von Bewegung: Das etwas hinter der Mutter stehende Kleinkind steht auf dynamisch gebeugten Beinen, die Füße stehen sicher auf der Bodenplatte, aber sein Oberkörper drängt bereits nach vorne. Es hat wie die Mutter den Kopf in den Nacken geworfen und schaut mit offenem Mund in dieselbe Richtung. Es wird an der Hüfte sanft und unauffällig gehalten, aber mit der anderen Hand an seinem ausgestreckten Arm in Richtung Mitte gezogen. Die Mutter sitzt auf einem massiven Block von ovaler Grundfläche. Sie neigt den Oberkörper leicht zum Kind und ruht in sich.
- die Spiegelung der großen Figur in der kleinen. Das Kind wurde entsprechend der Verkleinerung stark vereinfacht, aber formal gleich behandelt – Kopfhaltung, Hals , Körper, Färbung – und bündelt so eine beeindruckende Energie.
- Der Schnitzer hat eine ganz unaufgeregte intime Szene die plastisch gestaltet, wie wir sie in Europa seit dem Mittelalter aus den besten Marienbildern kennen.
Details der Figuren
Die Gesichtshälften sind ungleich. Die sehr breite Nase zieht nach rechts, der Mund nach links. Der Kopf ist mindestens lebensgroß – maximale Länge 29,5 cm. Als Augen wurden kleine flache Glasscherben mit flach gestrichenem Harz ungleichmäßig eingepasst. Die Flächen sind knapp 5 cm breit und bis 3 cm hoch. Der Blick geht von der Waagrechten aus etwa 45 Grad nach oben.
Im Zentrum der Aufmerksamkeit steht der aufgerissene Mund von 12 cm Breite und 8 cm Höhe. Der Abstand von den Mundwinkel zu den Ohren beträgt nur 6,5 cm. Die ohnehin verdunkelte rot gestrichene Mundhöhle ist bis 6 cm tief und 11 cm breit. Zwei große trapezförmig gefeilte Zähne und die hoch gewölbte Zunge könnten einer knebelartigen Medizin Halt gegeben haben. Zunge und Zähne sind mit der Mundhöhle rostrot überstrichen, aber die Lippen sind ausgespart. Sie erscheinen ‚realistisch’ als gedehnt und bilden eine symmetrische und blattförmige Umrandung.
Der beherrschende Kopf sitzt auf einem mit nur 47 cm kurzen Rumpf, der volle Brüste trägt. Die Figur gewinnt von unten nach oben immer stärkere Mächtigkeit. Die Figur strahlt Kraft und Zuverlässigkeit aus. Denn der Sockel bildet am Boden eine schulterbreite Plattform von 7-10 cm Dicke, er ist rundum in drei Reihen übereinander mit Nägeln versehen und gibt der schweren Doppelfigur sicheren Stand.
Herrschaftszeichen und Schmuck
Sie trägt davon mehr als auf den ersten Blick zu vermuten ist. Ihre runde Kappe ist die der Honoratioren, rostrot bemalt und etwas abgesetzt. Eine dicke weiße Kreideschicht hebt Kopf und Hals hervor. An Stirn, Wangen, Kinn und Hals sind darauf ungleichmäßig rostrote Flecken aufgestrichen.
Rumpf, Beine, Füße und Sockel sind gleichmässig mit dunkelbrauner Farbe bestrichen, was einer Bekleidung gleichzusetzen ist. Überall – von der Brust bis zum Sockel – sind aber in Abständen rote Flecken aufgetupft , am linken Knie auch eine Spur weisser Farbe.
Der Augenbrauenbogen ist durch siebzehn eng stehende inzwischen verrostete Polsternägel markiert. Sie sind weiss und wohl auch rot übermalt gewesen. Das gilt auch für zweimal neun auf den Schultern regelmäßig in 1 bzw. 2 cm Abstand verteilten Nägeln, die jeweils ein Rechteck bilden und den beliebten Narbenschmuck wiedergeben.
Von den grossen plastischen Ohren hängen zwei ungleiche Ketten (aus rostigem Eisen) auf die mit etwa 37 cm Breite kräftigen Schultern (bei 83 cm Gesamthöhe mit Sockel). Der Oberkörper unterhalb der Brüste ist mit 15 cm kaum breiter als der Hals.
Über den Brüsten ist spiegelverkehrt symmetrisch eins der verbreiteten Rauten-Muster eingeschnitzt, das unter dem weißen Hals und zwischen den Ohrketten gut sichtbar ist und von oben beleuchtet wird. Ein entsprechendes Motiv schmückt den Nacken der Figur.
