10. Januar bis 18. Mai 2020
EIN ARTE-FEATURE UNTERNIMMT DIE âDEKOLONIALISIERUNGâ DES MUSEUMS IN TERVUREN
Das Tervuren-Museum wurde Ende 2018 nach fĂŒnfjĂ€hrigem Umbau eröffnet. Es war offensichtlich, dass es unter feindlicher Beobachtung stand und den Erfolg seines „Reinigungsprozesses“ nachweisen musste.
Im Oktober 2019 sah ich dann einstĂŒndiges Feature, das vom belgischen Fernsehen fĂŒr ARTE produziert wurde: „Totems und Tabus – Belgiens Kolonialmuseum“. Wer immer das neue Tervuren reprĂ€sentieren durfte, demonstrierte eine austarierte neue Eintracht – nicht nur von FlĂ€misch und Wallonisch, um den Werbeeffekt nicht zu untergraben. Ich konnte meinen ersten Eindruck nicht verifizieren, da der Film schnell aus der ARTE-Medienbibliothek verschwand und ich nur ein paar Screenshots aufnehmen konnte.
Als wichtig ist mir jedoch die ĂuĂerung eines Forschers im GedĂ€chtnis geblieben. Am Beispiel eines GemĂ€ldes von Hieronimus Bosch in Prado erinnerte er die Ăffentlichkeit daran, dass „die koloniale und postkoloniale Geschichte eines Objekts auch zu seiner Geschichte gehört „.
Seit der Wiedereröffnung haben sich die intellektuellen Positionen zur kolonialen Vergangenheit Belgiens verschĂ€rft, soweit ich das ĂŒber das Internet beurteilen kann. Ich bin froh, dass mich niemand gebeten hat, Partei zu ergreifen, kann jedoch zwei pathetisch tremolierende PrĂ€sentationen âheiliger gestohlenerâ Objekte im Film nicht stillschweigend ĂŒbergehen, da meiner Meinung nach deren Bedeutung und die UmstĂ€nde ihrer Verbringung nach Belgien verzerrt werden.
Delcommune vs. Boma King
Ein Jahr vorher hatte ich Maarten Couttenier’s detaillierten Bericht „EO.0.0.7943“ (LINK) ĂŒber seine Recherchen zum groĂen Nkisi (Fetisch) aus Boma gelesen und ihn auf Deutsch in krĂ€ftigen Worten nacherzĂ€hlt, also kurz und voller Action (LINK).
Der Vorwurf „Raub sakraler Objekte“ wird neuerdings von Intellektuellen „mit einem mehr humanistischen als anthropologischen Begriff von Religion“ (LĂ©on Siroto) schnell erhoben. Im deutschen Sprachraum vermute ich darin eine rhetorische Strategie, denn „sakral“ wird als ominöses Fremdwort gewöhnlich mit „heilig“ gleichgesetzt und teilt dessen positive FĂ€rbung. Ein Katholik mag „Heilige“ verehren, darf aber auch ihrer Freundlichkeit vertrauen, da gibt es keine Ambivalenz. Im Film scheint der afrikanische Experte beim Fetisch von Boma Ă€hnlich zu argumentieren, wenn er einseitig den „Schutz der Gemeinschaft“ betont. Steckt darin der Einfluss „christlicher Erziehung“? So wie bei Achille Mbembe, der 1992 den Einfluss der katholischen Schule in YaundĂ© auf sein Denken eingerĂ€umt hat? ( FAZ 9.5.2020, S.9: âIsrael, les Juifs et Nousâ)
Fetische sind in Afrika zumindestens ambivalent, denn ihr Potential zum Schadenszauber liegt offen zutage. Vermittelt durch âSchadenzaubererâ kann letztlich jeder ZahlungsfĂ€hige einen Fetisch tĂ€tig werden lassen (Preston-Blier,LINK ; Strother (LINK).
Wahrscheinlich ist erbitterter Streit um „Werte“ beim Thema âsakralâ wirklich unvermeidlich.
Der erste Fall eines Fetischs aus Boma:
Die Faktoreien genossen damals ĂŒbrigens noch nicht den Schutz einer Kolonialmacht. Die neun âKönige von Gomaâ an der MĂŒndung des Kongo waren ihre Handelspartner und hielten sie erfolgreich vom Landesinneren fern. Als DĂŒrre und eine verheerende Hungersnot 1878 schĂ€tzungsweise ein Viertel der Bevölkerung dahinrafften und die Wohlhabenden verarmen lieĂen, erhöhten die ‚Könige von Boma‘ vertragswidrig ihren Zoll auf Exporte. In ihrer Verzweiflung besteuerten sie den Handel aber so hoch, dass er dann völlig verschwand, schreibt MacGaffey („Schlussphase“ im Link).
Eine militĂ€rische Konfrontation gewannen die Faktoreien Ende des Jahres. Dabei erbeutete der Faktorist A. Delcommune mit seinen fĂŒnfzehn (!) afrikanischen Söldnern im Wildweststil den âWar Fetishâ eines der neun Boma-Könige. Maarten Couttenier erfĂ€hrt aus Delcommunes Aufzeichnungen etwas ĂŒber die UmstĂ€nde des Besitzerwechsels und ĂŒber den Geldwert des Fetischs. Der belgische HĂ€ndler benutzte von da an dessen Abschreckungseffekt zum Schutz seines Warenlagers vor Dieben. Warum sollte er diese kostenlose âVersicherungspoliceâ wieder aus der Hand geben? Keiner der afrikanischen „Könige“ in Goma hĂ€tte dies ohne eine profitable Vereinbarung getan. Und wenn heute nach 140 Jahren der Enkel des unglĂŒcklichen Königs erklĂ€rt, dass seine Familie den Fetisch brauche und zurĂŒck fordere, geht es wahrscheinlich wieder um eine Einnahmequelle.
