FRITZ WIEGMANN – UNTERSCHIEDLICHE PERSPEKTIVEN AUSPROBIEREN – Sieben Lektüren

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Vorwort

Wohnzimmer April 2023

Die Reihenfolge der Lesenotizen ist chronologisch, der Bezug zur Person und den Bildern Fritz Wiegmanns unterschiedlich. Er steht mir momentan bei jeder Beschäftigung mit Kunst im Hintergrund, auch bei jeder Kunstlektüre. Die dort aufgeworfenen Fragen werden oft zu Fragen an ihn. Die Betrachtung seiner Bilder kann sich auch auf biografische Archivstudien (LINK) stützen.

Jede Lektüre verändert die Perspektive auf ihn, als ob ich ihn  einkreisen würde.  Mit manchem Künstler hat er sich selber auseinandergesetzt oder hätte er gern diskutiert, andere geben vor allem mir zu Denken.  Berühmte Namen tun nichts zur Sache. Wiegmann war sein Lebtag lang Künstler; den Titel kann niemand ihm verweigern. Und untereinander waren sie Alle, wirtschaftlich Erfolgreiche wie Erfolglose, Männer wie Frauen, nur “Kollegen”, die voneinander lernten und Ideen klauten, einander bewunderten, registrierten oder ignorierten oder verachteten….

BEREITS FRÜHER habe ich verschiedene Positionsbestimmungen  veröffentlicht, aber jetzt direkt vor seinen Arbeiten gewinnen sie neue Bedeutung.

26. April 2023. Hochgeladen 18. Mai und am 9.Juni aktualisiert

Lektüre Eins

Georges Braque ‘Mein Weg’

Bereits 4.5.2017 veröffentlicht im Blog “Wiegmanns Universitäten” (LINK)

Vor einiger Zeit traf ich auf ein quadratisches Bändchen der Reihe Die Arche über Georges Braque (Zürich 1958) und darin unter dem Titel Mein Weg (1954) ein von Dora Vallier aufgezeichnetes Gespräch. Darin nimmt er die Leser auf den Weg seiner Entdeckungen.

„… Meine künstlerische Ausbildung? Mein einziger Lehrmeister war die Zeitschrift ‚Gil Blas’. Mein Vater (Freizeitmaler) hatte sie abonniert. Ich war ungefähr zwölf Jahre alt; …. (11) In der Zeichenstunde tat ich nichts anderes als gegen den Lehrer zu hetzen und Karikaturen zu machen … ich hatte stets einen Abscheu vor der offiziellen Malerei – das ist heute noch genauso … Nach dem Gymnasium, mit achtzehn Jahren trat ich eine Lehre als Dekorationsmaler an … (12) ich lernte also falschen Marmor und falsche Holzfaserung herzustellen … Gleichzeitig folgte ich den Abendkursen für Zeichnen im Stadthaus von Batignolles und später an der ‚Académie Humbert’, eine Akademie wie alle andern, wo der Lehrer nicht zählte, und sämtliche Schüler Dilettanten waren, wo es aber sehr viel zu lachen gab. Dort traf ich Picabia, den ersten Maler, den ich kannte, und Marie Laurencin … ich war zwanzig Jahre alt und rückte in den Militärdienst ein.“

Dora Vallier fragt, ob nun die eigentliche Geschichte des Malers Georges Braque beginne – Feld der Kritik; seit vielen Jahren gewertet, klassiert und katalogisiert? Mitnichten!

„Nie habe ich die Idee gehabt, Maler zu werden … Ich hatte Freude am Malen und ich arbeitete viel….“ (13) Und so geht es weiter: „Die fauvistische Malerei hatte mir großen Eindruck gemacht, weil sie neu war, und das gefiel mir … Es war eine Malerei voller Begeisterung und sie passte zu meinen dreiundzwanzig Jahren … Da ich die Romantik nicht schätzte, gefiel mir diese körperhafte Malerei … (14) Ich war von Cezanne beeindruckt, von seinen Bildern, die ich bei Vollard gesehen hatte … Auch die Negerplastik hat mir einen neuen Horizont eröffnet … Ich hatte selbstverständlich ‚am Modell’ gelernt. Ich hatte bis jetzt nach der Natur gemalt, und als ich davon überzeugt war, dass man sich vom Modell befreien müsse, war es gar nicht so einfach … (15)“

Vergleichbare Abenteuer durchlebte auch der ehrgeizigere Pablo Picasso. Der Aufsatz von William Rubin in „Primitivismus in der Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts“ (MoMa, N.Y. 1984, 248-345) verdeutlicht das heute sehr schön. Zeitgenossen Picassos mussten schon genau hinschauen und durften nicht auf die Auguren vertrauen.

