WIEGMANNS UNIVERSITÄTEN

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Den Titel „Meine Universitäten“ kennt man von Maxim Gorkis autobiografischem Roman. Und „Universitäten“ bedeutet hier das Leben oder genauer dessen Stationen jenseits akademischer Ausbildung. Anders als Maxim genoss Fritz Wiegmann als Jugendlicher eine solche Ausbildung, aber was bot sie ihm und in was für einer Zeit?

Die ‘Alte Oper Frankfurt’ zitiert in im Programmheft zu “Fokus 20er Jahre” (2017) Carl Zuckmayer: Die Künste blühten wie eine Wiese vorm Schnitt. Daher die tragisch-genialische Anmut, die dieser Epoche eignet.Von diesem kurzen Glück sind wir als Nachgeborene ausgeschlossen. Tragen wir’s mit Fassung.

AUSBILDUNG ZUM ZEICHENLEHRER

Das Zeugnis der Staatlichen Kommission zur Prüfung der Zeichenlehrer und Zeichenlehrerinnen führt in der getippten Fassung des Lebenslaufs die Unterrichtsfächer auf, die er absolviert hat: „Zeichnen nach dem lebenden Modell, Zeichnen nach Naturformen, Zeichnen nach Geräten, Gefäßen u.s.w., Malen, Zeichnen an der Schultafel, Linearzeichnen, Methodik und Kunstgeschichte.“

Klassenfoto ohne weitere Beschriftung, 1922 ?

Klassenfoto undatiert, 1922? rechts hinten: Wiegmann *

Auch wenn das eine arg verkürzte Darstellung wäre dessen, was ihm die Kunstschule in den vier Jahren bot, so war das vielleicht doch nicht das, wofür er mit sechzehn Jahren die Provinz verlassen hatte, um in Berlin zu studieren. Die Zeichenlehrerschule war wohl sein mit den – ohnehin erstaunlich liberalen – Eltern ausgehandelter taktischer Kompromiss.

Das undatierte (und zuerst wiederentdeckte) Jugendwerk dürfen wir hier nicht vergessen! War das nicht das Programm der Revolte auf einem Pappendeckel? Ist das Bild nicht bewusst ‚hässlich’ bis zum Hosenbein des Jungen, ein kleiner Schlag in die Fresse der bürgerlichen Kunstspießer, ungeeignet für ein Weiterkommen an jeder Kunstschule?

BERLINS STRASSEN

Studienbeginn in Berlin im Oktober 1918! Nicht nur Gorki fand einst seine Universitäten auf der Straße! „Novemberrevolution!“ „Kapp-Putsch!“ : Den Kapp-Putsch haben wir nie ernst genommen, der wurde ausgelacht in Berlin, man hat die Putschisten besucht. Die Rechtsradikalen hatten noch lange keinen Kredit. Mit zu wenig militärischer Macht wollten ein paar Offiziere (Generäle) befehlen. So Wiegmann fünfzig Jahre später. Das Theaterhafte bereits der ‚Novemberrevolution’ kann ich mir dank Ben Hecht, eines jungen Kriminalreporters aus dem robusten Chicago auf Dienstreise in Deutschland, lebhaft vorstellen. Mag auch die eine oder andere Episode für die Chicago Daily News aufgebauscht oder gar erfunden sein*, die Stimmung in Berlin und im Reich hat Hecht meisterhaft erfasst. Schließlich wurde er später Hollywoods erfolgreichster Drehbuchautor.

Ben Hecht: „Revolution im Wasserglas – Geschichten aus Deutschland 1919“ (1954, dt.2006 bei Berenberg, Berlin). *Rezension dlf Link

sign. 'Ludwig Meidner 1919', Privatsammlung

sign. ‘Ludwig Meidner 1919’, Privatsammlung

Schnell gewann er damals den Eindruck, das Ganze sei eine von der Heeresspitze „fabrizierte Revolution“ – das lässt mich spontan an Rumänien 1990 denken. „Kirchgänger und Gewerkschaftler“ (31) der SPD wurden zu „komischen Marionetten“ (32). – Mein Schulwissen über diese Zeit erlaubt mir keine historische Bewertung. Darauf kommt es in diesem Kontext auch gar nicht an. Eher schon auf das Gesicht eines „mützenbebänderten“ (29) Matrosen auf dem Holzschnitt von Ludwig Meidner.

