So schwungvoll begann 2010 meine Arbeit mit Guldin und den flusser-studies! ( LINK zum Blog-Kapitel) – Mit Rainer Guldins Antwort
Ein Fundstück, 25.11.2024 hochgeladen
Flusser war in Brasilien weit ab vom Schuss (ähnlich übrigens Adorno in den USA) und hatte nichts Weltbewegendes zu erzählen, wie etwa Ruth Klüger („weiter leben“ LINK), bloß eine intellektuelle Biografie.
Er hatte ein zünftiger akademischer Philosoph werden wollen, doch die Emigration riss ihn fort und warf ihn an ein wüstes Gestade in einem tropischen Wilden Westen, in einer Goldgräberzeit. Wollte sich eigentlich auch Robinson Crusoe nicht einmal umbringen?
Der Verlust der Heimat in der Beschleunigungsphase des Zweiten Weltkriegs und des Genozids an den europäischen Juden standen am Anfang seiner Odyssee.Doch wie eng war seine Traumatisierung wirklich mit Auschwitz verbunden, das er später als Epochengrenze zur „Nachgeschichte“ stilisiert?
Wann sehnte er sich denn nicht nach Europa zurück? – Er war immer noch kein Zionist und sah sich vielleicht in den USA verloren gehen – und hoffte in Europa auf die akademischen Karriere, alternativ auch die publizistische. Dies Streben ließ ihn über die Jahrzehnte demütige Anstrengungen bei renommierten Redaktionen unternehmen und hielt in seinen letzten zwei Jahrzehnten ein rastloses Leben von Vortrag zu Vortrag sowie von Tagung zu Tagung in Gang.
Um wieder Anschluss gewinnen und Verbindungen halten zu der Chimäre „Europa“, was er von Reisen seit den Sechziger Jahren erkannt haben musste. Es gab erhebliche No Go Areas für ihn: Deutschland und Osteuropa, Prag – also das Zentrum des Heimatkontinents – wollte er nicht betreten.
Von Europas ideologischem Fieber im Kalten Krieg wollte er nichts wissen, das eminent politische Fieber der Sechziger Jahre vor allem in der Jugend ignorierte er geflissentlich, selbst als er zu jener Zeit in westeuropäischen Publikationen Glossen und Essays unterbringen wollte. Redaktionen – nicht nur das Feuilleton der FAZ – spiegelten ihm sein Auftreten als tropischer Guru deutlich zurück, obgleich sie auch gegenüber ihm ihren Sinn für eigenwillige Persönlichkeiten bewiesen haben.
War er deswegen mit Brasilien vielleicht zu ungeduldig und wunderte sich nach seinem Absprung in den siebziger Jahren, dass in Europa niemand auf ihn gewartet hatte: in Frankreich nicht, in Italien? Nur in Deutschland fasste er paradoxerweise Fuß.
Im nachhinein schrieb er über Brasilien mystifizierend, geleitet von seinen theoretischen Themen. Sein Leben dort bringen für mich erst Guldins erste Kapitel der Flusser-Biografie „Philosophieren zwischen den Sprachen“ (Fink 2005) in eine durchschaubare Ordnung und auf den Punkt. Die Autobiografie „Bodenlos“ habe ich als literarisches Kunstwerk, als Avantgarde der Autobiografie, bewundert, doch manche dort versteckte Information habe ich erst nach Guldins Fingerzeig beim Nachblättern entdeckt und verstanden.
Im Ganzen schien mir sein Leben dort erfolgreich und über lange Zeit komfortabel. Über dreißig Jahre konnte er sich einen anregenden und fördernden Freundeskreis aufbauen, dem er auch seine komfortable Existenz verdankte. Er bekam Karrierechancen und damit auch die Möglichkeit, in der Welt herum zu reisen. – Über die Militärdiktatur weiß ich im Grunde zu wenig. Sie hat in ihm vermutlich immer wieder das Prager Trauma von 1939-40 „aufblitzen“ (W.Benjamin) lassen, ihm drohte aber erkennbar nur Isolierung und Entfremdung, nicht Haft oder gar Tod, auch keine Stigmatisierung. Er sei „links“ gewesen? Das hätte er leicht widerlegen können. Es war wohl die allgemeine Stimmung in seinen Kreisen ausschlaggebend – und die Beschränkung seines Engagements auf Provisorien idealisierter Pionierzeiten, wie er eines eindrücklich am Beispiel der Philosophie beschreibt.
