Ich hielt Fränkel und Joel für ‚prominent’, also gut dokumentiert. Ich ahnte nicht, wie sehr das Gedächtnis an diese Menschen dauerhaft vom Engagement selber unbekannter Individuen abhängt, etwa von Klaus Täubert und der Gymnasiallehrerin Margarethe Exler aus der Provinz. Und einem kleinen Verlag wie ‚trafo’.
Verführt durch ‚vermischte Nachrichten’ von Drogenexperimenten, linker Sozialmedizin an einem sozialen Brennpunkt, Szeneleben und schließlich der Anbindung an die KPD – hatte ich mir attraktive und lockere Rebellen vorgestellt, nicht so blasse Intellektuelle mit stark hervortretender sozialer Ader. Alle in einem großbürgerlich wirkenden Berlin wohnend, auch Wiegmann, wie die Ortsbesichtigung an der Adresse des Ateliers in Tempelhof zeigt. Die berühmte Urbanstraße, wo ich das wieder aufgebaute „Gesundheitshaus Kreuzberg“ besuche, ist sogar eine herrschaftlich breite grüne Allee. Das Haus selbst war damals einer dieser repräsentativen öffentlichen Bauten, übrigens zuerst eine wilhelminisch großkotzig daherkommende Erziehungsanstalt für ‚gefallene Mädchen’.
Ich konsultiere im Benjamin-Archiv an der Akademie der Künste vier Druckschriften und einen Briefwechsel aus der „Fritz Fränkel (1892-1944) – Sammlung Klaus Täubert“.
Ernst Joel
Gestern las ich die Joel-Biografie von Margarethe Exler: „Von der Jugendbewegung zu ärztlicher Drogenhilfe – Das Leben Ernst Joels (1893–1929) im Umkreis von Benjamin, Landauer und Buber“ ( trafo, Berlin 2005) – den sympathischen Bericht einer Spurensuche zu einem idealistischen jungen Mann aus mütterlich behütetem, aber vaterlosem bürgerlichem Elternhaus.
Heute im Archiv las ich Joel’s weitschweifige „Akademische Kundgebung“ von 1916 (Findebuch 1.2 : 275) über die Bestimmung der Universität frei nach Fichte als „derjenige Punkt, in welchem (…) jedes Zeitalter seine höchste Verstandesbildung übergibt dem folgenden Zeitalter …“ – Dann folgte das ganze postpubertäre jugendbewegte Tun, das ihn aber nicht von einem Medizinstudium abhielt, welches vermutlich der Onkel bei ihm durchsetzte.
< Das nebenstehende Foto stammt aus einem erst 2019 im Wallstein Verlag erschienenen Buch voller Porträts: „Das Werk der Photographin Charlotte Joel“ herausgegeben von Friedrich Pfäfflin und Werner Kohlert. Das Foto spricht Bände. Danke!
Joels große Stärke: Er wollte und konnte seine Begeisterungsfähigkeit und die hochfliegende Theorie an eine verlässliche Praxis knoten, so wie dann auch in einem „Gesundheitshaus“ geschehen. Dessen Konzept formulierte er überzeugend im Wohlfahrtsblatt, Dez. 1927. Da war er bereits zehn Jahre älter. Aber musste die Identifikation mit den mühseligen und Beladenen soweit gehen, dass er über narkotischen Selbstversuchen sein Leben riskierte und verlor?
Warum, frage ich mich schließlich wie die Biografin Exler, hat die zehn Jahre ältere SchwesterCharlotte Joel, eine in Berlin prominente Porträtfotografin, den kleinen Bruder ‚nie’ fotografiert? Es scheint nur ein authentisches Foto von Ernst Joel zu existieren.(oben 1916), aber Fritz Wiegmann hat ihn 1928 porträtiert, wie ein Albumfoto von 1928 zeigt.
31.10.2023 Eine interessante neue Facette zum Studium Joels in Legal Tribune Online 6.8.2023 von Martin Rath
„Mitten im Ersten Weltkrieg wurde aus der Exmatrikulation eines meinungsstarken Studenten aus der Berliner Universität ein kleiner Skandal. Damals konnten Hochschulen als Gerichte tätig werden und sogar Campus-Haft anordnen. Er war der Mann, der Walter Benjamin (1892–1940) beim Konsum von Haschisch auf den Geschmack brachte: der Arzt Ernst Joël..…“ ( LINK)
Fritz Fränkel und Fritz Wiegmann
Die Erinnerung der damaligen Ehefrau Fritz Fränkels, Hilda, muss mehr als ein halbes Jahrhundert überbrücken. Ein gewagter Versuch von Klaus Täubert, brieflich bei Hilda Fränkel, seit langem bereits Hilda McLean anzufragen. Gleich zu Anfang lag bereits 1935 eine Scheidung im Weg mit handfestem Streit um den gemeinsamen kleinen Sohn, einschließlich Entführung nach Mallorca .
Umso bewunderungswerter, wie verständnisvoll und kooperativ sie sich für Täuberts Projekt einer Biografie des bedeutenden Sozialmediziners zeigte. (2.1 : 044).
Fränkels Verhältnis zu Mutter und Ehefrau nehme ich mit Kopfschütteln zur Kenntnis, bereits die Einquartierung seiner jungen Frau in die Wohnung, welche er mit seiner Mutter teilte. Warum er diese Frau heiratete, die an seiner Arbeit nicht teilhaben konnte und den Rest ihres Lebens der Überzeugung war, ihm intellektuell nicht folgen zu können? Warum wollte er nach der Scheidung den Sohn André unbedingt für sich behalten, wo er sich von seinen Klienten überhaupt nicht abgrenzen konnte, für sonst nichts Zeit hatte? Den Quatsch kennen wir doch!
