Fritz W. Kramer – Kleine Sammlung Briefe 10.-20. 2015 – 2021

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Ich möchte dem zweiten Teil zur Orientierung eine Bilanz  der aktuellen Lektüre voranstellen.  (LINK  zum 1. Teil)         19.1.2023

Fritz Kramer hat mich auf seine Art ernst genommen und als Außenstehenden für sich nützen können. Das haben mir die nachwachsenden Generationen in den einschlägigen Institutionen selten gewährt.  Ich empfand es als Erfolg, gerade von ihm in meinen eigenen Absichten und Zielen verstanden und akzeptiert zu werden.

Die unaufhebbare Distanz war dazu notwendig. Fritz Kramer wurde nicht mein Vorbild. Er konnte das – wie Andeutungen seiner Freunde bestätigen – auch nicht sein. Die Interessen, Neigungen und die Bereiche der Qualifikation waren zu verschieden.

Wie er als akademischer Kunstpädagoge arbeitete,  wird  mir wohl ein Geheimnis bleiben, obwohl ich selber Lehrer war. Seine Würdigungen von Kunstschülern, soweit mir bekannt, schienen mir, typisch für Kataloge, blass und allzu empathisch. Und ich fragte mich wiederholt, ob er etwa meine Äußerungen mit derselben pädagogischen Nachsicht kommentierte.

Die Treffen mit ihm 2017 und 2018 im Cafe waren gut,  aber er schien auf dem Rückzug. Gegenüber dem Ungeist des „Humboldt-Forums“ war er mir zu defensiv. Seine Begeisterung für die performative Poesie der ‚Südlichen Nuba’ und der ihn immer mehr beherrschende Traum, sich in den ‚Songs’ der Aborigenes  zu verlieren, erreichten mich kaum. Fremd war mir schon seine jugendliche Begeisterung für die altdeutschen Epen gewesen. Also ein schleichender Abschied. Wohl deshalb ist mir diese ‘Trauerarbeit’ wichtig.

Ich bin gespannt, ob jemand aus seinen Kreisen darauf eingeht. Die mir zugegangenen ‘Trauerreden’ waren informativ und gaben zu denken; und sie imponierten als persönliche Zeugnisse.

Hier geht  es mir  vor allem um die Bewahrung von Fritz Kramers  ‘O-Tönen’ auf den durch Impulse aktivierten Feldern.

 

Briefe, Emails und diverse Anhänge. 2015 bis 2021

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„Kunst und Ritual“ ausschließlich an Fachkollegen – Ethnographisches Archiv des Weltliteratur bzw. der performativen Künste – Befürchtung – Hinweis auf neuere Arbeiten zur Kunst in Katalogen – „Maori-Porträts“ von Gottfried Lindauer in der Alten Nationalgalerie

Drei Malerporträts (bisher in Ausdrucken unsichtbar):

Kailiang Wang  Fritz W.Kramer-Der Maler Kailiang Yang in Hamburg und Jinan.pdf

Misa Ogasawara, Galerie Vera Munro. Fritz W.Kramer-über ein Bild von Miwa Ogasawara.pdf

Fritz W.Kramer-Klaus Hartmanns „Tanzania Paintings“doc.      Klaus Hartmann.eu *1967  

 

11

(Der einzige Abdruck ist  momentan verlegt)

Marx-Kramer 16. 1. 2016  …….. Die erste Mail, weil es doch bequemer sei –  Zum Nuba-Buch: er  hat die Haltung der Autoren zurecht gerückt (jedenfalls nicht ‘romantisch’). Ich habe die Rezension 2022 revidiert (LINK)

 

12

 Josef – Franz Thiel “Jahre im Kongo” (LINK) –  Notiz zum Humboldtforum

Vielleicht hätte ich mich längst für Thiels Jahre im Kongo bedanken sollen. Ich wollte aber warten, bis ich wenigstens einen teil gelesen habe. Soweit bin ich jetzt  – und somit meinen herzlichen Dank für dieses so wohltuend bescheidene liebenswerte Buch!

Umseitig ein paar Thesen zum Sammeln und speziell zum Humboldtforum. Nicht zur Veröffentlichung bestimmt! Aber über einen Kommentar von Ihnen würde ich mich freuen. Herzlich Fritz Kramer.