 

Vor W 11 und dem großen Karton W 44 sitze ich: die Bewegung im Wald einfangen. Endlich hat er den angemessenen,”dienenden Pinselstrich” gefunden, nach so viel unnötiger, aufdringlicher Wildheit in den Mittelformaten.

W 11_sig.o.D. 40×30

 

   Lektüre Drei

DAVID HOCKNEY:

       WELT DER BILDER – David Hockney und Martin Gayford im Gespräch bei Thames & Hudson (dt. Sieveking, 2016)  –  Blog vom 27. Februar 2018 ()

Mein 1973 verstorbener Lehrer Fritz Wiegmann hätte seine Freude an dem Buch gehabt, an der Abkehr von einem angeblichen ‚Fortschritt’, soweit er über technische Erfindungen hinaus geht, und an einer grenzüberschreitenden Betrachtungsweise, geankert vom Dialog zwischen Praktiker und Historiker, von Praxis und Reflexion. Dieser unideologische, ja anti-ideologische Dialog demonstriert die Gleichberechtigung aller Epochen, Regionen und Techniken. Und Technik ist ein wichtiger Aspekt, nicht mehr.

       SECRET KNOWLEDGE – Re-Discovering the Lost Techniques of the Old Masters

Auf Wiegmanns Spuren unter Anleitung des am Gestaltungsprozess interessierten und wortgewandten Malerkollegen Hockney:  “My concern … is with the history of making images … in these practical questions.“

L 80 Bosporus

Dafür habe ich Hockney p. 200ff.„The Visual Evidence“ aufgeschlagen.

Der Blick aus der Vogelperspektive erscheint schief und irritiert manche Betrachter. Sie werden aber so weit über die berühmten, die Bildmitte beherrschenden Gebäude hochgefahren , dass sie die dahinter liegende Meeresküste und den Horizont betrachten können. Der Himmel ist oben auf Minarett- oder Kirchturmhöhe abgeschnitten, sodass genügend Fläche für das rege Leben auf dem Wasser zur Verfügung steht. – Es handelt sich also doch nicht um vergrößerte Postkarten, auch wenn die Motive dieselben sind.

Hockney.city by the sea c.1425 p.207

L 80 profitiert also von der Verweigerung der Kamera-Perspektive: Das Ergebnis „suggests that you are moving and therefore are alive. You can see over high walls … a natural way of depicting space and close to the way we see in our memory.“ (p.206 zu „City of the Sea“ c 1425, attributed variously...). Es profitiert außer von der italienischen Renaissance-Perspektive vom chinesischen Bildkonzept, an das sich Wiegmann lange genug gewöhnen konnte. Wiegmanns Dampfer aus China hielt 1938 auf der Schiffspassage möglicherweise in Istanbul.

Hockney nimmt anderswo im Buch eine freihändige Architekturzeichnung Adolf Menzels regelrecht auseinander und kommentiert: „Arches are very difficult to draw freehand....“ (p.203). Die auf der rechten Bildseite ungeschickt abgeschnittene Moschee gäbe mehr Gründe zur Kritik, aber ist nicht so festzunageln wie die sorgfältige Zeichnung.

Nach meinem Eindruck enthüllt das Bild L 80 auch die Unzulänglichkeiten von Wiegmanns damaliger Maltechnik, zwar atmosphärisch, lebendig, aber ohne die grafischen Qualitäten der farbig übermalten Landschaften der von ihm verehrten Holzschnitte aus Yang Liu-jing.  Den „Dufy“ unter den Nianhua vergleichen! (LINK?)