Hilda erinnert sich an Fritz Wiegmann nur als an den „Maler und Lehrer“. Die Teddybären für André – hat Fritz Wiegmann erst „am Bahnhof“ gekauft, wie sie einmal formuliert, also spontan, weil ihm der ohne alles Spielzeug aus seiner Welt gerissene Bub leid tat?
Hilda meint sich zu erinnern, dass Wiegmann Patient bei ihrem Mann gewesen ist, von 1930 bis zu der erzwungenen Abreise der Familie.
Patient und Mitarbeiter? Psychoanalyse? Rorschach? Kokain? Wohl von allem ein wenig.
Die in „Psychoanalytische Bewegung“ 1929/4 (1.2 : 257) gezeigten Beispiele psychoanalytischer Interpretation in der Ausstellung erscheinen mir elementar, oder ‚vulgär’, also naiv. Die zwei zitierten Freud-Sätze waren gesundheitspolitisch – die Neurose als der Tuberkulose vergleichbare Bedrohung der Volksgesundheit – und zivilisationskritisch (aus „Zukunft einer Illusion“).
Aber „Wieglein“ auf der Abschiedskarte?? (Link) War der zehn Jahre ältere Fränkel für ihn Vaterfigur? Warum nicht? Für Sigmund Freud war auch Vermischung von Freundschaft oder gar Verwandtschaft mit Therapie und wiederum Therapie mit Ausbildung selbstverständlich. Ich erinnere nur an Tochter Anna.
Anders als bei Dora Benjamin, die in der Erinnerung von Hilda als „gute Freundin“ oft im Hause Fränkel war, schien Wiegmann eher eine Beziehung zwischen den Männern zu sein.
Fritz Wiegmanns Beitrag zu den Ausstellungen 1929 und 1931
Joels Aufsatz vom Dez.1927 (1.2 : 274) betont die praktische Nachbarschaft einer aufklärenden Ausstellung zu den Therapeuten und Diensten im Haus, er zählt die Gebiete auf, nennt Anforderungen, welche „die Lehrmittel“ gewöhnlich nicht erfüllten. „Gute Methoden der Belehrung müssen auf manchen Gebieten erst erarbeitet werden.“ Er fordert, „von der modernen Industriereklame mit ihren einfachen und eindringlichen Formen zu lernen“, „anschauliche Modelle, farbenkräftige überzeugende Darstellungen“ zu entwickeln, „die von einer gewissen Frische, oft sogar von Humor durchdrungen sein müssen.“ „Noch wichtiger ist, dass das Sehen und Lernen zum Erleben wird….“ (386) Er bemerkt: „Der Ausstellungsinhalt ist in ständigem Wachsen...“ (387)
Meine Schlussfolgerung: „Gesunde Nerven“ war nicht mehr als eine Sonderausstellung, welche durch die breite Resonanz in der Öffentlichkeit das bisher Geleistete überstrahlte.
Joel, Fränkel und Dora Benjamin (?) engagierten also Fritz Wiegmann wegen seines Einfallsreichtums und seiner Energie für ihre anspruchsvolle Präsentation; er wiederum konnte sich an einem existierenden Konzept und am Bestand orientieren und an den Schriften Joels und Fränkels auf den Stand der Diskussion bringen. Die Skelette in Aktion (siehe Abbildung, Link) waren jedenfalls nicht unbedingt sein Beitrag, sondern vielleicht Teil des Bestandes.
Nachdem der junge Wiegmann erst einmal ‚in den Kreis der Familie’ zurückgekehrt ist, kann man von plakativen Übertreibungen Abstand nehmen. Dafür fühle ich mich ohnehin nicht verantwortlich, schon eher Walter und Dora Benjamin mit ihren überschwänglichen Ausstellungskritiken.
An zwei Stellen moniere ich auf Tafeln Missionierungseifer (z. B. Link). Doch der war Bestandteil der ‚sozialistischen’ Beglückungsidee der Intellektuellen Joel und Fränkel, er war Motor. Nichts anderes war damals von ‚Linken’ zu erwarten.
Der Streit um die Hygieneausstellung 1930/31 in Dresden (Link) war vorprogrammiert. Ich hatte den „Programmentwurf“ vom Januar 1928 (1.2 : 261) bestellt. Fränkel und Wiegmann mussten ihn kennen. Er war von Direktor Dr. Seirig unterzeichnet. Der bezog sich mehrfach auf die Hygieneausstellung in Dresden 1911 und brachte als Programmpunkt 12 unter „Seelenleben als seelische Hygiene“ eine Mischung, unter anderen „Graphologie“ und „Unterbewußtsein“. Ich gewinne den Eindruck: alles sollte sauber und positiv sein, eben „Hygiene“. Kannten die beiden auch Seirigs gesonderte Denkschrift über „die Beteiligung der Industrie“ als Sponsor?
Es ging Seirig um eine niveauvolle formale Gestaltung – und die Berliner hatten gerade großen Erfolg mit „Gesunde Nerven“. Er setzte sich mit den beiden eine Laus in den Pelz, sie agierten subversiv.
