Noch einmal Kejsa E. Friedman ( Kap. II 1.2.3) : Hoffnungsschimmer nach der Katastrophe
Nach der von Friedman im Kapitel II 1.2.2 eindrĂŒcklich geschilderten Katastrophe fĂŒr die Völker des Kongo stehen im letzten Drittel â âA Modern Clan Societyâ â SĂ€tze, die auch mit der Floskel âEin Gutes hatte âŠâ hĂ€tten eingeleitet werden können:
âMit dem Verschwinden der GroĂen Chiefs verschwanden auch die kulturellen Ausdrucksformen der traditionellen Macht: Menschenopfer, Tötung von Sklaven beim Abschluss von VertrĂ€gen und viele der grausamen Bestrafungen. Das letzte Menschenopfer unter den Yombe in Verbindung mit einem BegrĂ€bnis wurde 1887 vollzogen, als neun Frauen zusammen mit ihrem toten Ehegatten (lebendig, Gv) begraben wurden. Diese Praxis verschwand teils durch Intervention der Kolonialmacht, dem unbestrittenen Machtzentrum, teils durch den Niedergang der traditionellen Machtstruktur. Kriege und Kopfjagden hörten auf und der Kongo wurde merklich friedvoller und unaggressiver, mindestens was ihr sichtbares Verhalten anging. Der friedfertige Charakter der Bakongo wurde fĂŒr Beobachter wieder sichtbar. Die Yombe hörten auf, ihre Dörfer einzuzĂ€unen. Die Belgier wollten darin einen Schritt in die Zivilisation sehen. (âŠ) In der neuen Kultur wurden Gleichheit und SolidaritĂ€t betont.â (Friedman 82)
Die einschmeichelnden Worte ĂŒberdecken nicht völlig die eben beendete Darstellung der Katastrophe der kongolesischen Völker. Und darĂŒber kann man nicht zur Tageordnung ĂŒbergehen! Bevor uns tiefe Verwirrung ĂŒberkommt, fĂ€hrt die Verfasserin selber fort:
âDer Gebrauch von Fetischen und Beschuldigungen der Hexerei waren zwei PhĂ€nomene, in die am meisten Energie investiert wurde. Und der âwitch-doctorâ, âNgangaâ stieg mit dem weiĂen Missionar zusammen zu den einflussreichsten Figuren in der sozialen Arena auf.â (ebd.)
Was gegen das Vergessen tun? – Wozu? Es gibt doch die Sichtweise der Ăberlebenden.
Was kann der Leser dafĂŒr tun, dass er die Lektion der Finsternis nicht gleich wieder vergisst ĂŒber Details von Verwandtschaftssystemen und ĂŒber dem akademischem Streit unter Anthropologen? Wenn wir Leser die erzĂ€hlte Geschichte am Ende nicht ĂŒberblicken, war die ganze MĂŒhe umsonst. Zum besseren Ăberblick finden sich an vielen Stellen â nach dem Vorbild von âwikipediaâ â Links zum raschen Wechsel der Perspektive.
Im Grunde ĂŒbernimmt Kejsa Friedman die Sichtweise der Ăberlebenden, etwa der MĂŒtter in den Ruinen: die Scherben zusammenkehren und ihre Verwendbarkeit prĂŒfen. So betrachtet sie die âneue Gesellschaftâ, die sich unter dem Gesetz der Eroberer ausbildete. TrĂ€ume durfte man ja noch haben, und die Volksgruppen um die KongomĂŒndung trĂ€umten heftig. Wer sich allerdings unter âNeuschöpfungâ â âCreationâ im Titel der Studie â so etwas wie âErlösungâ vorstellte, wurde enttĂ€uscht wie Simon Kibangu und die anderen âProphetenâ und wird bis heute endlos vertröstet. Denn nach dem sogenannten âKongostaatâ begann ein langwieriger und mĂŒhseliger âWiederaufbauâ mit Profiteuren und Verlierern, mit endlosen harten VerteilungskĂ€mpfen. Der Mensch kann damit leben. Davon handelt das Kapitel: Die neue Klanordnung.
Unter einer zur Vernunft gekommenen Kolonialverwaltung war es fĂŒr eine gewisse Zeit sogar ein Vorteil, dass nach dem groĂen Aderlass Knappheit an ArbeitskrĂ€ften herrschte. Schon im mittelalterlichen Europa ging es dem Volk nach der GroĂen Pest am besten.
