„Zeitmarken“ der Nuba – F. Kramer und G.Marx wurden Zeugen der verlorenen „Feste von Dimodonko“

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 Fritz W.Kramer und Gertraud Marx : ‚Zeitmarken – die Feste von Dimodonko’ in der Reihe ‚Sudanesische Marginalien’ im Trickster Verlag, 189 Seiten, München 1993

Upload: 22.Aug. 2015 – überarbeitet 14. Mai 2022

 

Es wurde ein Denkmal für die Leute von ‚Dimodonko‘, den ‚Kodenko‘ oder ‚Kronko‘ im Süden des Berglands von Kordofan. ‚Südliche Nuba’ war die mir durch häufige Wiederholung auffallende Bezeichnung in seiner Jensen-Gedächtnisvorlesung an der Frankfurter Universität 2009 und bereits ein Kompromiss mit dem Sprachgebrauch in Deutschland, wo ‚die Nuba’ seit langem ein Begriff sind. Im Grunde meinte aber Kramer als präziser Ethnologe immer nur ‚die Leute von Dimodonko‘.

Die Autoren entschuldigen sich für einen philologischen Zugang – er prägt besonders die Einleitung in lexikalischem Stil, die Anmerkungen und die lange Literaturliste. Sie lassen bereits im ersten Kapitel ahnen, wie schön das Buch hätte werden können, dessen breit angelegten Fundamente wir hier bewundern. So ist ein wissenschaftliches Taschenbuch entstanden, mit Kartenskizzen in irritierend großer Auflösung, aber ohne Bilder.

Es ist ein intimes Buch, anrührend in der Ankündigung, fortan das grammatische Präsens für vergangene Verhältnisse zu verwenden. Wie gerne hätten Fritz Kramer und Gertraud Marx den ganzen Jahreszyklus, den sie in der Erzählung vor uns erstehen lassen, selber durchlebt, ebenso wie die großen und unbeschwerten Feste, von denen man ihnen erzählte, als man sie 1987 zu etwas wie Notausgaben einlud. Die Intensität der Darstellungen wie der Erörterungen lässt vermuten: Diese Zeit klassischer Feldforschung zwischen zwei Akten des Bürgerkrieges im südlichen Sudan wurde trotz des vorzeitigen Endes eine prägende Erfahrung.

Die Autoren hielten sich 1987 zu intensiverer Forschung bei den Leuten auf, aber der erste prägende Eindruck der Autoren datierte von 1974. Damals, in diesen beiden Jahrzehnten war die Bereitschaft zur Idealisierung alternativer Lebensformen in Westdeutschland bekanntlich groß. Das Buch wurde 1993 publiziert. Heute fällt es mir schwer, das schmale Buch in einem Stück durchzulesen, ich ertrage Sozialutopien seit langem nicht mehr. Jeglicher Utopismus ist mir ausgetrieben.

Die notgedrungen skizzenhafte Darstellung bietet ein Gesellschaftsmodell und suggeriert in der Summe einen ‚paradiesischen’ Zustand ‚edler Wilder’ oder mit Karl Marx eine ‚Urgesellschaft’, welche die verfügbaren Ressourcen in einer kleinen ökologischen Nische – an den Hängen von Tafelbergen inmitten der weiten sudanesischen Ebenen – optimal nutzte. Einbettung in die Natur – auch wenn ‚Hunger’ oder ‚Malaria’ im Jahreskreis ihren Platz hatten – überhaupt der kreisförmige Charakter herrschte in allem. Gemeinschaftliches Arbeiten und Genießen, die Institution der ‚Treuhänderschaft’ und schließlich eine institutionalisierte ‚Freundschaft’ auf Grund der Neigung von Individuen, generell die Rücksicht auf die menschliche Natur, insbesondere das Geschlecht und das Bedürfnis nach Rausch oder die Kanalisierung kreativer und aggressiver Impulse im Wettstreit. Wie hält man junge Leute mit beschränkten Mitteln beschäftigt und bei Laune? Eine überall zentrale Frage! Alle Widrigkeiten des Lebens, alle menschlichen Leidenschaften und Eigenheiten sollten Sinn erhalten, verständlich werden. Alle möglichen Konflikte sollten wenn nicht vermieden, so doch eingebettet werden. Das gab eine Menge Gesprächsstoff. Das Leben wurde nie langweilig.