Noch eine Entdeckung im Archiv
Wie still es sein kann, wie konzentriert die Lektüre, wie klein und fein die Notizschrift wird. Die Regeln zu respektieren – Briefe nicht einmal fotokopieren zu dürfen, geschweige denn ohne Genehmigung der Erben wörtlich zu zitieren – gibt der Lektüre eine Intimität. Der Lesesaal als Schutzraum, flankiert von zwei durch Glas abgetrennten Arbeitsräumen der Archivare. Aber wenn die Gralshüter so nett sind, geht das klar. Und damit der kreativen Verarbeitung freie Bahn!
Erst habe ich archiviert, dann nutze ich ein Archiv. Widersinnig? Es ist nie zu spät.
Niemand konnte übrigens bisher über die Drei plus Dora berichten und ihr Zusammenwirken. Vielleicht wird das niemals möglich sein. Dann errichtet halt erst einmal drei, vier Denkmäler!
23.Okt. – 6. Nov. 2017
Aktualisierung 2.5.2019
In der Ausgabe vom 9.Februar 2019 veröffentlichte die Berliner Zeitung einen Vorabdruck aus Maxim Leo’s (André Fränkel) Buch „Wo wir zuhause sind – Die Geschichte meiner verschwundenen Familie“(KiWi Verlag 2019)
Er erzählt darin sehr intim über die Beziehung der Eltern, über Arbeit und Experimente des Vaters und das furchtbare Jahr 1933.
20.11.2024
Der LINK funktioniert 2024 nicht mehr. Das hatte ich bereits befürchtet und png wie pdf hergestellt. Der folgende Text ist ein Auszug aus Maxim Leos neuem Buch „Wo wir zu Hause sind – Die Geschichte meiner verschwundenen Familie“, das am 14. Februar bei Kiepenheuer & Witsch erschienen ist:
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Vorabdruck aus Maxim Leos Buch „Wo wir zu Hause sind“ Berliner Zeitung 09.02.19
Auf Fotos sieht Hilde selten zufrieden aus. Meistens hat sie die Lippen zu einer Art Schmollmund zusammengepresst. Mit Mitte 20 trägt sie die Haare kurz und gescheitelt, sie mag Hosenanzüge, wirkt spröde, androgyn, ein wenig dramatisch, auf jeden Fall interessant. Sie verlässt die Schule ohne Abitur, weil ihre Leistungen, vor allem in Mathematik, hoffnungslos schlecht sind. Sie hat, so erklärt sie ihrer Mutter, keine Lust auf Arithmetik und irgendwelche Naturgesetze. Hilde will Schauspielerin werden, am liebsten in einem Kabarett. Sie bewundert Marlene Dietrich, die mit schwarzem Zylinder, Frack und Zigarettenspitze verruchte Lieder singt. Hilde mag die grelle Theaterwelt, weil sie so anders ist als das, was sie kennt.
Hildes Mutter, zwar verarmt, aber aus gutem Hause und mit einer klaren Vorstellung davon, was sich für eine junge Dame gehört, lässt Hilde eine Ausbildung zur Säuglings-krankenschwester im Pestalozzi-Fröbel-Haus in Berlin-Schöneberg absolvieren. „Wenn du akademisch nicht interessiert bist, dann bleibt dir nur, einen ordentlichen Beruf zu erlernen, der den Menschen von Nutzen ist“, lässt die Mutter ihre Tochter wissen. Eine größere Bestrafung hätte es für Hilde wohl nicht geben können, sie findet Kleinkinder furchtbar, beim Anblick von Blut wird ihr schlecht.
Hilde folgt den Weisungen der Mutter, zieht ins Schwesternpensionat, beschließt dort jedoch recht bald, ihre Ausbildung selbst in die Hand zu nehmen. Nachts steigt sie aus dem Fenster im zweiten Stock, klettert auf einem Mauersims bis zur Regenrinne, die sie hinunterrutscht. So heimlich wie sie das Pensionat verlässt, geht sie anschließend ins Theater.
Erst als sie einen Job hat, erzählt sie der Mutter von ihrem Doppelleben
Hilde schmuggelt sich durch Bühneneingänge und Schauspielerkantinen, sie kennt irgendwann die Garderobengänge und Kulissenräume, den Kleiderfundus und den Schnürboden. Sie taucht ein in die wilde, aufregende Stadt, die nach Alkohol, Parfüm und Ruhm duftet. Sie taucht ein in die schummrige Welt der Künstler und Komparsen, der Magier, Tänzer und Feuerspucker. Sie sieht klassische Stücke im Deutschen Theater und in der Volksbühne und leichte Stücke in den Kabaretttheatern rund um die Friedrichstraße. Sie beobachtet die Schauspieler, studiert ihre Atmung, ihre Pausen, ihre starken und schwachen Momente.
Auch hinter der Bühne kennt sie sich bald gut aus, Hilde bekommt erste kleine Jobs in der Ausstattung und als Kostümassistentin. Irgendwann verdient sie genug, um sich ein Zimmer in der Rosenthaler Straße, nicht weit vom Hackeschen Markt, leisten zu können.
Sie verlässt das Schwesternwohnheim, ohne der Mutter etwas zu sagen. Erst als sie ein Jahr später ihre erste Rolle bekommt, wagt sie es, der Familie von ihrem Doppelleben zu erzählen. Die Mutter trägt es mit Fassung, sie verspürt wohl sogar einige Sympathie für Hildes Interessen, die auch mal ihre eigenen waren. Schließlich hat Katerina als junge Frau am Berliner Konservatorium studiert, hat dort gesungen und Klavier gespielt und galt als äußerst talentiert. Diese Zeit ging jäh zu Ende, als sie ihrem Erich in die schlesische Provinz folgte, wo dieser seinen ersten Posten als Gymnasiallehrer bekam. Auf vieles musste sie dort verzichten, die Trennung von der Musik, sagte sie später immer wieder, sei ihr am allerschwersten gefallen.