Wächter ‚NKISI‘, 95 cm lang und 9 kg schwer
Ein starker Wachhund, langgestreckt. Auf einer Linie liegen Rücken und obere Schnauzenkante. Hunde sind schon deshalb ideal, weil sie in beiden Welten verkehren: in Dorf und Wildnis, also in der menschlichen Sphäre und der der Geister.
Das verwendete Kernholz muss 35 cm Durchmesser gehabt haben. Alle Körperformen sind gerundet, wirken prall und stark, der gestreckte kurze Hals (etwa 6 cm) mündet in einen natürlich überdimensionierten phallischen Kopf, der weit über die stämmigen Beine hinausragt. Die kleinen Ohren sind senkrecht nach oben angelegt. Eine lange Reihe Zähne, elf oben und neun unten auf jeder Seite, eine entsprechend lange Zunge und ausgeprägte Nüstern sorgen mit den schräg angebrachten Augen (Glas und Harzschmier) dafür, dass der Kopf wie eine Waffe wirkt.
Die stämmigen Beine sind nach außen gestemmt. Der kurze Schwanz ist aufgestellt und berührt im Bogen den Rücken. In dessen Mitte ist ein 14,5 mal 8 cm großer, oben verglaster rechteckiger Behälter eingelassen. Die stark gerosteten kräftigen Nägel umgeben Rumpf und Beine wie ein gesträubtes Fell. Auch auf der Mitte des kleinen Schädels steckt ein Nagel, tief eingeschlagen und aggressiv nach vorn gerichtet.
So müssen sie sein, die mit Nägeln gespickten Geisterwächter der Yombe! Ich habe die Figur anfangs unterschätzt. Viele Details addieren sich zu einer gefährlichen Gesamtwirkung. Genaue Beobachtung ist in elementare Formen umgesetzt. Sogar die Schultern und Hüften sind angedeutet.
Eine Beobachtung an den Nägeln weist auf weitere Aufgaben hin: Sie wurden in einer konzentrischen Ordnung eingeschlagen, aber in unterschiedlichen Winkeln. Trotz starker Erosion des Holzes an den Seiten habe ich zum Teil den Eindruck, dass welche wieder herausgezogen worden sind, was zu McGaffey’s Feststellung passt, dass so etwas durch Strafzahlungen erreicht werden konnte (vielleicht auch noch kann). In so einem Fall kann etwa ein Gläubiger oder Geschädigter den Hund vom Nganga aktivieren lassen und den Schuldner oder Täter darüber informieren. Der wartet aber manchmal erst einmal ab, ob ihm etwas passiert. Der hat Nerven!
Die Nägel sind kräftige Zimmermannsnägel unterschiedlicher Länge zwischen 6 und über 10 cm. Es wurde im Mayombe schon lange genagelt, das zeigen Feldfotos. Industriell oder vom Schmied – die Nägel an diesem ‚Hund‘ haben nichts Gefälliges an sich und sind zum Teil mit dem Untergrund zusammengerostet. Dagegen wirkt manche klassische Zusammenstellung von ‚Eisen’ erstklassiger handwerklicher Qualität auf Hochglanzfotos eher brav.
Der Hund gehört wohl zur Gruppe, auch stilistisch. Vielleicht wurde die ursprüngliche Figur auch bereits ersetzt. Sein Zustand ist nicht unmittelbar vergleichbar, zu unterschiedlich war die Behandlung: Schreinfiguren wurden – mit Kaolin, Rötel und Schwarz – bemalt und regelmäßig gepflegt, der Wachhund nicht. Auf zwei Feldfoto weiter unten sehen wir je zwei Exemplare (Alligatoren? nagelfrei) vor dem Dach des Schreins liegen. Wie im Leben!?
Grabfiguren im Mayombe
Zum ersten Mal traf ich auf solche Figuren in Schreinen für verstorbene Häuptlinge, denen in der Gestalt des ‚Ahnen‘ ein Fortleben ihrer übersinnlichen Kräfte zugetraut wurde, über die sie bereits zu Lebzeiten verfügten. Ob heute von ihnen noch Wunder erwartet werden, wo viele doch im Leben sich mit ihrer Raffgier unbeliebt gemacht haben, bezweifele ich leise.