Es gab keine formellen Hierarchien, auch keine auf individueller Leistung basierende. Es gab keine mehr oder weniger zentrale Herrschaft. Es war eine Kultur, in der man die Jahreszeiten mit Festen als ‚Zeitmarken’ ehrte und so die sozialen Bindungen periodisch erneuerte. Entsprechende Motive wirken in ‚Zeitmarken’ wie Beschwörungen: „…und feiern ihre Feste, auf denen sie Wettkämpfe im Ringen abhalten, trommeln oder auf der Leier spielen, tanzen und Lieder singen.“ (78). Doch es gab Nestflüchter, Nachbarn und schließlich überregionale ‚moderne’ Konflikte.

Eine solche Gesellschaft untergehen zu sehen, während man sich um Zugang und Verstehen bemühte, musste sehr wehtun. Nach einem Zwischenaufenthalt bei in Khartum gestrandeten ‚Nuba’-Flüchtlingen machte man sich – auf den Schultern weniger Informanten – an die wissenschaftliche Rekonstruktion, im Hinterkopf die gesamte einschlägige Literatur. Für das ‚Making-of‘ fand das Taschenbuch zu wenig Platz. Durch die Publikationsreihe war ein karger Rahmen vorgegeben.

In den folgenden zwei Jahrzehnten hat Fritz Kramer die Kultur der Leute von Dimodonko in den Publikationen immer neu beleuchtet und reflektiert, doch aus eher zunehmender Distanz, so auch in seiner jüngsten Buchpublikation: Kunst im Ritual – Ethnographische Erkundungen zur Ästhetik“, der Ausarbeitung der Vorlesung von 2009, im Reimer Verlag 2014.

Dokumentarische Fotos aus Dimodonko fehlen in ‚Zeitmarken‘. Bilderfahrungen muss man sich anderswo holen (Literaturliste), sie sind aber dann auch von anderswoher. Auch eine eindringliche literarische Prosa kann sie nicht ersetzen.

Die Autoren vermeiden damit ein Dilemma, wenn sie allein in starken Metaphern den Kult athletischer geschmeidiger Körper und unverkrampfter Sinnlichkeit unter den Leuten von Dimodonko vermitteln.

Können attraktive Fotos sich überhaupt erfolgreich absetzen vom Verdacht des ‚voyeuristischen’ Blick oder eines als faschistoid etikettierten Körperkults einer Leni Riefenstahl (‚Nuba’)? Ich hielt deren öffentliche Skandalisierung vor dreißig Jahren („SPIEGEL“,“STERN“) für übertrieben und war gespannt auf die Fotos von George Rodger, auf die im Literaturverzeichnis von ‚Zeitmarken’  verwiesen wird.

Abb. aus G. Rodger, Le Village des Noubas, Paris 1955, Robert Delpire Editeur

Vgl.  George Rodger: „Unterwegs 1940-1949 – Tagebuchaufzeichnungen eines Fotografen und Abenteurers“, Hatje-Cantz 2009

Vgl. „Magnum Opus“, Nishen 1987, Colin Osman (Hrsg.)

 

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Ich vermag an den Fotografien nicht wirklich einen relevanten Unterschied abzulesen, abgesehen vom ungeheuren Entwicklungsschritt von Fototechnik und Drucktechnik zu großformatigen farbigen Bildbänden. Die Bildtechnik ist sowohl generell „voyeuristischer“ und „stylish“ geworden. Wie weit hängt unser Urteil von der Auf- oder Abwertung der Fotografen ab?