Ich wagte das frech daherkommende Buch kaum dem kundigen Klaus Täubert zuzumuten. Ich war überrascht und erfreut, als ich von ihm folgende Antwort erhielt:

Klaus Täubert im Mai 2017

DADA

Und über die Kunst sind wir bereits Skandal und bei DADA! Wiegmann erzählte mir 1969 vom Theaterstück „Überteufel“ (Hermann Essig, 1912, Link zum Text), auch von Walther Mehring, der sich Pipidada nannte und von „Merz“-Bildern, die wie Dada nicht erklärt wurden.

Der Wikipedia-Beitrag zu „Merz“ erzählt: Als Kurt Schwitters nicht zur Ersten Internationalen DADA-Messe in Berlin im Jahre 1920 zugelassen wurde, sann er auf einen „absolut individuellen Hut, der nur auf einen einzigen Kopf paßte,“ – auf seinen eigenen. Der Zufall wollte es, dass er beim Gestalten einer Collage die dabei verwendete Anzeige mit dem Wort Kommerz darin so zerschnitt, dass nur die Silbe Merz übrig blieb, was Reime wie „Scherz“, „Nerz“ und „Herz“ zu assoziieren erlaubte und einen ähnlich sinnfreien Zug wie Dada besaß. Es wurde Schwitters ureigenstes Synonym für Dada. Link

DADA-Ausstellung 1920-IMG_0389Wiegmann hat die DADA-Messe besucht – in der Berliner Tribüne (?) – und er erzählte von der Stehleiter. Wer oben war, konnte den Vorhang vor einem Spiegel beiseite ziehen, auf dem geschrieben stand: „So siehst du aus, Spiesser

Von Publikumsbeschimpfungen einer DADA-Gala unter der Regie des vierundzwanzigjährigen George Gross berichtet Ben Hecht brühwarm:

Die Plakate verkündeten die Erste deutsche Nachkriegs-Renaissance der Kunst! Eintritt 20 Goldmark. Festliche Kleidung vorgeschrieben. Ich saß in meiner Loge und blickte herab auf mein Publikum, bestehend aus Berlins distinguiertesten Bürgern im feinsten militärischen und zivilen Gefieder. (….) Der schwarzgesichtige Grosz stürzte aus den Kulissen und und brüllte dem Publikum eine weitere Warnung zu: „Nehmt den Fuß aus der Butter, bevor es zu spät ist.“ Eine Serie von Auftritten folgte. (….) Ich erinnere mich an einige. Da gab es ein Rennen zwischen einem Mädchen an einer Nähmaschine und einem Mädchen an einer Schreibmaschine. Grosz feuerte die Startpistole ab. Die Mädchen begannen mit Höchstgeschwindigkeit zu nähen und zu tippen. Die Nähmaschinistin wurde zur Siegerin erklärt. Sie empfing eine Kollektion falscher Bärte und verließ die Bühne voller Stolz. Es gab keinen Applaus. (….) Schließlich begann des Publikum mit einer Gegenrevolution. Offiziere zogen ihre Waffen und feuerten auf die Bühne. Polizisten und Soldaten erschienen. Hohe Beamte verlangten die Inhaftierung der Rowdys. Die Berlins Elite an der Nase herumgeführt und verspottet hatten. Aber keiner wurde verhaftet. Die Dadaisten hatten sich in die Frühlingsnacht aufgelöst. (a.a.O. S.86-88, nach „Letters from Bohemia“, 1964) Mit den zahlreichen billigen Publikationen ging das nicht so einfach. Für eine großformatige ‚ehrverletztende’ Karikatur hatte Grosz gerade ein paar Wochen gesessen. Wir sind sozusagen Revolutionäre. Gegen alles, dem mehr Wert gegeben wird als irgendeinem menschlichen Wesen, sind wir gewillt zu kämpfen.“ (a.a.O. 81) So zitiert ihn Ben Hecht.

Im Atelier lichtet Hecht herumstehende Bilder ab, dekoriert damit später in Chicago ein sehr langes Schaufenster und provoziert einen großen Publikumsansturm.