Zwei neue Studien zum künstlerischen Erbe der sagenhaften Königreiche Kongo und Loango zeigen Schreine aus dem Mayombe um 1900: Alisa Lagamma: Kongo – Power and Majesty, MET N.Y. 2015; S. Cooksey: Kongo Across the Waters, Florida 2013.
Um 1908 (in Lagamma p.168) :
Bereits die älteren Schreinfiguren hier wirken in Stil und Aufmachung ‚verwestlicht‘, tragen europäische Kleidung, wenn auch Ausführung und Symbolik plakativ, ja drastisch sind.
Seit Jahrhunderten importierten die Eliten am Kongo dekorative Produkte aus europäischen Manufakturen zur Repräsentation. Julien Volper (A Touch of Exotism, in: The Congo Across the Waters, Florida 2013, chap. 11) nannte das trendig ‚European Fashion‘ in Kongo.
Ich wüsste zu gern, wie die Nachfrage nach solcher Fashion sich nach Epochen, Regionen und Milieus unterschied. Solche Unterschiede muss es gegeben haben. Und nach 1880 leistete man zum Beispiel im Mayombe der Eroberung heftigen Widerstand. Als sich die herrschenden Klans nach der Katastrophe in neue Machtverhältnisse fügen, waren sie vielleicht gut beraten, zum ‚traditionellen‘ Schmuck von Häuptlingsgräbern mit ‚modernen‘ Figuren zurückzukehren. Und ein solcher ‚Brauch‘ war auch für arrivierte Neuchristen und ihre Seelenhirten unverdächtig.
Botschaft und Kraft der Gruppe
Kraft und Expressivität der Figuren ziehen in ihren Bann. Wyatt MacGaffey berichtet von der Erwartung der Menschen an ihre Fetische, sie sollten bereits durch ihre Gestaltung Wirkung entfalten, egal, was der Nganga (Magier) ihnen noch an Kraftpaketen aufpacken mag. Das kann man getrost von den dramatisch geöffneten Mündern, vorgestreckten Zungen, in den in den Nacken geworfenen Köpfen und den großen Glasaugen behaupten. Trotzdem ist das Bekenntnis zu den physischen und traditionellen Merkmalen der Yombéfiguren – breiten Nasen und fliehender Stirn – bemerkenswert, nach einem Jahrhundert des an der eigenen Haut erfahrenen Rassismus der Weißen und der Marginalisierung durch ihre ‚fortgeschrittenen‘ neuen Herren in Kinshasa. – So sah übrigens die erste Schreingruppe aus, der ich auf meiner Internet-Suche begegnete: Chic! Der bekannte aristokratische Typ (etwa auf diesem Szepter: link) wurde noch weiter idealisiert, bis daraus internationale Puppen mit heller Haut und Schmollmund entstanden, die auf der ‚Congo Fashion Week‚ auftreten könnten.
Die Gruppe in meinem Besitz erscheint mir in ihrer Gestalt provinziell und in der Darstellung hintergründiger als die in den fotografierten Schreinen zu sein. Ich möchte gern vermuten, dass diese Kraft aus einem zähem Beharrungsvermögen der ‚Bergler‘ im unwegsamen Mayombe stammt, das bereits seit hundert Jahren im Grenzstreifen zu Cabinda und Congo-Brazzaville liegt. Die Schmalspurbahn von Boma nach Tshela hat bereits Mobutu wieder abgebaut. Oder träume ich bloß von einem Dorf der Gallier um Asterix und Obelix? Sind es überhaupt Ahnenfiguren und wurden sie im Zusammenhang eines Grabmals aufgestellt?
Zusammen mit der Gruppe erhielt ich folgende Botschaft:
„Sie stammen aus dem Dorf (….) im Territoire Tshela, Mayombe. Die Mutter und das Kind heißen MAMA NDONA. Sie hat viele Kinder vor Krankheiten und einem bösen Schicksal bewahrt. Der Vater PAPA PAMBI ist sehr freundlich zu den Menschen. Wer ihn besucht, geht nicht, ohne zu essen. Er besaß eine übernatürliche Kraft, die ihm erlaubte, die Seinen zu schützen. Die Bewohner des Dorfes behalten beide in ihren Herzen. Danke.“
Da ‚Ndona‘ das traditionelle Lehnwort für Herrin ist, heißt sie vielsagend „mütterliche Herrin“. Sie ist für mich so unproblematisch wie die vielen Geburtshelferinnen, Gattinnen bedeutender Ahnen und Klanmütter unter den Bakongo-Völkern. Und der christliche Einfluss? Schutzheilige und die Heilige Familie hatten Jahrhunderte Zeit, in dieser Welt aufzugehen.