Bei Leni Riefenstahl, der skrupellosen Perfektionistin, die mit ihrer – für Hitlers Propaganda inszenierten – Maximierung sinnlicher Effekte weltweit reüssierte, und die als achtzigjährige Fototouristin über „Nuba“ nur Plattheiten geäußert hat, liegt eine Abwertung nah. Demgegenüber hat der Dokumentarfotograf von „Life“ und  Mitgründer der Fotoagentur „Magnum“ (LINK) Rodgers unsere Sympathie, der nach 1945 inneren Abstand suchte von traumatisierenden Begegnungen wie der mit den Opfern des KZ  „Bergen-Belsen“, als er eine lange Abenteuerreise mit seiner Frau 1949 durch Afrika unternehm, wovon seine Tagebücher offenherzig erzählen. Wer würde bei seinen Aufnahmen auf „Voyeurismus“ kommen?

Das Buch von Fritz Kramer und Gertraud Marx ist dreißig Jahre alt. Sie schreiben in ihrem Vorwort: „Der  Zustand, in dem wir die Kodonko zuletzt sahen, war der eines beklommenen Abwartens, in dem die Hoffnung auf eine Rückkehr des Friedens überwog. (….) Denn die Kodonko unterschiedene zwischen guten und schlechten Zeiten, die sich abwechseln, und für sie war der gegenwärtige Krieg  nicht das einmalige Ereignis, das ihrer Welt vielleicht ein Ende setzt, sondern ein Moment in der Wiederkehr des Gleichen.  Die gute Zeit,war die Zeit in der man die Feste feiert, wie sie fallen, die schlechte ihre erzwungene Aussetzung. ….“ (S.9, Januar 1993)

George Roger zeigt und beschreibt eine lokale Katastrophe im Dorf  einer benachbarten Nuba-Gruppe: ein Feuer, durch einen umgestoßenen Kochtopf verursacht, das durch Funkenflug binnen dreißig  Minuten zweihundertdreißig Häuser in einen Haufen verkohlten Ruinen verwandelte und die Getreidevorräte für das nächste Jahr vernichtete. („Unterwegs…“ S.105, 3. März 1949, Kau)

Die Verbindung zu den Menschen der Nuba-Berge ist lange abgerissen. Ihr Zustand „erzwungener Aussetzung“ dauert an. Selbst nachdem der „Südsudan“ nach zwanzig Jahren Krieg 2015 seine Ablösung vom „Sudan“ erzwungen hat, herrscht in den Nuba-Bergen nördlich der neuen Staatsgrenze immer noch Krieg. Diese Geschichte verbrannter Dörfer, Umsiedlungen und gewaltsamer Vertreibungen wird in Wikipedia „Nuba“ zusammengefasst und in einem Interview aktuell beschrieben, in der katholischen Wochenzeitung für das Bistum Berlin mit dem auffälligen Namen „Tag des Herrn“ (https://www.tag-des-herrn.de) vom 2. Januar 2019 (LINK)

Textauszug :

Interview mit Mediziner und Missionar Tom Catena – Der vergessene Konflikt im Süden Sudans

Konflikte nach allen Seiten, doch international vergessen: Die Menschen in den Nuba-Bergen im Süden Sudans sind arm, ihre Nöte bekommen international kaum Aufmerksamkeit. Hilfsorganisationen wagen sich selten in die Region. Der Mediziner und Missionar Tom Catena hat dort vor rund 10 Jahren ein Krankenhaus aufgebaut. Im Interview spricht der mehrfach ausgezeichnete Arzt aus den USA über die schwierige Lage und die Gesundheitsversorgung in der Region.

Herr Catena, Ihr Krankenhaus liegt in den Nuba-Bergen im Süden Sudans an der Grenze zum Südsudan. Wie ist die Lage dort?

Offiziell gehören die Nuba-Berge zum Sudan. Aber das Gebiet wird von Rebellen kontrolliert, der sudanesischen Befreiungsarmee. Die kämpfen gegen die sudanesische Regierung in Khartum und fordern Unabhängigkeit. Wir in den Nuba-Bergen leben in der Schwebe. Aktuell ist es zwar ruhig, aber niemand weiß, in welche Richtung sich die politische Situation entwickelt und ob es wieder zu Kämpfen kommt. (….)