Hilde spielt im Kabarett „Die Wespen“, einer Truppe ohne feste Spielstätte, die oft im Restaurant „Hacke Bär“ in der Großen Frankfurter Straße 68 gastiert, oder im Mercedes-Palast in Neukölln. Die Wespen verstehen sich als proletarisches Kabarett und treten vor allem in den Arbeitervierteln auf. Die Truppe gilt als die radikalste und beste der Weimarer Republik, Künstler wie Erich Mühsam, Ernst Busch und Hanns Eisler schreiben, spielen und komponieren für das Ensemble. Hilde kommt hier zum ersten Mal mit linken politischen Ideen in Berührung, wobei es vor allem die menschlichen Tragödien und Abgründe sind, die sie faszinieren.
Im Winter 1929 verliert Hilde auf einmal ihre Stimme. Sie konsultiert verschiedene Ärzte, aber keiner kann die Ursache ihres plötzlichen Verstummens erklären. Einer der Mediziner kommt auf die Idee, sie zum Nervenarzt und Psychologen Dr. Fritz Fränkel zu schicken, der offenbar in dem Ruf steht, schon so manchem Künstler aus einer körperlichen Unpässlichkeit geholfen zu haben. Nach ein paar Besuchen bei Fränkel kann Hilde wieder sprechen, und er fragt, ob sie nun, da sie ja keine Patientin mehr sei, nicht mal zusammen ins Theater gehen wollen.
Eigentlich passen die beiden überhaupt nicht zusammen
„So haben sich meine Eltern kennengelernt“, sagt Onkel André, zu dem ich gefahren bin, um mir von Hilde erzählen zu lassen. André sitzt in einem schweren Ohrensessel im Wohnzimmer seines Hauses im Londoner Stadtteil Camden. Er hat einen zerzausten grauen Bart und lustige Augen, die ständig in Bewegung sind. Manchmal trägt er eine russische Schapka aus schwarzem Fell und sieht aus wie Lenin kurz vor dem Ausbruch der Oktoberrevolution. Für mich war Onkel André schon immer sehr alt. Und sehr besonders. Das Erstaunlichste an ihm sind seine Freundlichkeit und die beschwingte Neugier, mit der er die Welt betrachtet. Er ist an allem interessiert, will alles verstehen. Er sagt, Hilde sei sehr beeindruckt gewesen von Fritz Fränkel, nicht nur, weil er so klug und kultiviert gewesen sei, sondern weil er offenbar die Gabe hatte, den Menschen in die Seele zu schauen, sie zu fühlen, sie zu verstehen.
Fränkel ist ein schmaler jüdischer Intellektueller mit einem wild wachsenden Haarkranz und einem Blick, der traurig und spöttisch zugleich ist. Er ist 15 Jahre älter als Hilde, wohnt noch immer mit seiner Mutter und seiner Schwester zusammen, die dem zuweilen verträumten Doktor durch den praktischen Teil des Lebens helfen. Eigentlich passen die beiden überhaupt nicht zusammen. Hilde ist zu jung und zu unerfahren, um Fränkel eine Partnerin zu sein. Aber wahrscheinlich hat er in ihr schon all das gesehen, was sie selbst erst viel später entdecken wird: ihre Kraft, ihre Entschiedenheit, ihren sicheren Instinkt.
Den beiden bleibt kaum Zeit, sich kennenzulernen, da ist Hilde schon schwanger, und es muss geheiratet werden.
Als Hilde ein Kind bekommt, entspannt sich die Stimmung
Hilde zieht zu den Fränkels in die Wilmersdorfer Kaiserallee 207. Sie wohnen im ersten Stock, in einer vornehmen Acht-Zimmer-Etage, wo sich auch Fränkels Praxis befindet. Hilde hat große Schwierigkeiten, ihren Platz in dieser Familie zu finden. Fränkels Mutter führt den Haushalt, die Schwester kocht, das Dienstmädchen Gerda putzt und wäscht. Hilde hat jetzt zwar einen Mann, fühlt sich aber trotzdem nur als geduldeter Gast. Von einem Zuhause, gar von ihrem Zuhause kann keine Rede sein.
Hinzu kommt Hildes Beruf, der von Fränkels Familie nicht geschätzt wird. Abends steht sie auf der Bühne, wenn sie in der Nacht nach Hause kommt, schlafen die anderen schon. Fränkels Mutter lässt Hilde spüren, dass sie nicht die Richtige für ihren Jungen ist. Erst als André geboren wird, entspannt sich die Stimmung im Hause etwas, weil die Großmutter, vom Enkel bezaubert, zuweilen die Abneigung gegen die Schwiegertochter vergisst.
Fritz Fränkel selbst ist kaum da, weil er ohne Unterlass arbeitet. Neben seiner Nervenarztpraxis in Wilmersdorf hat er im Urban-Krankenhaus eine psychosoziale Notfallstelle eingerichtet, die vor allem von Alkoholikern und Drogensüchtigen besucht wird, die er unentgeltlich behandelt. Berlin ist in diesen Jahren überschwemmt von Drogen, in den Klubs und Bars wird in rauen Mengen Kokain geschnupft und Morphium gespritzt.