Ich denke an die Nebenaltäre in vielen katholischen Kirchen und daran, wie einfache Gläubige dort ihrem oder ‚ihrer‘ Heiligen, etwa nach Arbeitsschluss, einen Besuch abstatten. Oder ist das nur noch eine Erinnerung an Kirchen in Polen während der kommunistischen Herrschaft?
Die Figur des PAMBI enthält vielleicht einen Schlüssel für die aufgeworfenen Fragen.Raoul Lehuard, der noch in der französischen Kongo-Kolonie aufgewachsen ist, liefert in seinem Standardwerk Art Kongo – Centres de Style eine methodische Begründung:
Da Kongo, Yombe oder Sundi keine unnötigen Mühe auf sich nehmen, richtet auch der Künstler seine Anstrengung nur auf bedeutsame Details. Die sorgfältige Ausarbeitung muss einen Sinn haben, zum Beispiel für die Handhabung. Er nennt als Beispiel die Planung des Blickwinkels des Betrachters:Verwender und Klient von Figuren konzentrieren sich ganz auf deren Kopf. Ihre Augen fixieren während der Anrufung unablässig die Augen, wie wenn ich mit einer Person spreche. Manche Nkisi werden auch von der Seite, direkt auf das hörende Ohr angesprochen. Lehuard schreibt auch von der Berührung ihrer Augen, des magischen Spiegels oder bestimmter anderer Punkte mit den Fingern oder der Zunge. (tome 1, 101-103, übersetzt)
Papa Pambi, 105 cm groß, etwa 9 kg schwer
Ein ganz eigener Charakter: Ein Patriarch spricht stehend mit erhobenem Kopf. Die mageren Schultern hat er hochgezogen. Die angehobenen Arme unterstützen seine aufrechte Haltung. Eine Kopfbedeckung hat er nicht. Ich gewinne den Eindruck: Kein Schmuck wie bei NDONA, nur Kraft, Klarheit und Schlichtheit. Kein Detail darf ablenken. So sehe ich ihn zuerst. So sah ich ihn jedenfalls zunächst.
Der Rumpf ist dunkel eingefärbt. Zusätzlich ist auf Schultern und Brust mit umgebogenen Nägeln eine ebenso dunkle Schärpe befestigt, und unterhalb des Bauchs eine solche Wickelhose. Den Bauch schmückt eine auffällige Tätowierung. Assoziation: drei gezähnte Münder übereinander. Ansonsten ist der Rumpf völlig schmucklos, auch am Rücken. Aus der rückwärtigen Perspektive fallen der mächtige weisse Schädel und der dicke Hals sofort auf, und die Konstruktion der Schärpe.
Vergleich der Köpfe
Im Zentrum der Aufmerksamkeit steht bei beiden Köpfen der große offene Mund. Doch der Ausdruck ist ganz anders. NDONAs Mund hat mit Zunge und Schneidezähnen etwas Raubtierhaftes.
Dagegen zeigt PAMBIs offener Mund nicht die Andeutung einer Zunge. Man kann aber in der Mitte eine kaum hervortretende senkrechte Kante tasten, dann erst sehen. Ich deute sie als Zungenband. Hat man ihm etwa die Zunge herausgeschnitten?
Seine Nase ist lang und gebogen, als ob sie vom herunter gezogenen Unterkiefer gespannt würde.
Zwei flache in die Wangen eingelassene kreisrunde Glasscherben (Durchmesser 3,2 cm) wirken als Augen eigenartig, vielleicht erschrocken oder leer. Ist er blind? Ich mag es nicht ausschließen.
PAMBIs Schädel ist kahl, ohne jede auszeichnende und ‚behütende‘ Kopfbedeckung. Er ist rundum weiss mit ein paar sparsam verteilten roten Flecken. Nur der lange sorgsam gekämmte Bart und das markante Kinn darüber zeigen seinen Status als Ältester, als Würdenträger.
Die fehlenden Hände
Ich habe keinen Zweifel mehr: Die Hände fehlen. Mit der Verdickung des Handgelenks ist das Ende erreicht. Wenn man das einmal annimmt – ich weiß: die gestalterische Freiheit! – dann bekommen auch die hochgezogenen Schultern und die Armhaltung eine neue Bedeutung. So zeigten sich Opfer der barbarischen Strafen der Kolonialgesellschaften auf den um die Jahrhundertwende aufgenommenen Fotos der Welt. Die Schultern sind schmal, verglichen mit NDONAs athletischer Ausstattung.