Soweit der Beitrag bis zum 13.7.16 â Am 23.8. endlich Fortsetzung und Schluss!
Kajsa Ekholm Friedman fragt auf S. 82 von ‚Catastrophy and Creation – The transformation of an African culture‚ 1991:
Ăberlebten die matrilinearen Klans als traditionelle Inseln?
Vielleicht, weil die Kolonialmacht kein dringendes BedĂŒrfnis hatte, sie zu zerschlagen? Förderte sie sie gar, wie MacGaffey 1983 schrieb, um die zĂ€hen Streitigkeiten ĂŒber Landfragen, Siedlung, Heiraten usw. ihrer Rechtssprechung ĂŒberlassen zu können? (82)
Doch fĂŒr die Verfasserin handelt es sich nicht mehr um das gleiche Klansystem.
Der Klan wandelte sich von einer dynamischen politischen Grundeinheit mit wechselnden Allianzen, Teilnehmern und mit flieĂenden Grenzen tendenziell zu einem Netzwerk von Familienbeziehungen innerhalb den festgelegten Grenzen eines âStammesâ, das auch bei Auswanderung in die Stadt funktionierte. Die Heiraten standen unter der strengen Kontrolle der Ăltesten. MĂ€dchen wurden bereits als Kinder versprochen oder verheiratet, oft an Ă€ltere MĂ€nner, wenn das der Festigung eines BĂŒndnisses diente. Widerspenstige Töchter flĂŒchteten hĂ€ufig zu verstĂ€ndnisvollen Missionaren, doch die Familie hatte starkes Drohpotential, konnte beispielsweise vom Nganga ihre FertilitĂ€t âverschlieĂenâ lassen. (84)
Die moderne Klangesellschaft ist beides: tendenziell egalitÀr und totalitÀr.
Sie verlangt die Unterwerfung des Individuums, aber das gilt in der ersten HĂ€lfte des zwanzigsten Jahrhundert mehr oder weniger fĂŒr alle Mitglieder, âhochâ und âniedrigâ, MĂ€nner wie Frauen. Wer Privilegien genieĂt, bricht oft unter der Last seiner Verantwortlichkeiten zusammen.
Seit der Ăberlebenskrise in den 1980ern sind die Menschen noch stĂ€rker auf das Netzwerk ihrer Abstammungsgruppe angewiesen. Sie haben kaum eine Chance, sich davon zu emanzipieren (85), obwohl die Forderungen der Verwandtschaftsgruppe in klarem Widerspruch zu dem Wunsch stehen, in die eigene Kernfamilie zu investieren.
INDIVIDUALISIERUNG
Dabei erwarteten Laman und Van Wing noch zu Beginn des Kolonialismus noch eine Individualisierung, die der europĂ€ischen Entwicklung vergleichbar wĂ€re. Wurden doch die Individuen wurden aus ihren Verwandtschaftsgruppen herausgerissen und auf sich gestellt gezwungen, âein persönliches Lebenâ zu fĂŒhren. Sie arbeiteten fĂŒr die WeiĂen an entfernten Orten, nicht ohne Aufstiegschancen, verfĂŒgten ĂŒber eigenes Geld, ĂŒber das sie selbst die Kontrolle behalten wollten. (94) Selbst wenn sie aufs Dorf zurĂŒckkehrten, wollten sie sich oft nicht wieder in die traditionelle Machtstruktur fĂŒgen. Doch der Zerfallsprozess der Klan-Gesellschaft wurde von einer Gegenbewegung gebremst, durch die HĂ€ufung von Anklagen und Exekutionen wegen Hexerei, die sich hauptsĂ€chlich gegen solche energiegeladenen und unternehmerischen âIndividualistenâ richteten. Und das gilt, stellt die Autorin ausdrĂŒcklich fest, bis heute (95)und auch in den stĂ€dtischen Ballungsgebiete (84).
Die EinschÀtzung wird von jeder Menge aktueller Informationen aus den (84) Bas-Congo, aus Kwango oder Kinshasa bestÀtigt, selbst die Probleme meiner kongolesischen HÀndler am Mainufer passen dazu.
WIE FUNKTIONIERT DER KLAN ALS NETZWERK ?
Die moderne Klangesellschaft versteht man am besten aus der Perspektive des Individuums.
Die Autorin stellt das diesbezĂŒgliche Modell in der Vergangenheitsform dar, weil sie sich auf die Schilderungen der Informanten anfangs des zwanzigsten Jahrhundert stĂŒtzt, die spĂ€ter von Laman und anderen publiziert wurden.
