Veröffentlicht am 28. Okt. 2016, Nachträge: 7.Nov. 2016 und 4. Jan. 2018, Revision im April 2019, eine Ergänzung im August 2021 – Der Beitrag wurde inzwischen 300 mal aufgerufen.
Bisher standen das gesundheitspolitische Engagement des Künstlers und seine Vernetzung im Vordergrund. Die Berichtserstattung legte selbstverständlich ihr Gewicht auf die Inhalte, wollte die Botschaft der Ausstellung verbreiten.
Auch mich hat etwa die Installation der arbeitenden Skelette fasziniert und der schnörkellose Collage-Stil der Ausstellungswände, der an die Ästhetik der damaligen AIZ erinnert, aber es lohnt doch, näher hinzusehen.
Zunächst kam per Email der überraschende Kommentar von Friedrich Pfäfflin:
Ich habe mit Interesse Ihren Beitrag gelesen, auf den ich im Zusammenhang mit der Hygiene-Ausstellung 1929 gestoßen bin. Sie erwähnen Fotos dieser Ausstellung? Kann ich die kennenlernen? Nach Klaus Täubert, dem Biographen Fränkels („Unbekannt verzogen …“, Berlin 2005, 53), sollen der/oder das einmontierte Kinderfoto von Joels Schwester Charlotte stammen, über die ich arbeite. Gibt es bei Wiegmann im Nachlass Verbindungen zu dem Atelier Joel-Heinzelmann, Berlin-Charlottenburg, Hardenbergstraße 24?
Ich schickte ihm die Vergrößerung eines Albumfotos (6×6 !), auf dem Pfäfflin Kinderfotos vom Atelier Joel-Heinzelmann erkannte.
Charlotte Joel hat erst 2019 eine Monografie ihrer Fotoporträts im bekommen, von Benjamin zu Karl Kraus, von Buber bis Marlene Dietrich. Natürlich auch die einzige bekannte Fotografie ihres Bruder. Von Friedrich Pfäfflin wurde der Katalog vorbereitet und von Werner Kohlert für den Wallstein-Verlag fertiggestellt. (LINK)
Dann fand sich im Archiv ein kurzer Pressebericht der Berliner Morgenpost , der mit farbigen Impressionen auf den Besuch Appetit machte:
Walter Benjamin Bekränzter Eingang. Zur Ausstellung ‚Gesunde Nerven‘ im Gesundheitshaus Kreuzberg :
veröffentlicht in Die literarische Welt 6.Jg. Nr.2, 10.1.1930, S.7-8; Nachdruck : Gesammelte Schriften. Bd.IV,1,2.hrsg. von R.Tiedemann u. H. Schweppenhäuser, Frankfurt 1980, S.527-532.
Durch einen Zufallsfund in Google-Books erfuhr ich von einem kleinen Aufsatz von Walter Benjamin unter dem Titel „Bekränzter Eingang“, worin er ausführlich auf die von Wiegmann eingesetzten künstlerischen Mittel und ihre Wurzeln einging. Da musste also erst der Freund kommen, um das Skandalon – ich meine damit nicht das sowjetische Volkshaus – zu enthüllen!
Wiegmann hat die Stelle angestrichen!
„Wigmann ist Zeichenlehrer. Er hat die Schulkinder für diese Ausstellung gewisse Themen niedermalen lassen. So sind aus dem ‚Tag des Abergläubigen‘, aus den ‚Erziehungsfehlern unserer Eltern‘ eigensinnige, grellbunte Bilderfolgen geworden, zu denen nur die Leierkastentexte und das Stöckchen des Moritatensängers noch fehlen. Ganz davon abgesehen, daß die Aussicht auf solch vernünftige Verwendung ihrer Sachen die Lust der Kinder an der Arbeit steigert. Kinder können hier darum so gut vermitteln, weil sie ja die eigentlichen Laien sind“ (2.Sp.)
Die Gedanken werden weiter ausgeführt. Dann kommt die zweite Pointe: „Die ältesten Fachleute“ der „Ausstellungstechnik“ sind die Leute vom Schausteller-Gewerbe. Auch davon habe Wiegmann sich inspirieren lassen.
7.11.16
Ich habe drei weitere Fotos auf einem Albumblatt gefunden.
