‘Fräulein Hallo und der Bauernkaiser’ (Liao Yiwu)

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Der Beitrag  scheint auch 2016 noch gelesen zu werden, was mich freut, aber ihm folgten 2013 noch mehrere andere zu diesem Thema, die man ruhig auch zur Kenntnis nehmen sollte (LINK)
 

 

Ein paar Wahrheiten über China in „Fräulein Hallo und der Bauernkaiser“

In Liao’s literarischen Interviews erscheint der chinesische Kosmos in seiner Vielschichtigkeit. Ich bin auf Spurensuche. Die Wahrheit ist etwas mit tiefen Falten. Und zwar so tief und verwickelt, dass wir sie immer bloß ein Stück weit auswickeln können.  

IMG_2705LiaoYiwu  11.10.2013 in Frankfurt/Main

Ich beginne im Sommerurlaub mit großem Elan, wundere mich, was alles mir die genaue Lektüre des Gesprächs mit dem „Menschenhändler“ an chinesischen Verhältnissen wieder vor Augen geführt hat! Man sollte diesen Kommentar vielleicht erst nach der Lektüre des Interviews lesen. Danach wird die Kommentierung knapper. Irgendwann komme ich mit dem Schreiben nicht mehr nach, bleibe ich stecken. Für die Fülle der Hinweise bringe ich nicht mehr die nötige Disziplin auf.

(Seitenzahlen nach der gebundene Ausgabe)     

 

„Der Menschenhändler“ Qian

Die Gesprächspartner verhandeln die ganze Zeit darüber, wie über die Sache angemessen zu reden ist. Der Austausch der Argumente ist unübersichtlich. Zur Demontage von Qians Verteidigungsstrategie bedient sich Liao juristischer Begriffe („provinzübergreifender Menschenhandel“ 39, ungesetzliche Kohabitation 41) und Konzepte (Todesstrafe 41, „Zunge abschneiden“ 45) und sogar der Sprache forensischer Psychologen (43), vor allem aber ungeschminkter Beschreibungen (39 „Hochzeitsnacht“). Am Ende haben beide die Wahrheit dieser Existenz ein Stück weit ausgewickelt. Der Befragte will sich eben auch als intelligenter Mensch profilieren, als „von Natur aus umsichtig“(44) und begabt mit einer flinken „Zunge“ (36, 45), vor allem aber als ehrlicher Kerl von altem Schrot und Korn und  als Opfer der Verhältnisse. Vom „Räuber“ grenzt er sich ab. In der ehrwürdigen harten Moral der Landleute sieht er die ehrbaren Wurzeln seiner Tätigkeit (34,35). Ihren Gespenster- Glauben („feudaler Kram“,39) will er allerdings im Trend der Zeit nicht akzeptieren.

Um seine Verteidigungsstellung zu überblicken, zeichne ich ein Schema:

In einem inneren Kreis liegen Stadt oder Zivilisation. Darum legt sich das Land in mehreren Ringen, die in den äußeren liegen die Berge (41 zweimal), jenseits davon die Wüste (37,42 Der Norden). „Der Norden ist wilder als der Süden“ (42). Die Zivilisation greift in das Land aus, mit Eisenbahnlinien (37), Rundfunk (42) und Fernsehen, natürlich auch mit den Polizeiaktionen (41). Von der allgegenwärtigen Partei ist gar nicht die Rede.

Die ländliche Gegenkultur zur städtischen Zivilisation beruht auf der bäuerlichen Position in der Welt: „Mit dem Gesicht zur gelben Erde, mit dem Rücken zum Himmel“ (35). Die Verachtung der Bauern durch die Städter erklärt Qian bündig aus diesem uralten Gegensatz. Dem Landvolk blieb gar nichts anderes übrig als eine eigene Wertordnung zu entwickeln, welche Qian in einigen Redewendungen zitiert. („Nach den Regeln des Volkes gilt als Mann und Frau, wer mit Pauken und Trompeten in das eigene Haus geladen wurde“ 41) – Die Sammlung seiner und anderer Gesprächspartner „Spruchweisheiten“ wäre sicher  interessant!