Wenn wir nun die Ausstrahlung beider Figuren vergleichen: steht MAMA NDONA für Kraft, Wehrhaftigkeit, mütterliche Stärke und Dynamik. Sie dominiert, ist nicht bloß ‚Gattin‘. PAPA PAMBI dagegen wirkt schwach bis in die Fußspitzen, ein hilfloser Greis. Und die Wickelhose verbirgt ’nichts‘. Man vergleiche nur die großen Herren in den Ahnenschreinen!
Die andere Dimension
Wurde er von den Dorfbewohnern nicht auffallend mild charakterisiert? „Der Vater PAPA PAMBI ist sehr freundlich zu den Menschen. Wer ihn besucht, geht nicht, ohne zu essen….“
Eine politologische Studie aus dem Mayombe über ‚Local Governance, conflict and peace-building in RDC‘ (download pdf Bas-Congo (Niamh Gaynor, Juni 2013) belegte wieder: Die Hilfe lebender Amtsinhaber zu erringen, ist auf jeden Fall kostspielig, und jede höhere Instanz wird teurer. Sollte das nach ihrem Ableben an ihrem Grab anders sein? Hier hört sich das ganz anders an. PAMBI erscheint im üblichen Ahnenkult als Außenseiter.
Mich würde der Hintergrund der Verehrung für PAMBI interessieren, Steht im Hintergrund ein historischer Märtyrer? Würde das nicht gut zur Beschreibung seines mildtätigen und sanften Charakters passen? Er wäre in der Geschichte nicht der erste Heiler und Helfer, der durch die Hölle ging. Man denke nur an den griechischen Heilgott Asklepius, den Zeus vor seinem Wirken erst wieder zum Leben erwecken musste, oder an Jesus von Nazareth. Wie nah ist da bereits ein lokaler Prophet wie Kimbangu, der nach 1921 für Jahrzehnte im Kerker verbrachte. Die dargestellte physische Verstümmelung muss man ja nicht buchstäblich, also naturalistisch (miss)verstehen. Von solchen Praktiken gegenüber Honoratioren weiß ich jedenfalls nichts. Sie könnte ein starkes Sinnbild für das erfahrene Leid sein. Kajsa Ekholm Friedman zitiert in „Catastrophe and Creation“ (p.75) einen Brief des Reverend Williams der Christian Missionary Alliance um 1900 an die New Yorker Zentrale über Hunger und Erschöpfung in den Dörfern um Tshela/Majombe. Sechs Jahre lang, zwischen 1888 und 1894, hatte man den Okkupanten starken Widerstand geleistet. (ebd. 74)
Die Dorfbewohner fahren fort: Er besaß eine übernatürliche Kraft, die ihm erlaubte, die Seinen zu schützen.
Auf der Schädelmitte findet sich ein pfenniggroßes Loch, das (ausgelotet) mindestens fünfundzwanzig Zentimeter senkrecht in die Tiefe reicht. Was war die Absicht dahinter? Die Stelle bedeutet in Afrika einen ‚Energieort‘, eine Öffnung in die ‚obere Sphäre‘, und worin man – nicht nur bei den Songye – auch Medizin versenkt
Und sie schließen ihre Botschaft mit einem Dank an einen, der sie verlassen hat: Die Bewohner des Dorfes behalten beide in ihren Herzen. Danke.
Auch die Formel des Abschiednehmens ist nichts Ungewöhnliches. Kraftfiguren einer Gemeinschaft erhalten einen individuellen Namen. Und sie können entpflichtet und demontiert werden, wenn sie nicht mehr genug Kraft mobilisieren können. Das sollte aber mit dem nötigen Respekt geschehen.
Die Umstände des Verkaufs werden wir nicht erfahren. Dachte man die Figurengruppe bloß durch eine frische zu ersetzen? Oder schaffte man den Kult ab? Wer wären dann die treibenden Kräfte gewesen? Traditionelle Würdenträger, christliche Prediger oder die einer Sekte, Politiker? Hat man die zitierten Bewohner des Dorfes überhaupt nach ihrer Zustimmung gefragt?
Ästhetische Bilanz
Die Vorstellung eines allgemeinen künstlerischen Niedergangs, so wie sie der französische Ästhet Lehuard mit der Vereinfachung komplizierter Techniken und plötzlicher Vergrößerung zu einer Monumentalität, der jede Anmut, Kraft und Eleganz fehlen soll, verbindet, (tome 1, p.15), ist für das Verständnis der Entwicklung im zwanzigsten Jahrhunderts nicht hilfreich. Und sie unterschlägt die soziale Hierarchie.