„Seelische Leiden brauchen seelische Behandlung“ – Der Untertext ist vom Fotoabzug nicht abzulesen, etwas wie „Diese Aussprache …. zum Nachdenken über die seelische Not“
Im Hintergrund erstrahlt ein Fenster im Bauhaus-Stil. Empfinden Sie das Ambiente in beiden Räumen nicht auch als kalt und sachlich? Mir ist von entsprechenden May-Siedlungen in Frankfurt am Main her bekannt, dass deren Rationalität die Bevölkerung nicht ansprach: Das war für sie die einschüchternde Welt moderner Institutionen – und eines verordneten Glücks.
War die Warnung vor „Schundliteratur“ wirklich nötig?
Wer hat eigentlich den Text verbrochen? Darüber hätten Wiegmann und auch Benjamin eigentlich lästern müssen. Mit Kokain experimentieren und dann der Ton!
Dieses Bild der Ausstellung erinnert stark an die Schilderung der Eingangstafel in der „Berliner Morgenpost“ (oben auf der Seite).
Das sollen nur Fragezeichen zum ‚Gesamtkunstwerk‘ GESUNDE NERVEN sein!
Die Aussage ist kaum bestreitbar, aber belegen auch die Schwäche volkspädagischer Ansätze – im Einzelfall waren Informationen den Besuchern sicher nützlich.
Wenn wir uns im Jahr 2016 kurz freimachen von der Perspektive, auf sich die Mediziner und Sozialisten einigten, so hat die Verbindung von ARMUT, ARBEIT und TRUBEL einen säuerlichen Beigeschmack. Die Verbindung mit ARMUT weist auf ein bestimmtes Zielpublikum hin, zu dem die Autoren sicher nicht gehören. Woran konnten diese Leute etwas ändern, etwa an der Armut oder der aufgezwungenen oder fehlenden Arbeit? Klar, am TRUBEL!
Von Sergeij Eisenstein sah ich vor Jahrzehnten im Fernsehen den Film „Frauennot, Frauenglück“ (1929/30) und behielt einen bleibenden Eindruck von seinem technisch verbrämten autoritären ‚Ton‘. So ein Gefühl kehrt hier zurück.
Es gibt es irgendwo bereits eine Einschätzung der Ausstellung auf breiterer Informationsbasis?
*
8. Januar 2018 Wozu in die Ferne schweifen?
Meine eigene Einschätzung hat sich mittlerweise auch differenziert. (Link)
Vor allem bot Robert Fließ bereits am 23.11.1929 in der Vossischen Zeitung eine detaillierte und temperamentvolle Einschätzung!
Wer war Dr. Robert Fließ?
Ein Studierender gleichen Namens am Berliner Psychoanalytischen Institut wird als „fellow student“ zum Beispiel von Erich Fromm und René Spitz genannt. (The Annual of Psychoanalysis, V.32; editors: Jerome A. Winer, James W. Anderson, Routledge 2013, Link) . Ein unfertiger en-wikipedia-Artikel (Link) belässt Robert im Schatten seines berühmten Vaters Dr. Wilhelm Fliess, dem engen Freund und Vertrauten von Sigmund Freund. Freud führte z.B. mit seiner Hilfe seine Selbstanalyse durch, die Familien hielten engen Kontakt – bis 1903, als sich die Väter zerstritten.
Einen völlig anderen Zugang bietet die als pdf erschienene Studie von Lawrence Ginsberg in der Web-Publikation „internationalpsychoanalysis.net“. Es handelt sich um eine für Laien sperrige Zusammenstellung aus verschiedenen Quellen auf 42 Seiten: „ROBERT W. FLIESS (1895-1970): A Beneficiary and/or Forsaken Casualty of Classic Freudianism? “ – auf deutsch: Nutznießer und/oder verwahrlostes Opfer des klassischen Freudianismus?“ .
Nach der Lektüre möchte ich salopp umformulieren: Ein Heranwachsender inmitten der wilden Jahre der Psychoanalyse, zweifellos Opfer einer Umgebung, wie sie Eva Weissweiler in „Die Freuds – Biographie einer Familie“ (2006) detailliert beschrieben hat: verknüpft mit der ‚feudalen‘ Familienstruktur des wilhelminischen Bürgertums eine verantwortungslose Ausforschung der eigenen Kinder aus wissenschaftlicher Neugier, missbrauchtes Vertrauen, die Vermengung privater Beziehungen und Freundschaften mit Theoriestreit und Konkurrenz….Der Autor empfiehlt am Ende seines kurzen Vorworts explizit: Future biographers are likely to reconsider progressions through his professional career as a reputed survivor of child-abuse and/or parricidal-like phantasies. (2) deutsch: „Künftige Biografen werden wahrscheinlich die durch seine Berufskarriere bewirkten Fortschritte Roberts als Überlebender zu vermutenden Kindesmissbrauchs und / oder vatermörderischen Phantasien überdenken“.