Die „alte Zeit“ reichte „bis 1982“ (42). Die Epoche des Maoismus wird dabei durch einen Schwall von Parolen, Feststellungen zum Status (42: Er sei „Teil der arbeitenden Bevölkerung“, kein „Volksschädling“ 42) und die bittere Armut („nackt um die Feuerstelle“ 36) repräsentiert. Diese Armut muss als Übertreibung erscheinen, aber ich habe in der Pariser Illustrierten „Vu“ der dreißiger Jahre Fotos nackter Bauern am Tretrad zur Bewässerung auf dem Feld gesehen, hätte es bloß für die kommunistische Zeit nicht mehr erwartet. – Das sind Spuren, die ich meine! – Die Härte in familiären und sexuellen Beziehungen (Niet und Nut 38, Knebeln, so eine will keiner 42,…) ist bekannt, nicht nur für China. aber dort kam vielleicht das Vorbild der traditionellen Elite mit ihrem rigiden Formalismus hinzu.

Daraus kann Rebellion werden. Qian leistet der Sentenz „ein Himmelssohn, ein Gesetz“(42) ein ziemlich wirres Lippenbekenntnis (42), dank Umerziehungslagern. Doch der Satz: „So viele Dörfer sollten das Gesetz nicht verstehen?“(43) signalisiert Fundamentalopposition, und erst recht der vorher: „Wenn der Mönch in die Berge geht, ist in seinem Kopf kein Gesetz. Und wenn da ein Gesetz ist, braucht er es nicht.“ (41) Darin ist die Erinnerung an die räumlich begrenzte Geltung der kaiserlichen Ordnung lebendig, daran, sich der Ordnung durch Entweichen in die Berge entziehen zu können, und an die Tradition der Bauernaufstände, die das himmlische Mandat der Kaiser-Dynastien mehrfach beendeten.

Die Anspielung auf die Banditen im Norden, die „Geld und Ehre nicht verlieren“ wollen (42), klingt freilich nach Resignation. Zwar bestand die Gefahr immer für den ehrbaren Bauern, den man auch Erdmenschen nannte, aber heute kann er ihr nicht mehr ausweichen. Die Opfer von Entehrung betrachtet Qian mit lauem Mitgefühl, die von Frauen nicht anders. Das ist einfach Tradition.

Wenigstens ist seine Behauptung „Ich habe als Häftling keine Beziehungen zur Außenwelt“ (45) nur politisch korrekte Fiktion für einen fiktiven Rechtsstaat. Sonst wäre Qian wirklich zu bedauern.

„Die Reformen kommen nicht zu uns“ (40), aber sie machen sich bemerkbar, wie wir wissen, in der Selbstbedienung der Parteikader und den Zerfall der staatlichen Autorität auf dem Dorf, sowie indirekt über die Lektionen der Medien (Nachrichten, und Wanderarbeiter. Verführungskünste)

In seiner Praxis nützt er die Lektionen, baut realistisch und umsichtig auf seine persönlichen Qualitäten und den Zeitgeist: In der Stadt agiert Qian in einer anonymen Welt der Täuschung und ungebremster Gier. Er folgt den Wanderarbeiter(inne)n in das städtische Milieu.

P2100891Humanismus,Zeitungsleser

‘Humanismus in China’,Ausstellung MMK Frankfurt 2006

Der Klomann

Die Entwicklungen in China haben seine Perspektiven nur verschlechtert. Auf den Titel „Väterchen“ kann er im Alter nicht mehr rechnen. Auch die Zeiten, wo er seine schmutzige Arbeit im größeren, sogar revolutionären Kontext Sinn und Anerkennung erhielt, sind vorüber. Während des Gesprächs erörtern die beiden immer wieder ergebnislos, wie sie heutzutage aufzuwerten wäre.

Der alte Toilettenmann hat eine gesamtgesellschaftliche Perspektive, aufgespannt zwischen den Gelehrten, Intellektuellen, Fährleuten einerseits und andererseits den Proletariern. Er denkt politisch und reflektiert den Wandel: „Keiner hatte einen Begriff von Wirtschaft“ (52). Ich erkenne die späten Parteikampagnen wieder: Arbeiter philosophieren („Intellektualisierung der Proletarier“?-„Einfach“ 54f.) und die Anti-Konfuzius-Kampagne von 1975. Er scheint damals gesunden Menschenverstand, sogar Menschlichkeit bewiesen zu haben, und sei es seiner Toilette wegen, wenn „Literatur den Boden“ kehrte. Über die Intelligentsia  hat er über die Jahre bemerkenswerte Einsicht gewonnen. Etwa: Man kann „Rinderteufel und Schlangengeister“ (54) nicht „proletarisieren“ wie normale Menschen.