„Das ist mein kleiner Sozialismus“
Fränkel gehört zu einer Handvoll Ärzten, die sich mit der Wirkung von Drogen auskennen und Entziehungskuren anbieten. Außerdem findet er es skandalös, wie mit mittellosen Patienten umgegangen wird. Gesundheit dürfe keine Frage des Geldbeutels sein, sagt er immer wieder. Deshalb nehme er absurd hohe Honorare von frustrierten Industriellengattinnen, die ihre Traurigkeit mit Likör vertrieben, und fast nichts von den armen Kerlen, die sich nachts im Hauseingang eine dreckige Nadel in die Vene stießen. „Das ist mein kleiner Sozialismus“, sagt Fränkel.
Darüber reden Hilde und Fränkel oft, über die Gerechtigkeit, und ob es wirklich so gut ist, eine sozialistische Gesellschaft zu errichten, wie Fränkel es sich wünscht. Hilde sagt, irgendwer müsse doch das Geld verdienen, um es den anderen zu geben. Sie glaubt mehr an christliche Mildtätigkeit als an Gleichheit. Außerdem hat sie in ihrer Kindheit sehr unter der Armut gelitten, die mit der Inflationskrise in ihre Familie kam. Onkel André sagt, dieses Gefühl, alles zu verlieren, habe seine Mutter tief geprägt. Schon damals habe sie beschlossen, eines Tages reich zu werden, um sich und ihrer Familie die Freiheit und Sorglosigkeit zurückzuschenken, die sie selbst so früh verlor.
Fränkels politische Haltung hat viel mit dem Ersten Weltkrieg zu tun, in dem er als Bataillonsarzt Schwerverwundete in Königsberg betreute. Er erzählt Hilde von den Amputationen, die er ohne Narkosemittel vornehmen musste, von den Blutlachen, die in den Sanitätszelten standen, von der Luft, die nach Eiter und Tod stank, vom letzten Wimmern der Sterbenden. Wer solche Kriege künftig verhindern wolle, sagt Fränkel, der müsse die Gesellschaft verändern. Sie nennt ihn deshalb spöttisch „meinen großen Arbeiterführer“, was Fränkel überhaupt nicht lustig findet.
Haschisch rauchen mit Walter Benjamin
Noch während des Krieges tritt Fränkel dem Spartakusbund bei und ist Delegierter von Königsberg, als am 30. Dezember 1918 in Berlin im Festsaal des Preußischen Landtags die KPD gegründet wird. Fränkel ist 26 und sitzt neben Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht, Wilhelm Pieck und Hermann Duncker, als der Kommunismus in Deutschland offiziell zu existieren beginnt. Hilde hat einen Revolutionär aus bürgerlichem Hause geheiratet.
Fränkel studiert die Wirkung von Drogen nicht nur an seinen Patienten, sondern auch an sich selbst, an Freunden und Kollegen. Tagsüber behandelt er in seiner Praxis im weißen Kittel, nachts experimentiert er am selben Ort mit Morphium, Haschisch und Kokain. Oft bittet er seinen Freund, den Schriftsteller und Philosophen Walter Benjamin, als Versuchsperson in sein Kabinett.
Die beiden kennen sich von der Universität, Benjamin interessiert sich schon früh für Fränkels Arbeiten über das menschliche Suchtverhalten, Fränkel ist inspiriert von Benjamins philosophischem Werk. Die beiden verbringen ganze Wochenenden auf den Kaffeehausterrassen am Kurfüstendamm. Sie trinken Mokka und Weißwein, rauchen schwarze filterlose Zigaretten und diskutieren. Für Fränkel sind es Stunden vollkommenen Glücks, die oft noch ihre Verlängerung in seinem Arbeitszimmer finden, wo man es sich in mächtigen Ledersesseln bequem macht und von Fränkel bereits vorbereitete „Haschisch-Zigaretten“ raucht.
Eines Morgens steht die SA vor der Tür
In einer milden Sommernacht wird Hilde von lautem Lachen aus dem Hof hinter ihrem Haus geweckt. Sie sieht, wie ihr Mann und Walter Benjamin halb nackt an der Wasserpumpe stehen und sich gegenseitig nass spritzen. Fränkel wiehert wie ein Pferd und umtänzelt den etwas ungelenken Benjamin, der schließlich vor Erschöpfung in den Matsch fällt und dort prustend liegen bleibt, bis Hilde in den Hof eilt und die beiden Männer zur Vernunft ruft. Hilde betrachtet dieses seltsame Treiben ihres Mannes mit Befrem-den. Sie ist fasziniert von ihm und wohl auch amüsiert, und gleichzeitig spürt sie, dass sie ihn nicht wirklich begreifen kann.
Hilde wird später sagen, sie wäre wahrscheinlich schon früher gegangen, wenn nicht auf einmal die große Geschichte in ihr kleines Leben gedrungen wäre. Am frühen Morgen des 21. März 1933 hämmern Fäuste an die Wohnungstür der Fränkels in der Kaiserallee. Hilde schreckt aus dem Bett, eilt im Morgenmantel zur Tür, vor der mehrere uniformierte SA-Männer stehen, die sie rüde zur Seite stoßen. Die Männer gehen durch die Wohnung, reißen Türen und Schränke auf. Sie suchen nach Dokumenten, Geld und Wertsachen. In Fränkels Praxisräumen zerren sie die Akten aus den Schubladen, werfen alles in Kisten.