Man sollte nicht vergessen, dass er mit der zweiten Flucht sich von der Peripherie direkt in das (nach den USA) zweite Zentrum der perhorreszierten Nachgeschichte begab. Was sollte letztlich dort besser sein als in Brasilien? Etwa die direkte Sicht darauf und die Möglichkeit des Engagements? Als ihm allmählich dämmerte, dass Europa unwiederbringlich verloren war („Auschwitz“) und in den Metropolen – von der Linken unbemerkt („HoHoHoChiMinh!“) und unter der Decke gesitteter Umgangsformen – sich ein technokratischer Totalitarismus entwickelte, als die systemische Barbarei nicht aufgehört hatte, sich zu steigern, musste er hin! Als Stratege.
Hatte er im Grunde Brasilien doch bloß als ferne Kolonie Europas gesehen, nicht anders als die von ihm abschätzig behandelten Portugiesen der Kolonialzeit? Wollte er diesmal dabei sein, nicht wieder weit weg an der Peripherie?
Ich weiß zu wenig über Flussers Kontakte zu Amerika – im „Archiv“ in Berlin fand ich auch keine Quellen dazu, wie überhaupt über seine Reisetätigkeit und Erfahrungen. Rainer Guldin wurde sicher auch in Sao Paulo fündig. Eine für mich undurchsichtige Quellenlage!
Er ließ seine Freunde im Stich, die akademische Jugend, seine Schüler und die Leser der Zeitungskolumnen. Er verließ die brasilianische Sprache, die angeblich enge, unentwickelte – wurde endgültig polyglott – ein moderner Prophet. Er wollte von nun an kompromisslos und ganz der Welt gehören. Er machte darum überall Proselyten – warum nicht auch in Deutschland? Aus der Bequemlichkeit, auf Literaturangaben und Belege in der Glosse (wo sie auch nicht hingehörte) und im Essay zu verzichten, wurde Methode.
Gab es bei diesem existentiellen Schritt nicht ungeheure Probleme? War er nicht ein ewig Suchender?
Ab wann würde er eigentlich über eine griffige Botschaft verfügen? Und jetzt war auch noch „Immigrant“.
Für den global engagierten Philosophen war das alles nicht so schwer:
Er war das Abstrahieren von Tagesproblemen und politischen Argumentationen gewöhnt. Ihn interessierte der Marktplatz nicht persönlich, den er theoretisch – als Gegenspieler der Privatheit – hoch schätzte.
Politik war historisch ohnehin am Ende. Mit Plato, Hegel, Heidegger und Co. war er für die Argumentation in der dünnen Luft abstrakter Hochebenen gerüstet. Rhetorisch verfügte er mit der phänomenologischen Methode über unverbrauchte Kniffe. Seine historische Bildung hätte einem Universalhistoriker genügt. Blieb der Spleen mit dem Übersetzen und Rückübersetzen und die alte Gewohnheit, bei einem Thema immer wieder neu anzusetzen, bis er selbst die Übersicht verlor.
Könnte daraus jemals ein großes Werk entstehen?
Gesendet: Freitag, 15. Oktober 2010 13:29“
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Antwort Rainer Guldins nach drei Tagen:
Lieber Detlev v. Graeve,
Vielen Dank. Der Text ist sehr interessant. Ein paar Bemerkungen: ich glaube nicht, dass Flussers Leben immer so komfortabel war. Louis Bec hat mir erzählt, die Flussers hätten in Robion im Winter gefroren und nur dank einem Freundesnetz existieren können. Dass er die 68er nicht verstand, nicht verstehen konnte oder wollte, ist klar. Warum er auf die Fussnoten letztlich verzichtete sowie auf Bibliographie – in den ersten Texten kann man sie noch finden – ist nicht so klar. Ein Kokettieren mit dem Antiakademismus vielleicht? Ein grosses Werk hat er, zum Glück nicht hinterlassen, aber spannende und vor allem auch sprachlich hochinteressante Texte.
Wie sind sie überhaupt auf Flusser gestossen? herzliche Grüsse aus Lugano Rainer Guldin