Der Befund deckt sich mit dem Selbstzeugnis von Liu Bin-yän in seiner Autobiographie „A Higher Kind of Loyality – A Memoir of Chinas Foremost Journalist“ (New York 1990). „Ich wusste, dass Intellektuelle keine Ungerechtigkeit aushalten, trotzdem mussten sie eine Zeitlang unterwürfig sein wie Hunde. Innerlich setzten sie alles auf die Liste; wenn die Zeit reif wäre, würden sie die Punkt für Punkt wieder hervorholen. (….) ‚Nur Bildung und Gelehrsamkeit zählen, alles andere ist nichts wert’, das ist von Konfuzius, nicht einmal Maos Arm war lang genug, um über Konfuzius hinauszureichen.“ (54/55)  Liao anerkennend: „Ich finde, Ihr habt sehr viel Witz.“ Bei aller Fremdheit verständigen sie sich gut – und im zweiten Teil der Unterhaltung fachsimpeln sie über Toiletten und tauschen Anekdoten aus.

Mir kommt ein Argument für das Festhalten der  KP an den Schlüsselstellungen in den Sinn und ich schweife ab:

Jahrhunderte der Erfahrung lehrte die Staatselite den Umgang mit den ökonomischen und sozialen Kräften im Reich. Assistiert von der normsetzenden Elite, vor allem Konfuzianern, schuf sie eine starke Klammer. Das war der chinesische Weg, Ordnung im Chaos zu behaupten. Außerhalb und in Schwächeperioden herrschte Gesetzlosigkeit. Künftig könnte ich mir neben der Ausbreitung der Rechtstaatlichkeit sogar Demokratie vorstellen, und zwar auf lokaler und einzelstaatlicher Ebene wie in den USA. (Der Rest ist dort schon eine Farce.) Peking muss aber wie Washington immer das ungeliebte Gegenüber bleiben. Wenn schon Maos langer Arm nicht hinreichte ….

Noch etwas zur Elite und der Bemerkung, sie könne „keine Ungerechtigkeit aushalten“:

Mit ihrer asketischen Haltung sollten sie – wie der griechische Atlas – den Himmel – tragen, indem sie „das Gesetz“, alle Normen oberhalb der Sippenordnung und außerhalb der Religion durchsetzten, tradierten und zugleich erneuern sollen. Echte Funktionseliten haben in China Tradition. Das macht ihren Status aus. Und letztlich erwartet das Volk von ihnen, notfalls sich sogar aufzuopfern! Wie viele Helden und Schutzgötter sind daraus erwachsen!  – prägt das nicht die Individuen? Ich denke auch an das Gedicht von Lu Xun auf den Wasserbüffel, der dem Kind gehorcht, aber dem Himmel trotzt, und an die Geschichte der chinesischen Studentenschaft im 20.Jahrhundert, nicht erst 1989.

Natürlich sind die Kategorien äußerst abstrakt, bezeichnen nur eine Trennlinie. Wohin hat sie sich verschoben? Wird die verantwortungsbewusste Elite immer kleiner? Nein. Die immer komplexeren Steuerungsaufgaben im System China fordern und fördern das gesamtgesellschaftliche Verantwortungsbewusstsein. Warum erstaunen mich denn immer wieder solche chinesische Intellektuelle in den Thinktanks und Universitäten, von denen in den Medien die Rede ist?

Das Volk seinerseits hütet sich vor Systemkritik, vor Einmischung – aus guten Gründen – wenn es nicht zum Äußersten gedrängt oder gereizt wird. Es ist das Volk geschmeidiger Profiteure und Wendehälse, das sich ausdifferenziert.  Und jetzt entdeckt es die Freuden der Konsumgesellschaft und der Reisefreiheit.

Und die Dissidenten? Ob in Ungnade gefallene Mandarine oder Rebellen gegen Peking, sie werden  – paradox gesprochen – auch zu einer Elite, haben aber nicht die Position (Konfuzius), um legal etwas zu bewegen.

Dass viele Altkommunisten heute unglücklich sind mit den dekadenten, aber typisch chinesischen Verhältnissen, hat damit zu tun, dass der chinesische Kommunismus selbst etwas Westliches an sich hatte, und dass er sich mit chinesischen Utopien vom Glück verband.

 

„Wir sind Falun Gong“ (378ff.)