Der im Januar 2018 Link funktionierende Link verwies uns bereits ein Jahr später über die Suchfunktion auf ein totes Gleis, oder wäre Ihnen der Ausdruck ‚Labyrinth‘ lieber? Ich bin froh, hier wenigstens die folgenden Auszüge präsentieren zu können. Ich stelle im Folgenden bezeichnende Zitate aus den ersten 12 Seiten zusammen:
Elenore (1974), in an earlier account, portrayed her long-deceased father-in-law as “…charming to patients and acquaintances” while “a tyrant at home.” (6)
By 1982, Elenore (Fließ, Roberts Ehefrau) came to allude about Robert’s early family life as having included “a forbidding father, a subservient mother and meals with the servants“. Eine mochte ihn besonders und kochte seine Leibspeisen.
Elenore (1982, op. cit.) was not known to have ever met Ida Fliess, whom she termed “a Viennese heiress, daughter of a cultured family…an accomplished amateur pianist…gracious hostess” who led a salon in Berlin frequented by musicians, artists and literary figures (8)
In the Fliess’s ‘family myth,’ Freud was known as Robert’s ‘Uncle Doctor’. (3)
Fliess kept a daily record book in which he recorded his firstborn son’s (Robert) every maturation milestone, affliction, and trace of sexual activity’….(4)
We may never become privy (eingeweiht) to whatever childhood and adolescent traumata or abuse Robert may have been exposed to at the hands of either parent. (12
A ‘LONER’ – Robert: “It has taken me time to recognize my isolation as another blessing: I had never to please anyone and have been undisturbed in listening to my own ‘critical institution’…” (5)
Robert leistete im Ersten Weltkrieg vier Jahre Frontdienst, erlitt durch eine ‚Kriegsneurose‘ (shell shock) eine Beeinträchtigung des Gedächtnisses und einen tic bei Belastungsstress. (13) Er studierte anschließend Medizin und war Assistent an der Charité. Er kehrte in die Große Familie zurück. Er wurde selber Psychoanalytiker und begann 1927 die Ausbildung mit der Lehranalyse. Dann – er war 33, starb sein Vater 1928. Damals sprach er auch mit ‚Onkel Doktor‘ Freud über ihn.
Robert’s formal psychoanalytic training began at the Berlin Psychoanalytic Institute shortly after founder Abraham’s early death (1927):“…Karen Horney was there and Ernst Simmel. Ferenczi would have put in guest appearances. But more than lectures, however, what the student groupwould remember was the “Kinder Seminars…” (E. Fliess, 1974, p. 14). (13)
Robert was 37-years of age when he graduated (1932) from the Berlin Psychoanalytic Institute. According to a later account of his wife, he had been employed as: “a medical journalist³ for the foremost Berlin daily.
Diese ‚führende Berliner Tageszeitung‘ war die ‚Vossische Zeitung‘! Nun erklärt sich das schmetternde Stakkato kurzer Sätze in der Ausstellungsrezension:
„Und was sagen die Kinder dazu? Man will sie hören. Man hat sie zeichnen lassen. Der Studienreferendar Dr. Fritz (sic!) hat sie zeichnen lassen, die Dreizehnjährigen. Thema: „Erziehungsfehler unserer Eltern“ Ausführung: Sechs reizende Bilder, sämtlich mit Unterschrift. …“ Es lohnt sich, aufmerksam weiter zu lesen.
Robert wusste, wovon er sprach. Hier ging es um viel mehr als die seelische Not im bedauernswerten Proletariat! Fast vierzig Jahre später wurde – in Westdeutschland – ‚das Kind‘ wiederentdeckt, zusammen mit den Theorien der Weimarer Zeit. Heute befinden wir uns mitten in irgendeiner Phase einer globalen Erziehungsrevolution. Gut? Ja und Nein. Umwälzung? Aber ja! ‚Psychische Gesundheit‘? Wohl kaum!
So viel für heute! 5.1.18
Soviel für heute!