Fritz Fränkel versucht die Männer zur Rede zu stellen, verlangt, einen richterlichen Beschluss zu sehen. Einer der SA-Leute verpasst ihm wortlos einen Faustschlag ins Gesicht, dann geht die Durchsuchung weiter. Auf der Straße vor dem Haus warten zwei Mannschaftswagen. Die SA-Leute, die zur berüchtigten Feldpolizei des Hauptmanns Fritsch gehören, schleppen die Kisten mit den beschlagnahmten Sachen nach draußen. Zum Schluss wird auch Fritz Fränkel abgeführt und auf den Wagen gestoßen. Sie bringen ihn in eine SA-Kaserne in der General-Pape-Straße in Berlin-Schöneberg. Dort wird er mit Peitschen und Gummiknüppeln geschlagen, dann verhört, dann wieder geschlagen.
Fränkels Urenkelin lebt heute wieder in Berlin
Die Kellerräume, in denen Fränkel zusammen mit vielen anderen zwei Tage lang gequält wurde, kann man heute besichtigen. Vor ein paar Jahren ist dort eine Gedenkstätte eingerichtet worden. Ich fahre zusammen mit meiner Cousine Charlotte aus London, die jetzt bei mir um die Ecke wohnt, in die General-Pape-Straße. Sie will den Ort sehen, an dem ihr Urgroßvater misshandelt und gedemütigt wurde. Sie hat Angst, dort allein hinzugehen. Es ist ein schöner Frühlingstag, die Sonne erwärmt die klare Luft schon ein wenig. Wir kommen an dem roten Klinkerbau an und steigen in den Keller hinab. Nach jeder Stufe wird die Luft kühler und feuchter.
Die Kellergänge sind dunkel, die Schritte hallen, von den Backsteinwänden blättert der Kalk, hinter schmalen, vergitterten Fenstern lässt sich das Tageslicht erahnen. Charlotte lässt ihre Hand über das Mauerwerk gleiten, sie betrachtet die in die Wände geritzten Inschriften der Häftlinge. Meist sind es Namen und die Anzahl der Tage, die sie hier verbracht haben. Hinter manche Namen sind Kreuze geritzt, was wohl bedeutet, dass sie hier verstorben sind.
Wir flüstern, obwohl wir alleine sind. Wir versuchen uns vorzustellen, was für ein Schock es für Fritz Fränkel gewesen sein muss, hier anzukommen, den Hass und die Schläge zu spüren, die Schreie der anderen zu hören, sich auf einmal völlig machtlos zu fühlen. So plötzlich ist das alles passiert, eben noch schlief er in seiner Wilmersdorfer Wohnung, auf einmal ist er hier, umgeben von brutalen Schindern, die es genießen, einen wie ihn zu erniedrigen. Einen Doktor, einen Juden, einen Kommunisten.Von einem Moment auf den anderen gibt es keine Sicherheit und keine Würde mehr, ist alles, was man zu sein glaubte, zu einem angstgeschüttelten Häufchen Elend geworden.
Fränkel glaubt offenbar noch an den Rechtsstaat
In einem der Räume hängt sein Foto. Charlotte stellt erstaunt fest, wie ähnlich dieser Mann ihr sieht. Die dichten Augenbrauen, das flache Kinn. Charlotte ist 22 Jahre alt, ein blasses Mädchen mit einer zu großen Brille, das in diesem Moment wie ein jugendlicher Geist ihres Urgroßvaters erscheint. Unter Fränkels Foto steht eine Vitrine, in der fünf maschinenbeschriebene A4-Blätter liegen. Es ist sein Bericht über die Zeit in der SA-Kaserne, geschrieben am 27. März 1933, kurz nach seiner Ankunft in der Schweiz. Fränkel hat diesen Bericht der deutschen Gesandtschaft in Bern übergeben, mit der Bitte, ihn an die zuständigen Stellen in Berlin weiterzuleiten.