Der Kontakt mit diesen „einfachen Leuten“, die eigentlich „ängstlich wie Mäuse“ (379) sein müssten, macht Liao ungeheure Angst, und tatsächlich hämmert das Büro 610 bereits acht Tage später an seine Tür.

In der Erzählung der Frauen entfaltet sich nicht anderes als ein buddhistisches Höllengericht und ein Inquisitionsverfahren, das man sich chaotischer und barbarischer nicht vorstellen kann.

Die KP-Spitze ist zu der Auffassung gelangt, dass mit Falun Gong eine gefährliche Ketzerei im Volk Wurzeln schlage und gibt die Losung in der Hierarchie nach unten durch. Dort versucht man die Ketzerei mit allen Mitteln zu liquidieren, halsstarrige Anhänger werden wie Ungeziefer zerquetscht.

Frau Chens Vergleich der Partei mit einem „zänkischen alten Weib“ ist viel zu nachsichtig (382) und Liaos Ausruf „finsteres Mittelalter“ greift zu kurz. Auch in Europa wurden Ketzerverfolgungen von weitsichtigen kirchlichen und weltlichen Eliten machiavellistisch  betrieben. Öffentlich verabreichte Schläge (384) durch den örtlichen Parteisekretär sind nicht per se dysfunktionale Übergriffe, auch wenn sie hier sadistisch wirken. Die europäische Justiz pflegte diese Art von repräsentativer Öffentlichkeit vor den Augen der „Gaffer“ (384) bis ins 19. Jahrhundert (vgl. Foucault). Der Ausruf Liaos „Sie kennen kein Gesetz und keinen Himmel“ wird von Äußerungen des Leiters der Irrenanstalt bestätigt, in die sie eingewiesen wird: „Heul du nur deinen Himmel an“ (389). Die Begriffe „Menschen“ und „Gerechtigkeit“ sind für ihn ein „Pfurz“ (389). – Hierin könnte unabhängig vom Grad der Grausamkeit ein Fall der Verrohung durch die Despotie der KP, nicht nur durch die vielen antireligiösen Kampagnen vorliegen.

„Der kleinste Spalt“ im Ordnungsgefüge muss geschlossen werden, wenn er erst einmal die Aufmerksamkeit der Behörden erregt hat. Die Anhänger von Falun Gong wiederum suchen und nutzen „den kleinsten Spalt, der sich auftut“ (379). Der Meister hat die Anhänger zur Kompromisslosigkeit verdonnert „nicht lügen“ (384 – Kant hätte wohl keine Freude daran!). „Volkstänze“ (380) als bloss verdeckte Fortsetzung der Mission sind bereits sündhafte Schwäche.

Bei der Aussicht eines Mehrparteiensystems dreht die KP durch. Der auch von chinesischen Akademikern geäußerte Vorwurf an die KP, die Entstehung zivilgesellschaftlicher Organisationen nicht zugelassen zu haben, übersieht die unglaublich Neuheit dieses Konzepts in China. Im alten China hatten alle Volksorganisationen oberhalb der Sippenverbände und ihrer dörflichen Selbstverwaltung den Makel der Rebellion. Entsprechend waren und sind die Umgangsformen. Auch das kollektive Gedächtnis der Landbevölkerung reicht weit und es blitzt auf im Moment der Gefahr, so wie es Walter Benjamin beschrieben hat. Die Frau sagt: „Ich ging in Ketten und trug einen Kragen, wie die Räuber vom Liang shan Moor“ (387). Sie bezieht sich auf den berühmten historischen Roman. Auch die Kriegsverbrechen im antijapanische Krieg sind ihr präsent in Form eines japanischen (?) Films: „Komm über den Fluss des Zorns“ (390). Das Volk lernt Geschichte im Kino, an Hand von Comics und durch Kleintheater, in Gefängnissen, Amtsstuben und anderen Staatsinnenräumen.

 

„Der Komponist“ (162ff.)

Auf Serpentinenkurs in die Hölle. Die siebzig Jahre Leben des Komponisten lassen mich ratlos zurück. Zu viele Fragen.

Die strickenden Frauen bleiben in Erinnerung. Strickte nicht auch die Montagne im revolutionären Paris 1793-94? Wolf Biermanns Ratschlag kommt mir in den Sinn: „Sing’ gar nicht, sondern summ“.

