Ich entdecke Giacomettis ‚Stehende’ in afrikanischer Stimmung. Und Matisse!

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Frau für Venedig IV, 1956, NGMB95/2000, Museum Berggruen, Berlin am 24.10.2017 :

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Entdecke den großen Fuß zuerst, so sehr ein Sockel wie eine Fußfessel

Disproportionalität

Dramatische Verlängerung

Schlangenartig in ihrer Aufrichtung

Schaufelhände markieren die Mitte und rahmen das Geschlecht ein

Die Betonung des Materials durch Oberflächendramatik, vielleicht ein Mittel zur Niederhaltung des europäischen ‚Naturalismus’, dem nicht so leicht zu entkommen ist.

Nur ein paar Bedeutung gebende Zeichen.

Symmetrie, aber mit Abstrichen wie bei einem lebendigen Körper

Zweibeinig, aber nur im Prinzip. Was macht das? Es leitet die Energien nach oben und hebt den kleinen Kopf so weit vom Grund ab wie eine Turmspitze.

Stilisierte Schultern

Die eher ‚westlich’ großen Brüste sind erlaubt, Nabel im Zentrum

Gestrecktes Bein, zusammengezogener Po, Muskelspannung, die Haltung leicht nach vorn gebeugt – ‚afrikanische’ Energie.

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Die Aufsicht schaut bereits misstrauisch. Früher dachte ich auch: Was gibt es an den gekneteten Stelen viel anzuschauen?  Zwei andere geben auch schon weniger her  – hier im Berggruen und nebenan bei Scharf-Gerstenberg.

Giacometti-Gr.Stehende.IMG_3860Im Nachhinein beeindruckt auch die Stehende in der Rotunde. Diese aufrechte Würde bei äußerst summarischem Po !

In Rubins „Primitivismus“ (Prestel 1985) nachgelesen! Doch der tief schürfende Essay von Rosalind Krauss (pp.514-543) sagt uns zum Figurentyp nur Bekanntes, etwa, dass die einzelne, vertikale Figur, die wie ein Denkmal in den Raum ragt, hieratisch, unbeweglich, hoch (533), besonders typisch für Giacometti sei. Dabei muss ‚unbeweglich’ hier nicht zutreffen. Und – an anderer Stelle – dass der Künstler nach dem Krieg von den in früheren Jahrzehnten starken Impulsen durch ‚primitive Kunst’ nicht mehr viel wissen wollte. Das Werk widerlegt seine Erinnerung.

 

12.12.2018       Notwendige Einschränkung

Stehende (6.12.2018)

Die Wirkung ist noch immer “unbeschreiblich afrikanisch”.

 

Aber an das mittelalterlich gemauerte Verließ des manischen Kneters und Tüftlers und das für die Modellierung notwendige Eisengestell darf ich nicht denken.

Muss ich auch nicht: Im Kopf des Künstlers Giacometti waren Inspiration und das Projekt der Realisierung ungetrennt präsent.

 

8. Juli 2024    Hinweis auf den frei assoziierenden Kunsthistoriker Jean Clair in “Giacomettis Nase”, Klaus Wagenbach, Berlin 1998 S. 40. – Das Zitat ist nicht angemessen zu isolieren, vielleicht auf der Zunge zergehen lassen:

“Auf diese Weise kann man feststellen, dass Giacometti in seinem Werk (nach-kubistisch und nach-surrealistisch seit den Vierziger Jahren – Gv.) nicht die Hervorbringungen einer natura naturata nachahmte, sondern nach den Prinzipien einer natura naturans vorging: indem er seine Figuren aufrichtet und sie wachsen lässt wie Pflanzen, oder in einer Weise, in der die komplizierten Organismen sich gebildet haben, einer ausgeklügelten Differenzierung der Arten folgend, indem sie ein teil, eine Funktion entweder unterdrückten oder ihr den Vorzug gaben. Das gilt auch für die massiven Sockel, auf denen die Körper der großen figuren emporragen.”

 

Aber auch Matisse!

Blätter, Schlangen (“Drache”), Menschenfiguren, Köpfe auf elementare Zeichen reduziert. Und dann die Alterswerke mit Fünfundachtzig  (1952): Farbflächen, Schwung, bewegte Linie, Tanz als Thema! Was hat ihn zu dieser Grobheit, Barbarei – eigentlich Arm vor Knie –  ermutigt? * Sicher auch die Verwendung als Grafik. Gewiss nicht die Asmat (Westirian bzw. Neuguinea)! Vgl. Jack D. Flam in Rubin “Primitivismus” (pp. 217-247, besonders 240ff. ) – Ein anderes großes Ausschneidebild – ‘La Négresse” 1952 – wurde von der schwarzen Tänzerin Josephine Baker angeregt. (240, ill.299).

* Hinweise mögen die Notizbücher (LINK) des Künstlers und Mönchs Marie-Alain Couturier enthalten, der damals über das gemeinsame Projekt der Kapelle in Vence in engem Austausch mit ihm stand. (18.8.2020)

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Matisse-Tuschzeichnungen.IMG_3823Die beiden schwarzweißen Zeichnungen hat er wohl mit einem einzigen Werkzeug gemacht.    (links:”Erfüllte Stille der Häuser”, 1947)

 

 

 

 

 

 

 

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