Fränkel schreibt:
Ich bin der Sohn des Kaufmanns Bernhardt Fränkel. Eltern und Großeltern waren deutsche Staatsangehörige, in Berlin ansässig. Meine Frau, Hilde, geb. Leo, Tochter des 1915 im Felde gefallenen Hauptmanns der Reserve, Erich Leo, ist seit 1930 mit mir verheiratet. Ich habe einen zweijährigen Sohn. Am 21. März wurde ich von einer Berliner SA-Truppe verhaftet. In der SA-Kaserne in der General-Pape-Straße wurde ich auf eine Holzbank gelegt und der entblößte Rücken so geschlagen, daß das Hemd später klebte. Dann wurde mir, wie auch den anderen Gefangenen, Anzug und Mantel weggenommen.Ich wurde in eine verdreckte Joppe und zerrissene Hose gesteckt (Ausspruch eines SA-Mannes: Wir haben den Lokus damit gereinigt) und in einem Keller mit ca 25 anderen Gefangenen untergebracht.Wir litten alle sehr unter der Kälte. Ich mußte, da die zwei Betten für Schwerverletzte reserviert waren, auf dem Steinboden liegen. Die Mißhandlungen wiederholten sich die ganze Nacht über, man goß mir, während ich einen anderen, fast zu Tode geprügelten Arzt (Dr. Philippsohn aus Biesdorf) untersuchen mußte, einen Eimer Wasser über den Kopf. Ich war dauernd wüsten Beschimpfungen ausgesetzt, mußte z. B. ständig erklären: Ich bin ein stinkiger Jude.Abgesehen von dem persönlichen Leid wirkte schwer auf mich, daß ich die fortgesetzten Mißhandlungen von anderen mir unbekannten Menschen mitansehen mußte. Es wurde einem Gefangenen die Haut unter den Fußsohlen mit Feuer abgebrannt, zuerst mit der Zigarette, dann mit Streichhölzern, dann mit einer Papierfackel. (Fußsohle und zwischen den Zehen). Dann wurde derselbe in eine Art von Schrank gepreßt, in dem er beinahe erstickte. Während der Schreie der Gepeinigten wurde im ersten Stock gesungen und Harmonika gespielt. Am nächsten Tag mußte ich trotz heftigster Schmerzen ca. eine Stunde exerzieren (in einem Kellergang) Laufschritt, Kniebeugen, Wendungen.Meine Entlassung am 23. März Nachmittags erfolgte durch persönliche Einwirkung von mir behandelter Nationalsozialisten. Bei der Entlassung wurde mir gedroht, falls ich meine Praxis wieder aufnehmen würde, würde ich am nächsten Tag verschwinden und nicht wieder zum Vorschein kommen. Ferner mußte ich mich schriftlich verpflichten, in kürzester Zeit Deutschland zu verlassen und nicht wiederzukehren (auf dem Schein steht endgültig).Ich erkläre an Eidesstatt, daß die vorstehenden Angaben der reinen Wahrheit entsprechen. Dr. Fritz Fränkel
Was, wenn Fränkel Deutschland nicht verlassen hätte?
Charlotte liest, als sie fertig ist, hat sie Tränen in den Augen. Sie sagt, über die Geschichte ihres Urgroßvaters sei bei ihr zu Hause kaum gesprochen worden, ebenso wenig über André, ihren Großvater, der so früh aus seiner behüteten Kindheit gerissen wurde. Es war kein Tabu, sagt sie, es war nicht verboten, Fragen zu stellen, aber irgendwie sei auch klar gewesen, dass es besser war, es nicht zu tun. Charlotte erzählt von ihrem Vater, Andrés Sohn, der den Fernseher ausschaltete, sobald etwas über das Dritte Reich berichtet wurde. Sie denkt, das alles sei wohl zu schmerzhaft und verstörend für ihren Vater gewesen.
„Ich weiß, dass er sich als Kind manchmal vorgestellt hat, die Familie hätte Deutschland nicht verlassen und er wäre in einem Lager groß geworden.“ Ich frage, wer ihr das erzählt hat. Charlotte überlegt, schließt kurz die Augen, so als horchte sie tief in sich hinein. „Ich weiß es nicht mehr“, sagt sie. Aber die Vorstellung von diesem Kind im Lager, die sei ihr immer sehr präsent gewesen.
Ich frage nicht weiter nach, ich weiß, dass es Bilder und Gefühle gibt, die von einer Generation zur nächsten rutschen. Es kann sein, dass diese Vorstellung des Kindes im Lager vor allem ihrer eigenen Angst entspringt. Einer Angst, die irgendwo in ihr sitzt. Ich selbst habe auch solche Bilder in mir.
Fränkel kommt durch Hildes Hilfe frei
Langsam wird uns kalt in dem Kellergewölbe, wir steigen wieder nach oben in den Berliner Frühling. Mir geht der Bericht nicht aus dem Kopf, den Fritz Fränkel nach seiner Ausreise an die Deutsche Gesandtschaft geschickt hat. Es klingt so, als hoffte er, seine Verhaftung und Misshandlung würde sich als ein Missverständnis erweisen. Fränkel glaubte offenbar immer noch an den deutschen Rechtsstaat. Er konnte sich einfach nicht vorstellen, dass seine Vertreibung gewollt war.
Charlotte will noch wissen, wie Hilde es geschafft hat, ihren Fritz aus der SA-Kaserne zu befreien. Ich erzähle ihr, was Onkel André mir erzählt hat. Wie Hilde die Patienten von Fränkel abtelefonierte. Wie sie schließlich einen fand, der seine Verbindungen spielen ließ und Rudolf Diels einschaltete, der zu dieser Zeit Chef der politischen Polizei war und später der erste Gestapochef werden sollte. Diels ließ Hilde ausrichten, sie könne ihren Mann zwei Tage später in der General-Pape-Straße abholen.
Aber so lange will Hilde nicht warten, sie zieht ihr schönstes Kostüm an, macht sich die Haare zurecht und lässt sich von ihrem Hausmädchen Grete einen Schönheitsfleck schminken. So präpariert fährt sie bereits am nächsten Morgen dorthin, lässt sich nicht abweisen an der Pforte, verlangt den Kommandanten zu sehen. Der bittet sie kurze Zeit später in sein Büro, ist ausgesprochen höflich und bietet Hilde eine Tasse Kaffee an, die sie mit den Worten ausschlägt, sie habe keine Zeit für Kaffee, solange ihr Mann nicht frei sei. Der SA-Kommandant, offensichtlich beeindruckt von Hildes Vehemenz, erteilt den Befehl, Fränkel aus dem Keller zu holen.