Lehuard gab (in Band II p. 453) ein Beispiel für die Vereinfachung komplizierter Techniken mit der Ausführung der Tätowierungen. Er unterschied zwischen a) hervortretendem Relief, b) eingeschnittenen Linien (jüngeren Datums) und c) bloß aufgemalten (in der jüngsten Vergangenheit entstanden). Galten solche Feststellungen auch für Großskulpturen? Und wie sollen wir die Verwendung von Polsternägeln deuten? Als traditionelle Bequemlichkeit (siehe oben), als Statussymbol (Importware) oder als magisches Material (Medizin) ?
Leo Bittremieux (LINK) zufolge sollen bereits 1922 die Bedeutungen der von ihm abgezeichneten Muster nicht mehr bekannt gewesen sein, nicht einmal innerhalb der Khimba-Geheimgesellschaft. – Ich frage mich, ob er die Richtigen gefragt hat und warum man sie ihm, dem neugierigen katholischen Missionar, hätte erzählen sollen? – Das Muster auf der Brust von NDONA habe ich exakt so noch nicht gefunden, auch nicht das auf Bauch und Rücken von PAMBI.
Meine grossen Figuren übertreffen an dramatischer Kraft das Gros der von Lehuard dokumentierten Figuren aus dem Mündungsgebiet des Kongo. Wie erklärt sich das?
Es entstanden gleichzeitig neben bewusst abschreckenden oder beeindruckenden große und kleine Zauberfiguren auch elegante Kleinodien (LINK) für den Familienschatz der Honoratioren. Die haben natürlich ihren Weg nach Europa gefunden. Was wurde erworben? Bereits um 1880 wurden bereits schaurig-schöne ‚Kuriosa‘ auf dem Souvenir-Markt angeboten. Die wenigsten Europäer am Kongo und Sammler in Europa haben sich für den Hintergrund ‚heidnischer‘ Figuren und Masken überhaupt interessiert. Bei den einen standen die Zeichen der Zeit auf Verbrennen und Vergessen, bei den anderen auf günstigen Erwerb und Export in die Vitrine.
Passende Fundstellen zu den Figuren
Das Thema ‚Farbpigmente‘ wird bei Alisa Lagamma ( Kongo – Power and Majesty) diskutiert und einiges von dem, was den herrschenden Reinigungswahn unbeschadet überstanden hat, farbig abgebildet, z.B. eine konventionell sitzende sehr schöne weibliche Schreinfigur der Yombe mit weißen und roten Farbschichten (52 cm, Rietberg-Museum, Zürich p.169, fig.113)
J-7-1-1 breitschultrige Mutter mit imposantem Oberkörper, das Kind sitzt aufrecht einem Knie. Entsprechung zu den durch Polsternägel betonten Augenbrauen.
J-7-1-2 Ähnlicher Kopftyp an einer männlichen Figur (die Kraftpakete sind abgenommen).
Beide Figuren der von Lehuard gebildeten Stil-Untergruppe J 7 in Art Bakongo … tome II p. 500: Die betreffenden Figuren wurden im Mayombe von Pater Bittremieux (ab 1908 auf Missionsstation Kangu) gesammelt. Lehuard charakterisiert den Typ unter anderem so: Der Kopf in Ei-Form endet einem spitzen Kinn. Das Gesicht wirkt mager durch den weit geöffneten Mund und hohe weit auseinander stehende Backenknochen. Große Augen werden von senkrecht unterteilten Augenbrauen überwölbt. Große zwiebelförmige Adlernase (!?). Der Mund hat perfekt geschnitzte Lippen und zeigt gefeilte Zähne. C-förmige Ohren in realistischer Größe. (gekürzte Übersetzung)
p.476 J-2-1-2 Mutter und Kind – Vergleichbar sind breite runde Schultern, große Brüste, anliegende runde Kappe der Würdenträger, schmückende Polsternägel aus Messing, welche das besonders geschätzte Tattoo-Element chélodien (‚Schwellung‘) repräsentieren, das Kettenglied im Ohr und nicht zuletzt schlampig begrenzte Glasaugen (spätere Reparaturen?)
Für den Sous-Style J 2 vermutete Lehuard eine gemeinsame Werkstatt. Er nannte ihn „Boma-Vonde“ nach dem Erwerbsort einer Figur dreißig Kilomenter vor Tshela.