Das Krankenhaus ist das einzige für rund eine Million Menschen.

Ja. Unser Einzugsgebiet hat in etwa die Fläche von Österreich. Manche Patienten kommen aus Flüchtlingslagern im Südsudan, andere verstreut aus den Bergen. Viele sind mehrere Wochen unterwegs, um uns zu erreichen.

Sudan ist eines der ärmsten Länder der Welt. Können die Menschen sich überhaupt eine Behandlung leisten?

Die Patienten zahlen einen symbolischen Beitrag von 45 Cent. Das ist quasi eine Flatrate für die gesamte Behandlung. Allerdings deckt das nicht ansatzweise die Kosten. Zum Vergleich: Ein HIV-Test kostet allein 60 Cent. Das meiste wird über Spenden abgedeckt. Die Betriebskosten für das Krankenhaus liegen bei rund 660.000 Euro. Wir beschäftigen 230 Mitarbeiter, davon 80 Krankenschwestern. Viele von ihnen haben keine richtige Ausbildung, sondern wurden „on the Job“ angelernt.

Woher beziehen Sie Medikamente und was Sie sonst brauchen?

Das ist kompliziert. Aber immerhin erreichen uns seit dem Friedensschluss zwischen Sudan und Südsudan 2015 einigermaßen verlässlich Güter. Die Medikamente kaufen wir in Nairobi in Kenia ein. Sie werden dann in den Südsudan gefahren. Dort gibt es eine einzige Straße, über die alles, Güter, Lebensmittel oder Medikamente, zu uns in die Berge kommt. Wenn es dort Ärger gibt, sind wir von der Versorgung abgeschnitten.

Fühlen Sie sich vergessen oder allein gelassen?

Sudan und die Nuba-Berge, das ist quasi ein vergessener Konflikt. Die Vereinten Nationen haben die Region verlassen und keinen Fuß mehr in der Tür. Aber wenn Regierungen und Institutionen scheitern, müssen Einzelpersonen die Lücken füllen und sich um die Menschen kümmern. Genau das ist in Nuba passiert. Ich sehe es als Teil meiner Aufgabe, nicht nur medizinisch zu helfen, sondern auch Aufmerksamkeit auf den Konflikt zu lenken. Die Menschen dort haben ansonsten niemanden, der für sie spricht und sich für sie einsetzt.

Warum nicht? In Zeiten von Migration spielt Afrika für Europa strategisch schon eine Rolle …

Sudan war lange international verteufelt, galt als Terroristenstaat. Die Migrationskrise in Europa hat das zwar geändert, aber einseitig. Viele Flüchtlinge aus Eritrea ziehen über den Sudan nach Libyen und wollen von dort Richtung Europa. Die EU bezahlt dem Sudan viel Geld, um Migranten auf dem Weg zu stoppen. Dabei geht das Regime oft brutal vor.

Was erwarten Sie von der EU?

Die EU sollte darüber nachdenken, an welchen Stellen sinnvoll Geld eingesetzt werden kann. Denn bei den Menschen selbst kommt in weiten Teilen des Sudan derzeit nichts an. Die meisten Menschen dort kennen seit Jahren nur Krieg und haben die Nase voll davon. Ihnen würde ein Friedensabkommen zwischen Sudan und den Rebellen in den Bergen helfen. Dafür sollte man sich auch international einsetzen.

Der Sudan ist offiziell ein muslimischer Staat und Sie gehören zur christlichen Minderheit – beeinflusst das Ihre Arbeit?
Das Zusammenleben von Muslimen und Christen in den Nuba-Bergen ist einzigartig. Christen bilden dort eine ziemlich große Minderheit. Eine religiöse Kluft gibt es nicht wirklich. Manche Muslime sind mit Christen verheiratet und umgekehrt. Für Fundamentalisten im Norden gelten die Muslime in den Nuba-Bergen deshalb aber als Ungläubige. (….)