Veranstaltungsidee für die „Lounge“ des MAK Frankfurt Januar / Februar 2013:
Liao Yi-wu’s Erzählungen, gesehen durch die Optik von „Humanismus in China – ein fotografisches Porträt“, MMK 2007
Als ich die Geschichten, genauer die literarischen Interviews, in „Fräulein Hallo und der Bauernkaiser“ las – in deutscher Übersetzung – schienen die Menschen ganz nah zu sein. Ich meinte sie deutlich wahrzunehmen, zumal beim Lesen mein angesammeltes Hintergrundwissen sich ständig bemerkbar machte wie ein junger Hund. (LINK zu ausgewählten Kapiteln)
Als ich dann den Katalog von „Humanismus…“ aufschlug, entdeckte ich die Bilder ganz neu. Die Ausstellung in Frankfurt 2007 hatte mich, trotz einer gewissen Aufgeregtheit, mit dem überwältigenden Strom auftretender Individuen kalt gelassen. Heute weiß ich: Sie waren stumm geblieben. Sie werden das im strengen Sinne auch bleiben. Doch erscheinen sie mir jetzt anders als damals, plastisch, entzifferbar. Es scheint möglich, wenigstens einigen von ihnen Worte oder Sätze in den Mund zu legen – auch erklärende Worte – die sie selber gesagt haben könnten. Man mag über so eine Skrupelhaftigkeit den Kopf schütteln und auf das Allgemeinmenschliche verweisen, das uns alle verbinde. Mir ist darin zu wenig Greifbares, auch zu wenig Interessantes.
Dann schaue ich mir den gut einstündigen Film über ein Treffen von Freunden mit Yi-wu zum Gedenken an die Opfer der ‚Anti-Rechts’kampagnen in einem abgelegenen ehemaligen Haftgebäude, einem Kuhstall, in den Bergen über Dali in Yünnan an. Ich sehe ein ziemlich beliebig erscheinendes nächtliches Ritual und verfolge sehr emotionale Dialoge zwischen den Teilnehmern, höre den Schlag der kleinen Trommel, Yiwus Flötenspiel und seine Beteiligung am Lautenspiel der einzigen Frau unter den Anwesenden.
Die englischen Untertitel sind mühsam zu verfolgen, die Sätze dunkel und krass, von einsetzender Ermüdung und vom Rausch befeuert. Ich höre Liao Yi-wu schluchzen und seine wilde Rezitation des Klagelieds – sie erinnert mich entfernt an den unvergesslichen heulenden Duktus des Russen J. Brodsky. Er ist wieder fremd. Paradoxerweise kenne ich ausgerechnet die Landschaft um den Erhu-See, auch das Panorama vor den Stallfenstern ist mir bekannt.
Der bescheidene, mit einer wackligen Handkamera gedrehte Film, vermittelt eine neue Dimension. 1988 ging auch ich arglos und ahnungslos über diese buschig bewachsenen Berghänge, einzig berührt vom nahe gelegenen kleinen daoistischen Kloster, damals bereits wieder aufgebaut. Von ihm ist im Film aber nichts zu hören oder zu sehen.