 

Eine Textstelle sei nachgetragen: S.208 zum ’primitive’, noch nicht ‚perspectived Baptistry’ in Florenz (1352, unknown Florentine artist): „You get a sense of urban bustle without a person to be seen. You move among the buildings; you feel the claustrophobia of the narrow streets.“ (p.208)

 

 

 

L 23 Venedig – auf dem Karton einer Lieferung von “DU” aus Zürich nach Beatenberg

Bei L 23 schwimmt die Kircheninsel regelrecht in der blauenSphäre von Himmel und Wasser. Ihr filigran leuchtendes Weiß zieht, von rotem Steinbauten flankiert, unsere Aufmerksamkeit auf sich. Die entfernte Stadt auf dem Festland ‚ankert’ sie. Spiegelungen und reger Schiffsverkehr beleben unten, abwechslungsreiche Wolken oben. Der Horizont ist schief, rechts höher als links, so wie auf den Schnappschüssen aufgeregter Hobbyfotografen. Ich habe öfters erlebt, dass durch die Korrektur im digitalen Fotoprogramm die Spontaneität aus dem Foto verschwand. Wiegmann hat mit dem Trick den Meereshorizont unauffällig angehoben. Oder vielleicht: den Bogen des Raums, wie man ihn beim Drehen des Kopfes spürt, ins zweidimensionale Bild geholt.

Die Behandlung der Perspektive wird erst in der späten Serie der Thunersee-Ansichten richtig spannend.

 

Lektüre Vier

Sinologe Jullien : Fadheit oder Kraft (Kap.14) in Bregenz  3.3.23

Der bisher ungelöste Widerspruch der Verehrung chinesischer Tuschmalerei und die in seinen eigenen späten Arbeiten – besonders den Beatenberger Landschaften – die Formate fast sprengenden malerischen Energien lässt sich vielleicht besser verstehen. Wiegmann ist als Assistent des Sammlers Dubosc auf dem Kunstmarkt von Peiping historischen Einwänden, Widersprüchen gegen die herrschende Norm der „Harmonie“ (155) begegnet, erst recht an der Wende von Ming zu frühen Qing.

Julliens „éloge“ auf die Fadheit beginnt mit dem Zitat „Wenn das Dao durch unseren Mund geht, ist es fade und ohne Geschmack“. Die Geschmacklosigkeit gewinne unablässig an Wert, obwohl sie “am schwierigsten zu würdigen ist.“ (10) „Die Fadheit der Dinge ruft zu innerer Loslösung auf.“„Ihre Neutralität drückt das inhärente Vermögen der Mitte aus“ (11) Alle Strömungen des chinesischen Denkens … werden durch die Zurückhaltung und den Anspielungsreichtum der Künste Chinas – Malerei, Musik und Dichtung – offenbart“. Die Fadheit führt uns „an die Grenzen der Sinnlichkeit“. (11) – ich sehe darin das unscharfe Hintergrundsbild chinesischer Landschaftsmalereien, die mit dem Tuschpinsel gerade eben angedeuteten Charakterzüge samt den weißen Flecken, bringe damit auch den verspürten Mangel an plastischer Durcharbeitung in Wiegmanns figürlichen Bildern in Verbindung, obwohl der bereits vor 1936 zu beobachten ist, auch das Vermeiden realistischer Details in seinen Landschaften, aber das war es dann auch. Erst im 14. Kapitel „Fadheit oder Kraft“ wird kurz eine Gegenposition vorgestellt, selbstverständlich mit begrenzter Reichweite.

“Im Schatten …” S.183 Abb.53 Wu Li (1632-1718)

Auch in ihrer Qualität kompetent kritisierte chinesische Gemälde können meine Wahrnehmung der chinesischen ästhetischen Normen schärfen, etwa Kraftadern: „Im Schatten hoher Bäume – Ming und Qing“ – 1985, Ledderose Hrsg., no.53 Wu Li (1632-1718) “Kiefern und Wolken am Berg Heng“182f.: „einer der individuellsten Maler der orthodoxen Schule“, Wang Meng als „bevorzugtes stilistisches Vorbild“(Pinselstriche, gedrehte Kiefern)

„Spätwerk … Doch zeigt es einige Kompositionsschwächen, etwa den gleichförmigen Verlauf der Uferlinien, den nur waagrechtenasse Striche etwas beleben, die Beziehungslosigkeit der einander gegenüberliegenden Landmassen, den steil aufragendenden Fels, der in seiner Neigung keinen Halt zu haben scheint, und schließlich den etwa langweiligen rechteckigen ausschnitt der Wasserfläche daneben. In anderen Bildern …. mit zum Teil den gleichen Bildelementen weit besser geglückt. Verglichen mit anderen werken von seiner Hand fallen auch der nicht so klare Aufbau der Felsformen und die weniger lebendig modulierte Binnenzeichnung auf.“ (Mathias Reichert)

Die Bergform erinnerte auch entfernt an die „Kanzel“ in drei Fassungen. Übrigens sollte ich auch die Hedda Hammer herausgearbeiteten Formen des Hua Shan für einen Vergleich bereitlegen.