PICASSO UND BRAQUE ALS LEHRER

Leider habe ich über den jungen ‘Kunstmaler’ Wiegmann, abgesehen von ein paar kleinen Abbildungen um 1928, keine Informationen. Betrachter sehen gewöhnlich hinter Wiegmanns frühen Stilleben überdeutlich Picasso oder Braque oder Juan Gris  als  Vorbilder. – Wo und wann bekam Wiegmann in Berlin „Picasso“ zu sehen oder „Braque“?  Ab wann fuhr er regelmäßig nach Paris, etwa zu seinem Freund Wolters? Doch ebenso wüsste ich gern: Was ‘sah’ er in diesen Bildern? Was erhoffte er sich davon? Ganz sicher sah er nicht, was wir heute in retrospektiven Ausstellungen mit Werken der Klassischen Moderne sehen, wenn uns nicht die Kuratoren bereits auf einen anderen Weg geschickt haben!

Vor einiger Zeit traf ich auf ein quadratisches Bändchen der Reihe Die Arche über Georges Braque (Zürich 1958) und darin unter dem Titel Mein Weg (1954) ein von Dora Vallier aufgezeichnetes Gespräch. Vielleicht gibt das eine Vorstellung.

Georges Braque kehrt  nämlich die wiederkäuende Perspektive der Nachwelt um und nimmt die Leser auf den Weg seiner Entdeckungen.

„… Meine künstlerische Ausbildung? Mein einziger Lehrmeister war die Zeitschrift ‚Gil Blas’. Mein Vater (Freizeitmaler) hatte sie abonniert. Ich war ungefähr zwölf Jahre alt; …. (11) In der Zeichenstunde tat ich nichts anderes als gegen den Lehrer zu hetzen und Karikaturen zu machen … ich hatte stets einen Abscheu vor der offiziellen Malerei – das ist heute noch genauso … Nach dem Gymnasium, mit achtzehn Jahren trat ich eine Lehre als Dekorationsmaler an … (12) ich lernte also falschen Marmor und falsche Holzfaserung herzustellen … Gleichzeitig folgte ich den Abendkursen für Zeichnen im Stadthaus von Batignolles und später an der ‚Académie Humbert’, eine Akademie wie alle andern, wo der Lehrer nicht zählte, und sämtliche Schüler Dilettanten waren, wo es aber sehr viel zu lachen gab. Dort traf ich Picabia, den ersten Maler, den ich kannte, und Marie Laurencin … ich war zwanzig Jahre alt und rückte in den Militärdienst ein.“

Dora Vallier fragt, ob nun die eigentliche Geschichte des Malers Georges Braque beginne – Feld der Kritik; seit vielen Jahren gewertet, klassiert und katalogisiert? Mitnichten!

„Nie habe ich die Idee gehabt, Maler zu werden … Ich hatte Freude am Malen und ich arbeitete viel….“ (13) Und so geht es weiter: „Die fauvistische Malerei hatte mir großen Eindruck gemacht, weil sie neu war, und das gefiel mir … Es war eine Malerei voller Begeisterung und sie passte zu meinen dreiundzwanzig Jahren … Da ich die Romantik nicht schätzte, gefiel mir diese körperhafte Malerei … (14) Ich war von Cezanne beeindruckt, von seinen Bildern, die ich bei Vollard gesehen hatte … Auch die Negerplastik hat mir einen neuen Horizont eröffnet … Ich hatte selbstverständlich ‚am Modell’ gelernt. Ich hatte bis jetzt nach der Natur gemalt, und als ich davon überzeugt war, dass man sich vom Modell befreien müsse, war es gar nicht so einfach … (15)“

Vergleichbare Abenteuer durchlebte auch der ehrgeizigere Pablo Picasso. Der Aufsatz von William Rubin in „Primitivismus in der Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts“ (MoMa, N.Y. 1984, 248-345) verdeutlicht das heute sehr schön. Zeitgenossen Picassos mussten schon genau hinschauen und durften nicht auf die Auguren vertrauen. Wiegmann hielt sich oft genug in Paris auf.