Notiz Humboldtforum + Kommentar Gv. Nov.17.pdf

 

13

“Basis und Hochkultur” bedürfen breiter Ausführung  – “Afrika im Bode-Museum” (LINK zu meinem Blog) : “Vergleiche, positiv :”beide Seiten zeigen Kunst als Element des Rituals”

Bodemuseum Untergeschoss    27.10.2017.   Ohne Zweifel Ritualfiguren!

14

Mein Projekt “Duala  Boot” (1.1-1.3; LINK)

Marx-Kramer    7.5. 20

Lieber Herr v. Graeve, beim ersten Überfliegen Ihres Textes hat mich neben der beeindruckenden Vielfalt auch die entschiedene Aktualitätsverweigerung überzeugt. Ich hoffe bald zu ruhiger Lektüre zu kommen. Einstweilen grüßt Sie sehr herzlich…

 

15

“ad Cheri Samba” (LINK)   –  die Ausstellung  “Afrikanische Kunst aus der Sammlung Han Coray 1916-28” im VKM Zürich 1995, Kurator Miklós Szalay (LINK , siehe dort AUG./SEPT. 2020). –  “Elite-Kulturen, nicht notwendig die der Höfe”  –  “Giacomettis ‘Stehende’in afrikanischer Stimmung. Und Matisse!” (zum Blog: LINK)

Marx-Kramer 09.09.20

Lieber Herr von Graeve,

vielen Dank für Ihre Sendung. Ich freue mich jedes mal, von Ihnen zu hören (und zu sehen) zu bekommen. Die Objekte zur Coray Sammlung habe ich seiner Zeit, allein mit Szalay, gesehen, vor der Ausstellung, da der Katalog zur Ausstellung fertig sein sollte. Wissend, dass Baselitz und Co. dazu schreiben sollten, habe ich entschieden gegen die “künstlerische” Betrachtung angeschrieben. Von Cheri Samba war nicht die Rede. Den habe ich auch sonst nie kennengelernt. Johannes Fabian, einer der zwei Fachleute für populäre Malerei im Kongo, kennt ihn um so besser. Nach ihm, der ihn nicht schätzt, ist Cheri Samba zwar aus der populären Malerei hervorgegangen, dann aber gerissen und komplett in den internationalen Kunstmarkt eingestiegen. Das, so meine ich, betrifft auch Ihr Thema, seinen Bezug zur alten Skulptur. Populäre Maler im Kongo haben das, soweit ich weiß, nie zum Sujet genommen, weil es weder sie noch ihr Publikum interessiert. Die beiden Versionen des Selbstportraits, die Sie interpretieren, geben meines Erachtens nichts als gerissen gewählte Posen für seine Klientel wieder.

Szalay hat einen Tick mit Hoch- und Tiefkunst, den ich ihm nicht ausreden konnte. Allerdings trifft seine krude Unterscheidung einen Punkt, an dem ich schon lange laboriere: Die Existenz von Hochkulturen – Elitekulturen (nicht notwendig Höfe) – im soziologischen Sinn im alten Afrika, in “primitiven Kulturen” überhaupt. Ich war lange mit meinem Buch über Künstler aus Ostasien in Hamburg beschäftigt, das in diesem Herbst erscheint. Danach möchte ich über diese “Hochkulturen” schreiben. Sed vita brevis.

Wieso Giacomettis Stehende für Sie afrikanisch anmutet, hat sich mir nicht erschlossen. Das müssten Sie begründen.

Mit sehr herzlichen Grüßen und Wünschen für Ihre Sammlung   Ihr Fritz Kramer

 

16

Selbstkritik am Buch „Kunst im Ritual“ – Maler Wiegmann (LINK) – Hyun-Sook Song, Kailiang Yang (LINK s. oben) , Büttner, Richter  –   Kriegsfotograf  George Rodger “Unterwegs 1940-49” (Hatje Canz 2009)

Marx-Kramer   02.01.21

Lieber Herr v. Graeve,

Ihr Brief hat mich aufrichtig gefreut, weil ich mich darin verstanden fühle. Ethnologen, die das Buch gelesen haben, fehlt durchweg der Sinn für Kunst, während die Künstler zuerst nach den Bildern schauen, dann vielleicht den Text lesen, ohne beides zusammenzubringen. So bleiben nur die Gebildeten als Leser, aber nur Sie erweisen sich als Lehrer, der eben auch Sinn für den Aspekt der Lehre hat.