Wir verfolgen einen existentiellen Fahrstuhl eines Kaders wie bei Liu Bin-yan, an den Volksmassen vorbei in den Kuhstall für Rechtsabweichler und zurück nach oben, nur scheint dieser weit dümmer, grausamer und sinnloser.

Die chinesische KP entwickelte sich in den ersten Jahrzehnten ausschließlich als eine Art Geheimgesellschaft und als ein Parteiorden mit lebenslangen Seilschaften. Wir wissen, Verrat an solchen Organisationen wird immer furchtbar bestraft; hier wird der Tod oft durch eine Pädagogik ersetzt, der es auf Todesopfer nicht ankommt, zur Umerziehung und Abschreckung nach innen, zur Volkserziehung durch lebendige Beispiele und Hassobjekte nach außen. Fragen:

Wie weit reichte das Studium von Lenin? („Wir oder sie!“) und die brüderliche Schulung durch die sowjetische GPU? Wieweit wirkte die eigene Intrigenkultur? Wie wurde eigentlich die asiatische Gehirnwäsche entwickelt, von der man in Deutschland in Verbindung mit dem Vietcong erfuhr? Weite Bereiche des Kellers (Adolf Holl) der chinesischen Kultur sind uns nur indirekt bekannt, durch eine detaillierte religiöse Ikonografie etwa. Der maoistische Comic „weißes Knochengespenst“ nach Motiven des Romans „Die Reise nach dem Westen“ zeigt nun seinen grauenvollen Hintergrund. Überhaupt sind die Romanklassiker wieder zu studieren, und vielleicht doch in ihrer langen Fassung!

Nicht vergessen, dass Mao (angeblich) in der Schule Romane unter dem Tisch las. Hier im Interview werden ausgesuchte Grausamkeiten explizit auf „Ritterromane“ zurückgeführt.

 

Der Arbeitsgruppenleiter – während des Großen Sprungs nach vorn!

Nur Kannibalismus! Archaische und zugleich apokalyptische Bilder. Eine tödliche Falle, wie ich sie vorher trotz aller einschlägigen Berichte nur mit der Situation von Menschen in der Gaskammer assoziierte. Diesmal Ersticken in Zeitlupe. Was kann es Schrecklicheres geben? Und die Frage: Wer hat sich eigentlich selbst umgebracht? Sicher nur jemand ohne Familie. In der Kulturrevolution und in den Städten war das noch mal anders.

Der Mönch

Im September suchte ich noch ein überzeugendes Beispiel für den asketischen Pol von „Schopenhauers Kompass“ (Urs App,2011): „vom Lebenwollen zu lassen“, und fand hier den buddhistischen Mönchs Deng Kuan. Es ging auch für Schopenhauer bekanntlich um Heilige.

Und warum halte ich den alten Deng für einen Heiligen? Er macht unter Maos Herrschaft Qualen biblischen Ausmaßes durch und bewahrt darin eine nicht nachvollziehbare Festigkeit. Wo er der Übermacht nachgibt, verliert er nicht seinen inneren Kompass. Dass nach alledem der örtliche Parteichef  regelmäßig die wenigen Einnahmen des Klosters erpresst, kommentiert er mit dem Satz: „Wenn der Rachen von einem Gierhals nicht zu groß ist, kann ich ihn doch stopfen“ (155) und auf die Frage, wie so das zerstörte Kloster aufgebaut werden soll: „Ach, was geht, das geht.“ (ebd.)

In seinen Überzeugungen ist er selbstredend konträr zur normalen Welt, aber er diagnostiziert sie nüchtern. Er schwärmt nicht, er doziert nicht. Er hat nach eigener Aussage „keine Lehrschrift zustande gebracht“. Als Landkind und hat er erst im Kloster seinen Bildungsweg begonnen. Überdies ist er schon als Hundertjähriger fast ein Heiliger. Also ein mir sehr fremder Mensch, kein Rattenfänger! Auch Schopenhauer hätte seine Freude an ihm, an seinen buddhistischen Überzeugungen und an seinem exemplarischen Fall. Und für die These einer  Hölle auf Erden, kenne ich kein schlagenderes Beispiel.

 

Das ist nur ein Bruchteil aller Geschichten im Buch. Es würde sich lohnen, über diese Geschichten ganz ernsthaft zu reden.

 

detlev()graeve.org  19.11.2012

 

 

 

 

Ein Gedanke zu „‘Fräulein Hallo und der Bauernkaiser’ (Liao Yiwu)

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