GroĂ und mit diesen Lappen umwickelt, ist die Figur wirklich beeindruckend. Doch anders als Pater Couturier (LINK) möchte ich diesen Fetisch nicht als âKunstâ in europĂ€ischer Bedeutung sehen, auch wenn sein Ă€sthetischer Aspekt zweifellos fĂŒr seine Wirkung relevant war. Wyatt MacGaffey weist auf die im Grunde triviale anthropologische Konstante hin, dass fast immer alle Sinne an der Wirkung eines Objekts beteiligt sind (LINK). Oder aus anderer Perspektive beleuchtet: Den MĂ€chtigen sind alle Mittel recht. Im Film fiel mir die natĂŒrlich unkommentierte Szene auf, in der der Diktator Mobutu sich wie ein traditioneller Herrscher auf einem viel zu groĂen Thron rĂ€kelte. (Darf man einem afrikanischen Diktator von vorneherein ein persönliches koloniales Trauma absprechen?)
Storms vs. Lusinga
Zum zweiten Objekt entdecke ich eine Monographie von Allan F. Roberts, eines Experten an der UCLA, Kalifornien, fĂŒr Geschichte und Kunst des östlichen Kongo: âA Dance of Assassins â Performing Early Colonial Hegemony in the Congoâ (Indiana University Press 2013). Er fĂŒhrt uns an die Ufer des Tanganjika-Sees in die 1880er Jahre, zur Konfrontation zweier Abenteurer. Sie begegneten einander auf Augenhöhe, wie man heute gern sagt. Nicht umsonst heiĂt die Studie âTanz der Mörderâ.
Der eine , Lusinga, war ein HĂ€uptling unter den Tabwa und Chef einer marodierenden Privatarmee von GlĂŒcksrittern am Tanganjika-See. Er trieb mit den Sansibari Sklavenhandel und terrorisierte ‚fremde‘ Dörfer der Umgebung. Seine – selbstverstĂ€ndlich magische – groĂe Holzfigur war sichtbarer Ausweis „legitimer“ Herrschaft.
Der andere, Leutnant Storms, war als inoffizieller Agent König Leopolds am Tanganyika-See auf sich gestellt. Auch er unterhielt eine kleine Privatarmee. Eine gezielte KrĂ€nkung durch den einheimischen Gegenspieler wollte er nicht hinnehmen. Seine afrikanischen Söldner brachten ihm dessen Kopf – und die Kraft-Figur. Sie mussten mit dem ‚König‘ verschwinden, damit dessen Familie mit ihr nicht den Herrschaftsanspruch erneuern konnte. Wegen eines Arrangements zwischen Morton Stanley mit dem mĂ€chtigen ostafrikanischen Handelsherrn Tippu Tip (LINK) wurde Storms fĂŒr Leopold ĂŒberflĂŒssig und kehrte ergebnislos nach Belgien zurĂŒck.
Die Figur beeindruckte Storms nicht nur als TrophĂ€e, sonst hĂ€tte sie nicht ĂŒber dreiĂig Jahre einen Ehrenplatz im heimischen Salon erhalten. Erst seine Witwe ĂŒbergab sie dem Kolonialmuseum in Tervuren.
Damit verschiebt sich fĂŒr mich die moralische Frage, ohne dass sie ihre SchĂ€rfe verlieren wĂŒrde, aber sie wird komplexer und kommt im Unterschied zur reinen Opferperspektive der vermutlichen RealitĂ€t nĂ€hert: Die belgischen, französischen und deutschen ‚Pioniere‘ der Kolonialeroberung bedienten sich ‚landesĂŒblicher‘ Methoden einheimischer Gewaltherrscher oder Milizenchefs.
-
Eins begreife ich nicht: Warum soll dieses Schnitzwerk fĂŒr EuropĂ€er ‚das bedeutendste afrikanische Kunstwerk in Tervuren‘ sein, wie im Film aus dem Off behauptet wird? âEher teigigâ wĂŒrde ich sagen, die FĂŒĂe, die Gestalt, und kein ehrwĂŒrdiges Gesicht, wie man es von Ahnenstatuen der Tabwa kennt.
Allen F. Roberts ging den historischen Diskursen beider Seiten nach, mit einem Quentchen Humor, und machte Erfahrungen mit dem, wie man hier und dort âhistorische Wahrheitâ versteht.
Die Internet-Plattform „Jstor.com“ bietet ĂŒberraschenderweise barrierefrei die KapitelanfĂ€nge des Buchs (LINK), die einen gewissen Einblick vermitteln, der aber erschwert wird durch die Wiederholung der Themen aus verschiedenen Blickwinkeln. Ich arbeite gelegentlich noch an Zusammenfassungen, etwa, was die traditionelle afrikanische Rhetorik angeht oder Storms‘ sĂ€kularen ‚Hausaltar‘.