Ich stimme Ihnen zu, dass es mir in “Kunst im Ritual” nicht gelungen ist, einen fließenden Text herzustellen. Das Buch hat einfach kein klares Thema. Es verfranzt. Erst nachträglich ist mir klar geworden, dass ich nur die zweite Hälfte – über Landschaft – hätte behandeln sollen, aber viel ausführlicher, die erste Hälfte wäre nur in Exkursen einzufügen gewesen. Vielleicht schwinge ich mich doch noch zu einem zweiten Versuch auf.

Wiegmann kenne ich nur aus ihrem Blog, aber er wäre offenbar ein exzellentes Beispiel für Maler auf irritierendem Terrain.

Hyun-Sook Song ist im Kunstbetrieb gut platziert, ihre Brüsseler Galerie verkauft sie allerdings hauptsächlich in Ostasien. Kailiang Yang hat über Carlier und Gebauer in Berlin in wenigen Jahren sicher zwei, drei Millionen verdient, ohne je bekannt zu werden. es gibt eben doch genug Begüterte, die sich schlicht Bilder kaufen, die ihnen gefallen. Dann ist er allerdings nach China zurückgekehrt, in der Hoffnung, dort noch besser verkaufen zu können. Das ist ihm bis jetzt nicht gelungen. Alle übrigen in meinen Buch vorgestellten Maler verdienen mindestens genug, Richter und Büttner gewaltig, nur Winkler nicht, aber der ist Professor für Zeichnung in Kiel.

Rodger Unterwegs 127 Kao Feuer Kordofan 1949

Danke für den Tipp Rodger Unterwegs. Bestelle ich mir. Opus Magnum und Nuba und Latuka habe ich, zudem das ad Nuba wichtigste: The Village of the Nuba.

Mit den besten kleinen Wünschen   Ihr Fritz Kramer

 

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Anita Eckstaedt: „Sichtbar machen und Bildern Sprache geben“ (Psychosozial-Verlag 2019) “  – Stefan Exler, seine inszenierte Photographie, Jeff Wall  verwandt, aber..”

Marx-Kramer   05.01.21

Lieber Detlev v. Graeve,

inzwischen habe ich die Leseprobe zu Eckstaedts Sichtbar machen im Netz angeschaut. Mir ist das zu konventionell kunst-, kultur- und kreativitätsgläubig, der Ansatz für mich wenig attraktiv. Darin gibt es aber ein Kapitel über Stefan Exler, das mich sehr interessiert. Exler war unter meinen Hamburger Studenten der bei weitem intelligenteste, er las sehr schwierige Texte und konnte mit eigenen Worten darüber sprechen. Seine inszenierte Photographie, Jeff Wall verwandt, aber völlig eigenständig, zeugt von stupender Sorgfalt und ist in der Symbolik weit komplexer als niederländische Stillleben des 17. Jh. Schließlich musste er sich in psychotherapeutische Behandlung begeben und sucht jetzt nach einem Neuanfang. Als Mensch und als Künstler war er für mich ein Rätsel, das mich bis heute dann und wann beschäftigt. Nun möchte ich mir das Buch nicht kaufen – kein Platz im Regal, ich würde darin nur einige Seiten lesen. Darf ich Sie daher bitten, mir das Exlerkapitel – S.125-166 – analog photographiert zu mailen oder zu kopieren oder das ganze Buch für eine Woche zu leihen? Falls zu mühevoll, macht es nichts, ich würde mir anders helfen. Wenn Sie das Kapitel schon gelesen haben, würde mich Ihr Eindruck sehr interessieren. Das alles hat keine Eile.