Zwei Tage später flieht die Familie Fränkel
Und dann sieht Hilde ihren ramponierten Fritz, der von zwei SA-Männern die Kellertreppe hochgehievt wird. Sie sieht sein zugeschwollenes Auge, die Zahnlücken, die Blut-flecken auf dem Rücken. Sie versucht, ihr Erschrecken zu verbergen, reicht ihm wortlos einen mitgebrachten Anzug. Er hakt sich bei ihr unter, und sie verlassen die Kaserne. Hilde will schneller gehen, drängt Fränkel zur Eile, weil sie Angst hat, der Kommandant könnte es sich anders überlegen. Aber Fränkel kann nicht schneller, und er will auch nicht. „Tun wir so, als wäre es ein gewöhnlicher Sonntagsspaziergang“, sagt er zu Hilde, und sie verlassen, so würdig es eben geht, das Gelände.
Zwei Tage später steht eine kleine Menschentraube am Ferngleis zwei des Bahnhofs Zoo. Etliche Freunde und Kollegen und natürlich auch Verwandte sind gekommen, um Hilde, Fritz und ihren Sohn zu verabschieden. (LINK) Hildes Mutter hat einen Picknickkorb vorbereitet, der kleine André bekommt eine Tafel Schokolade in die Tasche gesteckt. Allen ist klar, dass es so schnell kein Wiedersehen geben wird. Die Erklärung, die Fränkel vor seiner Haftentlassung unterschreiben musste, ist unmissverständlich, er darf keinen deutschen Boden mehr betreten. Dabei weiß er noch nicht mal, was ihm eigentlich vorgeworfen wird.
Erst Jahre später, in Mexiko, wird er von der Liste erfahren, auf der die Namen aller KPD-Gründungsmitglieder vermerkt waren. Keiner, der auf dieser Liste stand, durfte in Deutschland bleiben. Die wenigsten haben das Nazireich überlebt.
Der Zug verlässt schnaufend und dampfend den Bahnhof, Hilde wirft einen letzten Blick auf ihre Stadt. Sie sieht die Kantstraße mit ihren Läden und Terrassen vorübergleiten, das Theater des Westens, diesen wilhelminischen Protzkasten, in dem auch sie mal gespielt hat, wenn auch nur auf der kleinen Bühne des Tingel-Tangel-Theaters im Souterrain des Hauses.
Seit Fränkels überraschender Verhaftung hatte Hilde kaum Zeit, darüber nachzudenken, was gerade mit ihnen geschieht. Sie war so beschäftigt damit, ihren Mann zu retten, ihren Sohn zu beruhigen, den Hausstand aufzulösen, das Nötigste zusammenzupacken, letzte Gespräche zu führen. Erst jetzt, als sie in diesem Zug sitzt, als sie nichts mehr tun kann, bricht die Verzweiflung über sie herein. Zum Weinen ist sie zu müde, sie sitzt stumm da und fühlt die Leere immer größer werden.
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„… zauberlacht Unlust in blaue Heiterkeit“
Sucht und Kunst im 19. und frühen 20. Jahrhundert
ISBN: 978-3-7065-5311-7
Auflage: 1. Auflage
592 Seiten
23.4 cm x 15.6 cm
Sehr geehrte Frau Thumser-Woehs,
ich war verreist und antworte erst heute. Ihr Hinweis erscheint mir sehr interessant; ich vertage bloß die Lektüre. Ich hoffe, es ist in Ihrem Sinne, wenn ich meiner knappen Antwort die ‚Produktbeschreibungen‘ von Amazon anfüge.
„Drogenkonsum und Kunst scheinen seit jeher in einem engen Verhältnis zueinander zu stehen. Schon um die Jahrhundertwende entwickelte sich die Drogensucht zu einem sich großflächig und rasch ausbreitenden Phänomen, das besonders auf die Künstlerszene großen Einfluss hatte. Kunstschaffende wie Klaus Mann, Walter Benjamin oder Annemarie Schwarzenbach konsumierten etwa regelmäßig bewusstseinserweiternde Substanzen. Aber wie ist dieses Verhältnis zu erklären? Benötigten diese KünstlerInnen Drogen, um erfolgreich schaffen zu können? Oder war die Drogensucht vielmehr eine Reaktion auf berufliche An- und Überforderungen? Diesen und weiteren Fragen geht Regina Thumser-Wöhs nach und widmet sich neben den historischen Entwicklungen rund um das Thema Drogensucht speziell den Biografien und Netzwerken süchtiger Künstlerinnen und Künstler. Zudem findet eine ganze Reihe von Werken, die unter Drogeneinfluss entstanden sind, Eingang in die Publikation. Studien Verlag 2017
Über die Autorin
Regina Thumser-Wöhs, Studium der Geschichte, Musikerziehung und Instrumental- und Gesangspädagogik ( in Salzburg. Ab 2000 Universitätsassistentin am Institut für Neuere Geschichte und Zeitgeschichte der Johannes Kepler Universität Linz, seit 2013 Assoz. Univ.-Professorin an der JKU. Forschungsschwerpunkte: Drogen/Sucht, Nationalsozialismus, Exil, Kulturpolitik, Kabarett, Theater-, Oper- u. Musikgeschichte, Biografieforschung, Frauen- und Geschlechterforschung.
Am 27.10.19 11:54, schrieb Friedrich Pfäfflin:
Lieber Herr von Graeve,
ja, so geht’s auch mir auf der Suche nach den Spuren von Menschen und Verhältnissen
– und Morgen schon werden wir mehr wissen, wenn wir Lesefrüchte zwischen die
gesetzten und gedruckten Buchstaben eintragen. Schönsten Dank, Ihr Friedrich Pfäfflin