 

Gespräch in Frankfurt

Gespräch mit Karl über L 65 und L 71 (Dreigestirn), um Schlussfolgerungen erweitert

L 65_Wgm 30×40 cm

Wie selbstverständlich (Nebel? Regenguss?) Egal, ob die Wolke zu tief hängt. Ein Haus in der Mitte? Wir entdecken zusammen die Landschaft. Ich wende zwei Zeitfaktoren auf das Bild an: Fotografieren könnte man das Bild in einem Moment, aber wenn man es malen wollte, wären Wolken und Lichtstreifen bereits über alle Berge. Zweitens generell den der Entstehung: Wie sah das Bild vor den dunklen Konturen der Baumreihen aus und vor dem Weiß in den Wolken? Den ganzen Werkzeugkasten aus fünfzig Jahren Malerei verwendete Wiegmann zur Bewältigung des starken Eindrucks, den Landschaft und Wetter auf ihn ausübten. Meine Beobachtung an konventionellen Landschaftsgemälden hingegen: so viel Details. Hier aber suggerieren ein paar winzige Striche ‚Weiß’ Fassade, Fenster und Giebel zum Beispiel. Der Lernprozess passiert im Kopf, bei Maler und beim Betrachter. Dessen Leistung ist auch nicht unbedeutend – das sehe ich an mir selbst – denn er hat weder direkte Einsicht in den Landschaftseindruck des Malers noch in dessen ‚handwerklichen’ Arbeitsprozess, wobei nicht einmal klar ist, was an erster Stelle steht.

Es ist künstlerische Malerei, und dazu im Original. Karl entdeckt auch die räumliche Tiefe und konkret den auf das zentrale Haus zulaufenden Weg.

L 71_31,5×41 cm

Am ‚Dreigestirn’ fällt Karl auf, dass die Drei ursprünglich die Farbe des Himmels hatten, darüber gestrichenes Grau gab ihnen die Körperlichkeit, dies teilen sie mit den Vorbergen, die sich buchstäblich erst mit den breiten dunkelgrauen Konturenstrichen verselbständigten und davor schoben. Satte weiße Striche geben den Dreien erst die typische Form und reflektieren die im Sonnenlicht gleißenden Schneefelder.

Karl erzählt, welche Mühe er in der Schule mit dem Zeichnen hatte und neigt dazu, es auf den Lehrer zu schieben. Mir hat es Wiegmann in sieben Jahren nicht beigebracht. Ist es mit den Künsten wie mit der Mathematik ?

 

Lektüre Fünf

Gotthard Jedlicka „Mit Henri Matisse in Paris 1931“ –   …..von Norbert 15.3.23 erworben

Eine interessante Konstellation:

Das eben begonnene siebte Lebensjahrzehnt von Matisse.

Der Sechzigjährige als verlorener Avantgardist, kritisiert wegen seines materiellen Erfolgs mit ‚dekorativen’ Bildern, der seinerseits nicht mehr „verstanden werden“ will, sondern „reifen“ und sich „selber näher kommen“.    23

Zitate

(Reiseeindrücke Tahiti) Ich hoffe, dass etwas davon später in meine Malerei übergeht   18

Man kann an (einer solchen Ausstellung) viel lernen – und nichts. Ce qu’il faut imiter, c’est l’effort et pas la réussite.  (Man muss die Anstrengung, nicht den Erfolg imitieren) Das unterscheidet den wirklichen Maler vom Epigonen.   20

 Ich habe zeigen wollen, dass frühe und späte Bilder … in ihrer wesentlichen Substanz gleich sind. 22

 Ich war unglücklich über das Bild, das unter meiner Hand entstand. Ich sah die Landschaft, die vor mir lag. … Ich sah dies Rot, das dann, zum Teil, wieder abgekratzt ist. Es war zu dick aufgetragen. … So etwas kann im Eifer sehr leicht geschehen…. Ich musste es auf diese Art tun. Wie unbeholfen ist das gemacht. … ich erreichte die Wirkung, die ich hervorrufen wollte.  22