Sehr herzlich.    Fritz Kramer

 

18

Interpretationen von Stefan Exlers Arrangements – Bruce Gilley (LINK)

Marx-Kramer   13.01.21

Lieber Detlev von Graeve,

zunächst sehr herzlichen Dank für die Eckstaedt-Photokopie. Ihrer Einschätzung stimme ich vollkommen zu, auch mir hat die Bildbeschreibung noch einiges klarer gemacht, nämlich die Verhältnisse der Menschen in Exlers Arrangements. Die Interpretation scheint mir dagegen die Folge eines Ticks, einer Gegenübertragung. Wenn man schon nach Generationen sucht, muss man sich klarmachen, dass E. 26 war, 1968 geboren, und ganz aus seiner Zeitmarke zu verstehen ist, d.h. er war Produkt nicht autoritärer, sondern antiautoritärer Erziehung. Das vermeintliche Chaos ist folglich kein Protest, keine Provokation, sondern, wenn man es überhaupt als Ausdruck einer Lebensweise verstehen will, der Wohlstandsverwahrlosung. Auch das halte ich aber für zu kurz gegriffen. Was nämlich wie ein Chaos wirkt, ist eine komplexe, kunstvolle Ordnung; der Fußboden ist trompe l’oeil-Malerei, für jedes Photo neu gemacht; die Objekte

Foto: Hessische Kulturstiftung   https://www.hkst.de/de/stipendiaten/stefan-exler/  Bildschirmfoto 2023-01-16 –

bilden eine Komposition, die Kandinsky gefallen hätte. Das Bild eines Chaos hätte ja auch nicht die Kraft, den Blick des Betrachters zu bannen. Selbst wenn man E. nicht kennt, kann man daraus folgern, dass er kein Chaot, sondern ein extrem ordentlicher, penibler Mensch ist. Tatsächlich ist ihm jede Art von Nachlässigkeit bei sich selbst unerträglich, und darin ist er gewiss kein charakteristisches Beispiel für seine Generation. Es mag allerdings sein, dass ihn das Motiv der Unordnung gerade deshalb herausgefordert hat. Dafür spräche, dass er viel später als psychische Krise eine Zeit der Verwahrlosung durchmachen musste. Ich werde versuchen, Kontakt mit ihm aufzunehmen, um diese Photos aus der Distanz von 25 Jahren noch einmal mit ihm durchzusprechen. Ich bin nämlich durchaus an psychoanalytischen Erkundungen von Kunst interessiert, zumal ich Ernst Kris sehr genau gelesen habe; und die Dialektik von Ordnung und Unordnung ist ein allgemeines, ein anthropologisches Thema (s. Mary Douglas). Eben insofern scheint mir Eckstaedts Analyse eine unglückliche Engführung auf autoritär / Nazi.

Vielen Dank auch für den Hinweis auf Gilley, den ich jetzt nur überflogen habe. Seine Beispiele sind wohl korrekt, aber die Linie, auf die er sie bringt, ist, zurückhaltend gesagt, unbedachte Polemik, mit Schaum vor dem Mund, darin seinen Kritikern gleich. Koloniale Verhältnisse sind so divers wie (un)menschliche Verhältnisse überhaupt.

Ich schaue jetzt regelmäßig in Ihren Blog.   Mit sehr herzlichen Grüßen Ihr Fritz Kramer

 

19

Stefan Exler und die Erfahrung subjektiver Entfremdung

Marx-Kramer 20.02.21

Lieber Detlev von Graeve,

inzwischen konnte ich ausgiebig mit Stefan Exler telefonieren. Ich fasse zusammen: Die Fotos entstanden aus einer Erfahrung der subjektiven Entfremdung. Zunächst wollte er Geschichten erfinden, um sich das Fremdgewordene anzueignen, schuf dann aber Bilder, die für viele, auch widersprüchliche Geschichten offen sein sollten, d.h. der Betrachter sollte angeregt werden, eine eigene Geschichte zu erfinden. Deswegen akzeptiert er die Deutung von Frau Eckstedt, eben als eine mögliche Lesart, nicht als allein gültige psychoanalytische Interpretation. Zugleich ist es in seinem Sinn, dass diese Lesart Widerspruch – also auch die Erfindung anderer Geschichten – provoziert. Weshalb er die Situation in der doch ungewöhnlichen Aufsicht zeigt, wusste er selbst nicht. Ich schlug vor, die Aufsicht ebenfalls auf subjektive Entfremdung zurückzuführen: ein Blick auf sich selbst und seine Figuren von außen, in einer für Menschen eigentlich unmöglichen Perspektive. Das leuchtete uns beiden ein. Leider ist seine Arbeit zwar von klugen Köpfen wie Ammann hoch geschätzt und gefördert worden, war finanziell aber ein schlimmer Flop. Der Kunstmarkt folgt eben sehr eigentümlichen Regeln.