Ich denke an einen multimedial gestützten Auftritt: Einleitend Liao Yi-wu’s Musik und eine Folge von Bildern aus „Humanismus“, auch entsprechende Reisefotos von 1988. Am Ende eine Filmsequenz. Im Vortrag sollten die Zitate aus Liao Yi-wu von einer zweiten Stimme gelesen werden. 29.1.2013
Der Film ist Teil der Produktion „Erinnerung bleib…“ (Essays von Herta Müller u.a.,CD,DVD; dt.,engl., chin.; FlyFastConcepts bei Lieblingsbuch Berlin o.J. 2012
Ich lernte Yao Yi-wu nicht über die Medien kennen, sondern über sein Buch in der Mitte der Sommerferien. Es gab ja viel Wirbel um ihn. Und der hat sich bis zum Herbst (Friedenspreisrede in Frankfurt) noch verstärkt. Seither habe ich die nagende Sorge, mein Zugang über das Buch könnte verschüttet gehen. Jemand fragte mich: wie Pekingmenschen (dt.1986)? Ich konnte mich gar nicht mehr recht erinnern. Als ich Stephans Angebot einer Veranstaltung bereits angenommen hatte, las ich darin und bemerkte die erste Hürde: Das oberflächliche, vordergründig politische Interesse der Leute an solchen Berichten und die entsprechende Rezeption. Dagegen ist Liao nicht gefeit, wie Wen Huang in seiner kritischen Rezension der amerikanischen Übersetzung zeigt. Liao Yi-wu ist eminent politisch, aber auch wieder nicht, genau wie seine Rede in der Paulskirche: Er kündigt der KP einfach das Mandat des Himmels auf. Er hat das Zeug zum visionären Bauernkaiser.
Dann kam mir die Sprachbarriere zu Bewusstsein. Selten habe ich es so schmerzlich empfunden, nicht den Originaltext lesen zu können wie diesmal. Übersetzung ist immer Vertrauenssache. In diesem Fall fand ich ein positives Indiz: Eine von Linda Jarvis näher beleuchtete Textstelle haben die deutschen Übersetzer treu übersetzt.
Immerhin: Wir können wenigstens für lichte Momente die Wände um unser Glashaus einreißen und uns chaotischen Gefühlen überlassen. Liao hilft dabei. Er ist Reisender durch diese Sphären, mancher seiner Gesprächspartner auch. Que Yue: Wir sind alle blind – wir wissen alle nicht, wo’s langgeht. (ebd. 486)
Später am Abend.
Soll doch der Hans Peter Hoffmann auftreten! Privatdozent und Übersetzer der Geschichten, der „gerne zu Lesungen kommt“, wie auf seiner Website steht.
Ich spüre eine Menge Fäden, aber durchwegs abgerissene Fäden zu China! Selbst die chinesischen Rockmusiker der Achtziger sind weit weg! Mich haben meine eigenen Reiseerinnerungen verlassen. Was mich aber immer noch elektrisiert, sind die Bilder. Dabei war der Nachklang von „Humanismus in China“ extrem dissonant. Mit dem Katalog öffnet sich mir eine neue Dimension. Ich hasse Bilderfluten und Bilderinflation. Die alten Fotos aus der französischen Zeitschrift ’VU’, Hedda Hammer, Kollegin Wiegmanns und v.Brandts Zeitungsstiche …. dann die Klänge, die wilden Klänge: Von chinesischer Oper und Trauermusik zu Liao’s Gebrüll mit Flöte (Das Mädchen Hallo.. , 465) … die Legenden, Opernstoffe und Romane, die Geschichte, der Maoismus als Kulturgeschichte oder die Geschichte der Unterdrückung in Das ummauerte Ich mit seiner Higher Kind of Loyality.
War ich nicht seit der Zweiten Examensarbeit stolz auf meinen historisch fundierten Durchblick? Ich stehe für unorthodoxe Blickwinkel, den synästhetischen Medienmix, die Detailbeobachtung, das Crossover zwischen Wissenschaft und Poesie. Ich schrecke heute vor einer so breiten Aufgabenstellung zurück, ebenso wie vor der Konkurrenz zu Fachleuten. Flusser hat mich lange viel Kraft gekostet, in China werde ich aber immer Analphabet bleiben; jetzt dachte ich sogar an eine Pekingreise. Mir werden die unbeackerten Felder in meiner Nähe bewusst. Die Lebensepoche der provozierten Fremdheit ist für mich vorüber. Ich werde in rasantem Tempo bescheidener – und bequemer. Die chinesischen Früchte hängen mir zu hoch. Abschied nehmen? Vielleicht, wenn’s die Geschichten, Bilder und Töne und Legenden zulassen.