SCHULPRAXIS UND AUSSTELLUNGSPRAXIS ERFOLGREICH ABGESCHLOSSEN

Als Lehrer an einer staatlichen Höheren Schule hatte Wiegmann  offenbar Freiräume für reformpädagogische Ansätze. Und die befreundeten Mediziner Joel und Fränkel  vereinten in ihrem Ausstellungsprojekt “Gesunde Nerven” im Gesundheitshaus Kreuzberg 1929 eine  avancierte medizinische ‘Volksaufklärung’ mit dem Mut zum formalen Experiment. Sie gaben Wiegmann eine einzigartige Chance. Kein Wunder, dass Kollege Ausleger ihn damals oft im Unterricht vertreten musste. Die mir zugänglichen Presseberichte waren durchweg begeistert. Doch nur Walter Benjamin hob  In seinem Artikel “Bekränzter Eingang” hervor, dass Wiegmann gezielt die Stärken von Schülerarbeiten genutzt hatte.  Benjamin sah in dessen künstlerischen Konzept gleich drei Kräfte als Ideengeber am Werk:  den „Rummelplatz“ und eine revolutionäre Pädagogik  auf der einen Seite,  das ästhetische Erbe der verblichenen DADA-Avantgarde auf der anderen:

„ (….) Montage kennt die Budenschau freilich nicht. Hier bricht der Anschauungskanon unserer Tage, der Wille zum Authentischen, ein. Montage ist ja kein kunstgewerbliches Stilprinzip. Sie entstand, als es gegen Ende des Krieges der Avantgarde deutlich wurde: Die Wirklichkeit hat nun aufgehört, sich bewältigen zu lassen. Und bleibt – um Zeit und einen kühlen Kopf zu bekommen – nichts weiter übrig, als sie vor allem einmal ungeordnet, selber, anarchistisch, wenn es sein muss, zu Worte kommen zu lassen. Die Avantgarde waren damals die Dadaisten. Sie montierten Stoffreste, Straßenbahnbillets, Glasscherben, Knöpfe, Streichhölzer und sagten damit: Ihr werdet mit der Wirklichkeit nicht mehr fertig. Mit diesem kleinen Kehrricht ebenso wenig wie mit Truppentransporten, Grippe und Reichsbanknoten. (….. 4.Spalte, Rückseite)

Konstruktiv funktionieren kann DADA erst dank einer radikalen Schubumkehr um 180 Grad:

Da (In der Ausstellung) ist an allen Ecken und Enden eine Überlegung, eine grundsätzliche Klarheit zu spüren, wie nicht Amtsstunden passioniertester Tätigkeit sie erzeugen. Weder Joel noch einer seiner Mitarbeiter sind in Russland gewesen. Umso interessanter, dass der erste Blick in den Räumen jedem der sie betritt, eine Vorstellung davon geben kann, wie es im „Moskauer Hause der Bauernschaft“ oder im „Klub der roten Soldaten“ im Kreml aussieht. Nämlich heiter, bewegt und freudig und so, als sei gerade heute, am Tag an dem du kommst, hier etwas ganz Besonderes los. Modell, Transparente sind gruppiert, als hätten sie auf das Geburtstagskind gewartet, Statistiken schwingen sich wie Guirlanden von Wand zu Wand, an manchen Apparaten sucht man unwillkürlich den Schlitz, um sie durch einen Groschen in Bewegung zu setzen, so unfaßlich scheint es, daß hier alles umsonst ist.

Bald kommen wir auch hinter einen Trick: Der künstlerische Leiter dieser Schau, Wi(e)gmann ist Zeichenlehrer. Er hat die Schulkinder für diese Ausstellung gewisse Themen „niedermalen“ lassen. So sind aus dem „Tag des Abergläubigen“, aus den „Erziehungsfehlern unserer Eltern“ eigensinnige, grellbunte Bilderfolgen geworden, zu denen nur die Leierkastentexte und das Stöckchen des Moritatensängers noch fehlen. Ganz davon abgesehen, dass die Aussicht auf solch vernünftige Verwendung ihrer Sachen die Lust der Kinder an der Arbeit steigert. Kinder können hier darum so gut vermitteln, wie sie ja die eigentlichen Laien sind.

Und Laien sind auch die Besucher dieser Schau und sollen es bleiben. (….) Nicht gelehrter sollen sie die Ausstellung verlassen, sondern gewitzter. Die Aufgabe der echten, wirksamen Darstellung ist geradezu das Wissen aus den Schranken zu lösen und praktisch zu machen. (1./2.Spalte)

Und der Schlusssatz: Langeweile verdummt, Kurzweil klärt auf. Walter Benjamin (6. Spalte)

‘NEBENFACH’: SOZIALMEDIZIN

Mit der Mitarbeit 1929/30 auf ‘sozialhygienischen’ Gebiet gewann Wiegmann intellektuell Anschluss an eine ‘substantiellere’ Avantgarde, dort wo Wissenschaft und Medizin sozial wurden. Ärzte und Suchtexperten Ernst Joel (1893-1929) und Fritz Fränkel (1992-1944) versorgten ihn nicht nur mit ihren aktuellen Broschüren.