Mit herzlichen Grüßen   Fritz Kramer

 

20

Ostergruß – zweite BioNtech-Impfung – Leidenschaft für die „Songs of central Australia“

Marx-Kramer   05.04.21

Lieber Detlev von Graeve,

auch Ihnen einen lieben Ostergruß in Zeiten der großen Seuche. Überraschenderweise erfreue ich mich in der partiellen Seklusion meiner bloßen Existenz, die zweite BioNtech-Impfung habe ich aber auch schon hinter mir.

Ihre Duala-Bootsmodell-Recherchen haben mich beeindruckt. Es scheint doch nichts über die Leidenschaft des Sammlers zu gehen (so fremd sie mir selbst ist)! Falls Sie meine Leidenschaft interessiert, können Sie den Anhang lesen, geschrieben für eine Festschrift für Erhard Schüttpelz.      Sehr herzlich.  Fritz Kramer

 

Fritz W. Kramer     Notiz zu einer Lektüre: Songs of central Australia

1.

Man könnte T.G.H. Strehlows Monumentalwerk für ein bloßes Gerücht halten. In einschlägigen Kreisen ist es von Legenden umrankt und doch so gut wie ungelesen. Einmal ist es, obwohl keine bibliophile Kostbarkeit, sondern 1971 in Sydney in schlichter Form erschienen, eine Rarität. Wegen der Flut von Sonderzeichen, die für den Druck geschnitten werden mußten, war die Herstellung sehr teuer, die Auflage klein, später eine Digitalisierung kaum möglich. Zwei oder drei Antiquariate bieten es an, von 4000 Dollar aufwärts. Nach langen Mühen gelang es mir, die Photokopie eines Exemplars aufzutreiben, das sich in der Gesamthochschulbibliothek Wuppertal befindet. Zum anderen ist die Lektüre eine Aufgabe, ich jedenfalls habe für die 775 Seiten mehr als ein von sonstigen Verpflichtungen freies halbes Jahr gebraucht. Strehlow setzt voraus, daß der Leser die Ethnographien von Spencer und Gillen und eigentlich auch die seines Vaters Carl Strehlow gründlich kennt; daß er Sinn für den Klang von Versen hat und sich, wenn er schon nicht Aranda spricht, mit Grammatik und Phonologie dieser Sprache vertraut macht. Zudem sollte man, sonderbar genug, die altenglische und altskandinavische Dichtung schätzen.

Theo Strehlow brachte für sein Werk Voraussetzungen mit, über die niemand sonst verfügte. Auf der Missionsstation Hermannsburg aufgewachsen, waren seine Muttersprachen Deutsch und Aranda, Latein und Altgriechisch seine ersten Fremdsprachen; Englisch lernte er spät, was es ihm als Lehrer für englische Literatur an der Universität Adelaide ratsam erscheinen ließ, sich auf Beowulf, den Widsith und ähnliche Werke zu spezialisieren, wo seine Sprachbegabung konkurrenzlos war.

Seine Mutter hatte ihre Schwangerschaft mit Theo zum ersten Mal an einem Ort in der Nähe von Hermannsburg bemerkt. Folglich galt Theo bei den Aranda als Inkarnation eines Totem-Ahnen, und obwohl sein Vater ihm die Initiation verwehrte – Carl Strehlow war zwar einer der Großen unter den Ethnographen, in erster Linie aber Missionar – sicherte der Ort, an dem seine Mutter ihre Schwangerschaft bemerkt hatte, ihm ein totemische Identität und damit das Recht auf Zugang zu esoterischem Wissen; und in dem Maße, in dem Aranda in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts konvertierten, ihre Tradition aufgaben und ihre heiligen Tjurungas verkauften, erhielt Theo nach und nach Zugang zu weiteren totemischen Orten und den ihnen Sinn gebenden Liedern.

