Hochgeladen am 4. November 2017; ergänzt am 6. Juli 2024
Frau für Venedig IV, 1956, NGMB95/2000, Museum Berggruen, Berlin am 24.10.2017 :
Entdecke den großen Fuß zuerst, so sehr ein Sockel wie eine Fußfessel
Disproportionalität
Dramatische Verlängerung
Schlangenartig in ihrer Aufrichtung
Schaufelhände markieren die Mitte und rahmen das Geschlecht ein
Die Betonung des Materials durch Oberflächendramatik, vielleicht ein Mittel zur Niederhaltung des europäischen ‚Naturalismus’, dem nicht so leicht zu entkommen ist.
Nur ein paar Bedeutung gebende Zeichen.
Symmetrie, aber mit Abstrichen wie bei einem lebendigen Körper
Zweibeinig, aber nur im Prinzip. Was macht das? Es leitet die Energien nach oben und hebt den kleinen Kopf so weit vom Grund ab wie eine Turmspitze.
Stilisierte Schultern
Die eher ‚westlich’ großen Brüste sind erlaubt, Nabel im Zentrum
Gestrecktes Bein, zusammengezogener Po, Muskelspannung, die Haltung leicht nach vorn gebeugt – ‚afrikanische’ Energie.
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Die Aufsicht schaut bereits misstrauisch. Früher dachte ich auch: Was gibt es an den gekneteten Stelen viel anzuschauen? Zwei andere geben auch schon weniger her – hier im Berggruen und nebenan bei Scharf-Gerstenberg.
Im Nachhinein beeindruckt auch die Stehende in der Rotunde. Diese aufrechte Würde bei äußerst summarischem Po !
In Rubins „Primitivismus“ (Prestel 1985) nachgelesen! Doch der tief schürfende Essay von Rosalind Krauss (pp.514-543) sagt uns zum Figurentyp nur Bekanntes, etwa, dass die einzelne, vertikale Figur, die wie ein Denkmal in den Raum ragt, hieratisch, unbeweglich, hoch (533), besonders typisch für Giacometti sei. Dabei muss ‚unbeweglich’ hier nicht zutreffen. Und – an anderer Stelle – dass der Künstler nach dem Krieg von den in früheren Jahrzehnten starken Impulsen durch ‚primitive Kunst’ nicht mehr viel wissen wollte. Das Werk widerlegt seine Erinnerung.
12.12.2018 Notwendige Einschränkung
Die Wirkung ist noch immer „unbeschreiblich afrikanisch“.
Aber an das mittelalterlich gemauerte Verließ des manischen Kneters und Tüftlers und das für die Modellierung notwendige Eisengestell darf ich nicht denken.
Muss ich auch nicht: Im Kopf des Künstlers Giacometti waren Inspiration und das Projekt der Realisierung ungetrennt präsent.
Eine Aktualisierung zur „Materialität“ Juli 2024
Nach Jean Clair: „Giacomettis Nase“, Klaus Wagenbach, Berlin 1998 S. 40
Bis auf einen Aspekt möchte ich seine Studie auf sich beruhen lassen, die von einer traumatischen Erfahrung Alberto Giacomettis, dem plötzlichen Tod eines engen Freundes, ihren Ariadnefaden spinnt . Jean Clair interpretiert die Materialität der Plastiken Giacomettis der Nachkriegszeit als Rückversicherung des gestörten Bezugs zur Wirklichkeit.
„Auf diese Weise kann man feststellen, dass Giacometti in seinem Werk nicht die Hervorbringungen einer natura naturata nachahmte, sondern nach den Prinzipien einer natura naturans vorging: indem er seine Figuren aufrichtet und sie wachsen lässt wie Pflanzen oder in einer Weise, in der die komplizierten Organismen sich gebildet haben, einer ausgeklügelten Differenzierung der Arten folgend, indem sie ein Teil, eine Funktion entweder unterdrückten oder ihr den Vorzug gaben. Das gilt auch für die massiven Sockel, auf denen die Körper der großen Figuren emporragen.“
Was für Max Liebermann bloß die Metapher eines Zeugungsaktes war (LINK), wird hier quasi alttestamentarisch ausgebreitet. Was tat JEHOVA mit seiner Schöpfung denn anderes als zu ‚Gipsen’ (am sechsten Tag überdies unvollkommen)? Vergewisserte Er sich etwa des eigenen Bezugs zur Wirklichkeit, wie auch bereits behauptet worden ist?
Was für das Kunstpublikum die Erzeugung von Anschein aus einer vorberechneten Entfernung sein mag, wird vom Künstler als kreativer Akt, als Neuschöpfung der ‚Schöpfung’ verstanden. Das ist in den kleinen für Spontaneität offenen Formaten wie Skizzen und Studien am deutlichsten spürbar.
Wenn Max Liebermann oder der späte Fritz Wiegmann (LINK) dreidimensional gearbeitet hätten, wären die Ergebnisse – so behaupte ich keck – denen von Giacometti ähnlich gewesen. So aber haben sie sich mehr oder weniger konventionell in der ‚Schaukastenbühne’ von Keilrahmen und Malkartons ausgetobt.
Die von Clair erwähnten übergroßen Füße und Sockel der Plastiken Giacomettis sind auch für zahlreiche afrikanische Figuren nicht unwichtig, ausdrücklich erwähnt in einem Blogbeitrag von 2017. Warum wohl? Sie machen deren Wirklichkeitsbezug sichtbar. (LINK)
Trotz meiner unveränderten Reserve gegenüber der Technik des Herumknetens über dem Kern einer Eisenstange faszinieren mich die Ergebnisse und ich folge darin auch den Spekulationen Clairs darüber, dass sie ‚Ebenbilder’ des Menschen sind.
Zurück zum Beitrag 2017 und nun auch Matisse!
Blätter, Schlangen („Drache“), Menschenfiguren, Köpfe auf elementare Zeichen reduziert. Und dann die Alterswerke mit Fünfundachtzig (1952): Farbflächen, Schwung, bewegte Linie, Tanz als Thema! Was hat ihn zu dieser Grobheit, Barbarei – eigentlich Arm vor Knie – ermutigt? * Sicher auch die Verwendung als Grafik. Gewiss nicht die Asmat (Westirian bzw. Neuguinea)! Vgl. Jack D. Flam in Rubin „Primitivismus“ (pp. 217-247, besonders 240ff. ) – Ein anderes großes Ausschneidebild – ‚La Négresse“ 1952 – wurde von der schwarzen Tänzerin Josephine Baker angeregt. (240, ill.299).
* Hinweise mögen die Notizbücher (LINK) des Künstlers und Mönchs Marie-Alain Couturier enthalten, der damals über das gemeinsame Projekt der Kapelle in Vence in engem Austausch mit ihm stand. (18.8.2020)
Die beiden schwarzweißen Zeichnungen hat er wohl mit einem einzigen Werkzeug gemacht. (links:“Erfüllte Stille der Häuser“, 1947)