Vor dem Haus der Benjamins im Grunewald

Vor dem Haus der Benjamins im Grunewald *

Eine dritte Person darf aber nicht vergessen werden, die an der Konzeption der Ausstellung beteiligt war: Dora Benjamin (1901-45, “Dodo”), Volkswirtin und Redakteurin in der “Sozialen Praxis”, “dem führenden publizistischen Organ der bürgerlichen Sozialreform” . Sie hatte mit einer empirischen Arbeit über Frauenheimarbeit und Kinderarbeit promoviert und arbeitete mit Fritz Fränkel in der Suchtforschung und in Anwendung und Weiterentwicklung des Rohrschachtests. (E.Schöck-Quinteros, siehe unten)

Es ging buchstäblich um eine Revolution in der Sozialmedizin Deutschlands. Doch die wurde 1933 gleich wieder diktatorisch unterdrückt, um Platz für eine unter Fachleuten seit langem verbreitete sozialdarwinistische und eugenische Orientierung zu machen. – Das las ich zum ersten Mal 1986 in der am Universitätsklinikum HH-Eppendorf enstandenen medizinsoziologischen Studie über das angeblich so ‘liberale’ Hamburg. (H. Kaupen-Haas: “Der Griff nach der Bevölkerung – Aktualität und Kontinuität nazistischer Bevölkerungspolitik“, Philo bei Greno, Nördlingen).

Mit der erzwungenen Emigration seiner Förderer und Freunde war Wiegmann dieser künstlerische Weg in Deutschland verbaut. Mit der Leitung des Hygiene-Museums in Dresden, für die Fränkel und er 1930 gearbeitet hatten, hatte er sich nicht verstanden.

Über weitere Kontakte mit den Benjamins und den anderen Emigranten, etwa in Paris, habe ich fast keine Information. Die Lebensperspektiven trennten sich. Dora Benjamins Profil und das Emigrantendasein in Frankreich zeichnet in klaren Strichen Eva Schöck-Quinteros in “Dora Benjamin (….) Stationen einer vertriebenen Wissenschaftlerin (1901-46)”, bonjour.Geschichte 4 (2014) : Link. Den weiteren Lebensweg von Fritz Fränkel schildert Klaus Täubert in “Unbekannt verzogen…” (trafo Verlag Berlin, 2005) und in “Eingesammeltes” Bd.1 (Hagen, 2011. Demnach verbrachte auch Fränkel ein Jahr auf Mallorca, 1935-36, in Wiegmanns Nachbarschaft (ebd. S.154).

EIN HAUCH INTERNATIONALER BEWÄHRUNG

Für Wiegmann gab es freilich damals weitere Optionen, nun wieder nach traditionell ästhetischem Verständnis: die erste ihm erwähnenswerte Ausstellungbeteiligung 1931 oder 1932 in einer Kunstgalerie, und gleich bei  John Becker, New York. Anzunehmen ist, dass ein Freund, Edwin Denby (Link), vermittelte.

Der Ausstellungszettel  nennt ‘Weigmann’ einen „glühenden Bewunderer“ (passionate admirer) Braques und Picassos. Das entsprang sicher nicht nur dem Marketing-Kalkül der Galerie. Doch wie weit die kubistische Denkweise Wiegmanns Begabung entsprach, kann ich nicht einschätzen.

 DIE MEISTER ALTEUROPAS

Auf die Entwicklung einer eigenen Bildsprache hatte er bisher wohl zu wenig Energie

Veronese 1470 (Museumsfoto 1933-34)

Veronese 1470 (Museumsfoto 1933-34) *

verwendet. Als er am 1.4. 1933 vom Schuldienst und gleich auch vom Deutschen Reich Urlaub nimmt ‘unter Verzicht auf Gehalt’, nutzt er den Aufenthalt in Frankreich, Italien und Spanien, um sich verstärkt in der großen europäischen Tradition neue Lehrer zu suchen. Die Reproduktion rechts hat er vielleicht damals in einem italienischen Kunstmuseum  erworben.