Songs of central Australia ist eine Anthologie dieser Lieder, die darin aber nur wenige Seiten in Aspruch nehmen. Der Rest ist Kommentar. Einleitend werden Rhythmus und musikalische Struktur der Lieder dargelegt, die Sprache und die Versstruktur; erst dann folgen die Lieder, eingeteilt nach Themen und Aufgaben: Lieder gegen Krankheiten, zur Verletzung von Feinden, zur Wiederbelebung von Getöteten, zur Vermehrung totemischer Arten, Pflanzen wie Tiere, zur Zelebration und zum Gedenken von Totem-Ahnen, zu Circumzision und Subinzision, zur Kontrolle von Wind, Sonne und Regen, zu Schönheit und Liebe, zur Feier der Pmara Kutata und einige etwas weniger heilige; schließlich die geheimen Lieder der Frauen, von deren Existenz Strehlow gehört hat, die aber nicht kennen darf.

Bei jedem Lied beschreibt Strehlow den totemischen Ort, zu dem es gehört, vulgo das Dreaming, auch die Zeit, zu der die Eingeweihten ihn aufsuchen, in vielen Fällen nämlich dann, wenn alle meteorologischen Zeichen sicherstellen, daß die Vermehrung der betroffenen totemischen Art bevorsteht oder bereits eingesetzt hat. Weil sich natürliche Eigenschaften des Orts in den Versen, wie gebrochen auch immer, widerspiegeln, sind diese minutiösen Ortsbesichtigungen zum Verständnis der Lieder unverzichtbar. Ebenso die Mythen, die von der jeweiligen Station der Traumpfade erzählen. Die Lieder sind zuerst in der esoterischen Sprache der Dichtung gegeben, dann ihre Übersetzung in normales Aranda, mit einer Erläuterung der Transformationen, die zwischen beiden Versionen statthaben; es folgt eine Interlinearübersetzung ins Englische, mit grammatischen Aufklärungen, und schließlich eine Art Nachdichtung, die sich im Stil an die altenglisch-altskandinavische Dichtung anlehnt. Letzteres vor allem hat den Dichter Barry Hill, T.G.H. Strehlows Biographen, gestört. Auch ich sehe darin eine Idiosynkrasie, meine aber, daß man die Nachdichtungen nicht mitlesen muß, da alles, was die Originale angeht, in den vorhergehenden Fassungen enthalten ist. Diese allerdings kann man nicht eigentlich lesen, man muß sich viel Zeit lassen und sie studieren, bis man ihren Klang im Ohr und ihre Bedeutung im Kopf hat. Die altnordisch anmutenden Nachdichtungen scheinen mir im übrigen kein schlechter Griff zu sein, um den gehobenen, erhabenen Ton des Originals – die Wanderungen der Totem-Ahnen sind ja heroische Taten – für moderne (und gebildete) Leser spürbar zu machen.

2.

Viele Jahre ist Theo Strehlow auf dem Rücken von Kamelen unter der brennenden Sonne Zentralaustraliens über die Traumpfade der Aborigines gezogen, von Tjurunga-Speicher zu Tjurunga-Speicher, überwiegend an völlig entlegenen Orten im Outback, um Verse und ihre Erläuterungen zu notieren; und viele Jahre hat er darauf verwendet, sein voluminöses und doch knapp, konzis gehaltenes Buch zu schreiben. Um zu erfahren, weshalb er sich diesen Exerzitien unterzogen hat, müsste man vermutlich sein ganzes gebrochenes und zerrissenes Leben kennen. Er selbst allerdings hat sein Ziel am Schluß von Songs of central Australia so einfach wie verblüffend erklärt. Ihn hatte die moderne australische Landschaftsdichtung seiner Zeit gestört, weil sie sich nicht von ihren englischen Vorbildern lösen konnte und daher der australischen Landschaft in keiner Weise angemessen war. Um auf die Natur des Landes einzugehen, bedurfte es einer Intimität, wie die weißen Siedler sie sich in ihrer kurzen Zeit nicht aneignen konnten, wohl aber die Aborigines in ihrer 50 000-jährigen Geschichte. Deswegen mußten ihre Lieder, die das physische Terrain mit Leben und Sinn erfüllten, die Basis einer Geschichte werden, in der Siedler und Aborigines eine gemeinsame, verbindende Literatur der Zukunft zu schaffen hatten. Tatsächlich ist T.G.H. Strehlows Material, das ja auch die Dreamings und damit die Rechtsansprüche der totemischen Clans genau lokalisiert, in den land claims, den juristischen Prozessen um das Recht von Aborigines am Grund und Boden, in den letzten 50 Jahren eminent wichtig geworden. Nicht so die Lieder. Wenn es überhaupt jemandem gelungen ist, eine moderne Literatur auf der Basis der Traumpfade zu schaffen, so ist es T.G.H. Strehlow selbst, und zwar mit seinem wunderbaren Buch Journey to Horshoe Bend von 1969, einem Klassiker der australischen Literatur.