Die Verpflichtungen einer Frau
Sie war ihrem Onkel mĂŒtterlicherseits zeitlebens verpflichtet oder ihrem Ă€ltesten Bruder, wenn der Familienoberhaupt geworden ist. Sie musste ihn ab und zu besuchen, ihm Essen bereiten, auf seinen Feldern arbeiten, wenn er das forderte, ihm auch Geschenke machen. Entsprechendes galt fĂŒr die anderen Mitglieder ihrer Verwandtschaft auf der mĂŒtterlichen Seite. FĂŒr ihren Klan sollte sie neue Mitglieder gebĂ€ren, fĂŒr ihren Onkel Neffen und Nichten. Laman beschreibt das liebevolle VerhĂ€ltnis zwischen Bruder und Schwester. Er wĂŒrde alles fĂŒr sie tun, sie mehr lieben als seine Frau, denn diese gehörte ja zu einem anderen Klan. Schwangerschaft alle zwei oder drei Jahren wurde als ideal angesehen, und ihre Töchter hatte sie zu guten Frauen zu erziehen (female education) (97).
Bei Krankheit hatte sie ihrer Mutter beizustehen, ihrer Schwester auch bei der Geburt. Sie steuerte den gröĂeren Anteil zu ihrer Nahrung bei. In der Regel ging sie morgens aufs Feld, kehrte erst nachmittags ins Dorf zurĂŒck, bereitete in einem langwierigen Verfahren Maniok vor und ĂŒbernahm alle ĂŒbrigen Arbeiten im Haus. In ihren heranwachsenden Töchtern hatte sie etwas UnterstĂŒtzung.
Ihrem Ehemann gegenĂŒber hatte sie eine gute Ehefrau zu sein, die ihm das GefĂŒhl gab, Herr im Hause zu sein. Sie hatte sexuelle Pflichten, gab ihm zu essen und sorgte fĂŒr ihn. Sie hatte ein Recht auf eigenen Besitz, musste aber ihrem Ehemann einen Teil ihrer Ernte abgeben. Sie hatte auch Verpflichtungen gegenĂŒber seinem Klan. Ihr Vater hatte gleichfalls Anspruch auf Respekt und einen Teil der FrĂŒchte ihrer Arbeit. Versuchte sie dem zu entgehen, durfte er sie mit einer Verfluchung bestrafen, die ihr UnglĂŒck brachte. Sie hatte auch gegen seine mĂŒtterlichen Verwandtschaftslinie die ĂŒblichen Pflichten (98).
Die Verpflichtungen eines Mannes
GegenĂŒber seiner mĂŒtterlichen Linie waren sie vergleichbar mit denen einer Frau.
Onkel und Vater waren seine VormĂŒnder in allen Fragen der Beziehungen zu anderen Gruppen, Heirat, Scheidung, Schulden usw. (98) FĂŒr die mĂ€nnliche Jugend verblasste die dominierende traditionelle Position des Mutterbruders nach der UnabhĂ€ngigkeit zugunsten der des Vaters. Obwohl die Mehrheit in die stĂ€dtischen Ballungszentren abwanderte, verstĂ€rkte sich die AbhĂ€ngigkeit vom Vater. (96)
Der Mann trug auch die finanzielle Verantwortung fĂŒr seine Schwestern und deren Kinder, musste etwa die Behandlung beim Nganga âund/oderâ im Hospital bezahlen, ebenso Medikamente, manchmal auch deren Schulmaterial. Oft besuchen Neffen und Nichten ihn in der Ferien, um etwas ĂŒber ihre eigene mĂŒtterliche Abstammungslinie zu erfahren.
Bei Heirat hatte er der Frau ein eigenes Haus zu bauen, mehreren Frauen also mehrere HĂ€user. Er musste ihr bei der Brandrodung helfen, Bananen, Palmöl, Palmwein, Fleisch, âtsafuâ (Nahrungsmittel) liefern, ihr und den Kindern Kleider kaufen, sie beschenken und sie generell bei den Verpflichtungen gegenĂŒber ihrer eigenen Familie unterstĂŒtzen. (98)
FĂŒr einen ersten Eindruck sollten diese Informationen ausreichen. Zum Schluss meines Referats noch ein einziges Detail: Seine leiblichen Kinder gehörten zum Klan ihrer Mutter, nicht zu seinem. (98)