In einem Interview des Peiping Chronicle Anfang 1936 beschrieb er die jüngste Strecke seines Wegs  so:

* Peiping Chronicle 16.2.1936   Ausschnittthe-peiping-chronicle-16-2-1936-ausschnitt

Die spanische Schule des Velasquez, die französischen Schule Cezannes und die italienische da Vincis waren für ihn Offenbarungen. Deren Studium brachte ihn dazu, sich ihrer Führung und Inspiration zu überlassen und der Schule der Moderne, die er kannte, den Rücken zu kehren. Auf seinen Reisen durch diese Länder nahm er die moderne Entwicklung von diesen alten Meistern aus in den Blick, und er entwickelte das größte Interesse an ihrer Wirkung auf die Kunst der Gegenwart. Als Resultat machte er eine Synthese alles dessen und entwickelte seinen persönlichen Stil.

CHINESISCHE KUNST

1936 hat er in China sich als Lehrmeister eine fremde ästhetische Tradition  gesucht. Die war vielleicht zu groß für den kurzen Aufenthalt  und mit Sicherheit ließ sich deren Lehre ‚zuhause’ schlecht vermitteln. Der Sprung blieb praktisch bei ein paar Motiven stecken und ansonsten Programm – was  in einem ungewöhnlich kritisch formulierten Gästebucheintrag in der Pekinger Ausstellung anklingt:

Nur die Stoffwahl ist leider auf das Stilleben vor dem Fenster und auf die kleineren Landpartien beschränkt. Hoffentlich macht der Künstler weitere Fortschritte, damit er mit einer außerge-wöhnlichen künstlerischen Anschauung die Eigentümlichkeit Chinas kennen könnte.“ (unbekannter Übersetzer; das ganze Zitat und weitere: Link)

1936 (Originalrepro.)

1936 (Originalreproduktion in Peking von einem der ganz wenigen Landschaftsbilder)

ZURÜCK AUF ANFANG

Mit der Rückkehr ins Reich  und während des Krieges rückte die pädagogische Arbeit mit Schülern wieder ins Zentrum. 1941 bis 1943 betreute er im Rahmen der “Kinderlandverschickung” (K.L.V.)  Kinder aus seinem Wilmersdorfer Gymnasium im Sudetenland.

Dann folgten Schicksalsschläge kurz aufeinander: die Zerstörung der Atelierwohnung 1943 durch Bomben, 1945 der Verlust aller in einem Berliner Banktresor verwahrten Arbeiten, schließlich die schwere Operation im oberfränkischen Hof/Saale, wo er anschließend sechs Jahre festsaß (Link). Eine Anstellung fand er erst 1948 an der ‘Bildhauerfachschule’ im vierzig Kilometer entfernten Wunsiedel/Fichtelgebirge. Bewerbungen nach Hamburg, Berlin und Frankfurt waren erfolglos.

Bei den Proben um 1960 Foto: DvG

Bei den Proben um 1960 Foto: DvG

Erst ab 1951 konnte er in Frankfurt Gymnasien unterrichten, von 1952 an hatte er am Goethe-Gymnasium noch zehn Arbeitsjahre. Schultheaterinszenierungen und eine äußerst anspruchsvolle Studienfahrt sind belegt.

Überraschung: Der Entwurf für das Türrelief an der Liebfrauenkirche stammt von ihm. Ausführung A. Welcker.Liebfrauenkirche-Tür-IMG_0150

NATURSTUDIUM

Tuschzeichnung um 1970 - 30x11

Tuschzeichnung um 1970 – 30×11 cm (Privatsammlung)

Nach seiner krankheitsbedingten Pensionierung 1962 hat er sich auf seine Kunsterfahrungen in Peking besonnen, mit überraschenden Ergebnissen. Ausgerechnet in der Umgebung eines Hessischen Ferienhotels in Beatenberg, Kanton Bern, entdeckte er seine Chance, die Wucht der schroffen klassischen chinesischen Bilderbergwelt in zeitgenössische Ölgemälde zu verwandeln. „Das haben nach Segantini und Corinth nur noch Heimatmaler gemalt.“ (Willi Schmidt, gesprächsweise)

Wenn ich jedoch die ästhetischen Lösungen chinesischer Künstler für die Landschaftsmalerei im 20. Jahrhundert betrachte, war Wiegmann gar nicht abseitig. Die Spur der Kunst hat er nicht verloren, nur den Weg zum Kunstmarkt.

* Original im Stadtarchiv Frankfurt/Main (Nachlass S 1- 513)

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