Ich habe eine Nacht auf dem Flughafen von Port Darwin verbracht, die australische Landschaft aber nur aus dem Flugzeug gesehen. Was mich dazu bewegt hat, der Dichtung der Aborigines 1967 meine erste Veröffentlichung zu widmen und seither von Zeit zu Zeit neue Übersetzungen zu lesen, ist mir ein Mysterium. Ich kann nur sagen, weshalb sich das monatelange Exerzitium der Lektüre von Songs of central Australia für mich gelohnt hat. Der Gewinn an ethnographischem Wissen ist beträchtlich, hätte aber auch in einem längeren Aufsatz Platz gefunden. Nein, es war die Vergegenwärtigung eines vollständig unbekannten Kontinents, eine Präsenz, die sich Vers um Vers einstellt und mir den Horizont der Moderne eng erscheinen läßt, ineins mit der Schönheit und Intensität der Lieder.

Der Zugang zu diesen Liedern ist schwer, sogar sehr schwer. Dennoch steht für mich außer Frage, daß sie in den zukünftigen, universalen Kanon der Weltliteratur gehören. Nur ist das Medium der kommentierten Anthologie wenig geeignet, sie zur Geltung zu bringen. Das ist nicht nur Strehlows Versäumnis. Denn er hat die Orte und die Rituale, zu denen die Lieder gesungen wurden, photographiert und gefilmt, die Lieder mit Tonaufnahmen dokumentiert. Wenn man dieses Material zu Filmen montiert, in denen die Übersetzungen als Untertitel erscheinen, wäre der Zugang zu den Liedern als Komponenten einer performativen Kunst angemessener und leicht. Das aber wird in absehbarer Zeit kaum geschehen, denn die Aborigines haben nicht nur ihre land claims durchgesetzt, sondern auch das Recht auf ihr geistiges Eigentum. Strehlows Material wird im Strehlow Center in Alice Springs verwahrt und bewacht, zugänglich nur für die eingeweihten Männer der totemischen Clans. Insofern gehören die Lieder nicht zur Weltliteratur, sie sind vielmehr strikt lokal. Daß sie mit Mühe in einem gedruckten Buch – und sei’s in Wuppertal – zugänglich sind, war unvermeidbar. Doch zur Weltliteratur können – und sollen – sie erst werden, wenn ihre rechtmäßigen Eigentümer sie dazu freigeben.

Ich meine damit keineswegs die Aufwertung einer oralen, einfachen, gar primitiven Dichtung zur Weltliteratur, sondern die Erkenntnis, daß es sich beim Vortrag dieser Lieder um die performative Kunst einer Hochkultur handelt. Diese These ist für eine andere Region Australiens zuerst 1959 von W.E.H. Stanner in Durmugam: A Nangiomeri formuliert, aber wenig beachtet worden. Gemeint ist damit nicht etwa der archäologische Begriff, nach dem Hochkulturen durch Zentralinstanzen, Städte und Schrift gekennzeichnet sind, sondern der soziologische, der eine spezielle Kultur der wenigen meint, die ein lebenslanges Lernen absolvieren, durch das sie sich von der Basiskultur absetzen, ob es sich dabei um Eliten handelt oder nur um Initiierte, die wie bei den Aranda ein praktisch nicht verwertbares Wissen erwerben oder sich eine Kunst aneignen, die Natur und Mensch zu einem geheimnisvollen Gleichnis macht.

 

 

 

 

 

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