 Damals tat ich, was ich von innen her tun musste. … Damals scheint das mehr aufgefallen zu sein. Der Impressionismus befriedige uns nicht mehr. Seine reichen Mittel war für uns tot. … Für diese Befreiung war mit ein paar Pinselstrichen, die sich nicht auf überlieferte Formen beriefen, viel mehr getan als mit den Rezepten einer ganzen Akademie. …. Und was mich angeht: Ich gewann langsam Einsicht in das was ich tat.   23

 Es kam mir in jener Zeit darauf an, verstanden zu werden… viele Bilder , die heute noch mir gehören.  24

Néret Matisse Taschen p.100 Bucht Nizza 1918 90×71

Es ist möglich, dass einige Bilder einen brutalen Eindruck hervorrufen. Wer malt, hat in jedem Augenblick zu entscheiden. Ist es dem Maler zu verdenken, dass solche Entscheidung oft auf heftige Weise geschieht?…. 25

Wie oft ist man versucht, aus der Erregung zu gestalten! Und doch führt sie meist nur zum Entwurf. Und ein Entwurf ist kein Bild. …. Um ein gutes Bild zu malen, ein einziges gutes Bild, braucht man eine Fülle von Erregungen, die alle in ruhigem Zustand auf ihre malerische Eignung geprüft sein wollen. Sie werden mir zugeben: es ist schwierig, unter solchen Umständen ein Bild zu schaffen, das den Eindruck schafft, es sei in leichter Laune entstanden. Ich habe früh gelernt, auf Charme zu verzichten, um Charakter zu geben. Man hat das auf eine Methode zurückführen wollen. …    25/26  Meine einzige Methode ist Arbeit und Beobachtung.

Es liegt mir überhaupt nicht, Dinge und Formen zu erfinden … Das Malen ist auch ohne Erfindung eine ungeheuer schwierige Angelegenheit und gleicht dann auch immer wieder einer komplizierten Schachpartie. 26

Aber von jeher hat es zur Einfachheit Mut gebraucht … Wer mit einfachen Mitteln arbeitet, darf sich nicht fürchten, scheinbar banal zu werden.   27

 Sehe Sie, was in den Gängen und Sälen alles ausgestellt ist. Dabei ist es nur ein geringer Teil meiner Arbeit.       (Keine weiteren Anstreichungen am 15.3.23)

 

Zweite Zwischenbemerkungen am 2. April

Die fast schon hoffnungslose Zerstreuung künstlerischer Oeuvres – vielleicht der besten – unter eine unübersichtliche Zahl von Käufern, Mäzenen und Spekulanten in aller Welt wird als Normalität einer Künstlerexistenz angesehen. Gründet darauf doch auch der Stolz von Künstlern auf institutionelle Ankäufe; in den summarischen Lebensläufen werden sie regelmäßig hervorgehoben. Nun lese ich in der NZZ, dass angesehene Kunstmuseen – von den USA ausgehend – seit einem Jahrhundert künstlerische Arbeiten in den kommerziellen Kreislauf zurückgeben, zum Beispiel, um angeblich ‚aktuelle’, jedenfalls ‚angesagte’ Kunst erwerben zu können. Gut, dass es ja inzwischen oft aufwendige Kataloge und andere Publikationen gibt. Eine Errungenschaft der Reproduktion für „das Kunstwerk“, die Walter Benjamin nicht einkalkuliert hat! Jedenfalls sind ‚Tresore’ immer irgendwann gesprengt worden.

Die gerade blühende Restitutionsbewegung befriedigt nur – die wie immer definierten – Interessen privilegierter Opferkategorien, sie ändern nichts an der Gesamtsituation. Jeder muss sehen, wo er bleibt, ob Afrikasammler oder Sammler konventionell europäischer oder außereuropäischer Kunst. Als alter Mensch erfahre ich die Realität des ‚Laufs der Geschichte’, die ich vormals nur theoretisch unterrichtet habe. In der letzten Zeit erhalte ich viel Spam-Lob von Trollen für meine Blogs. Ich wäre aber an Diskussion interessiert. Der Köder kommerziellen Erfolgs ist ja so unattraktiv.

 

 Lektüre Sechs

PAUL CÉZANNE – Über die Kunst, Gespräche mit Gasquet, Briefe – rororo klassiker 1957, mit „D“ markiert, über sechzig Jahre aufbewahrt, vergilbt.

“Das Motiv“.  Wiegmann konnte mit der von Gasquet vermittelten (7) Begeisterung Cezannes wohl nicht mithalten, aber er hätte sich sicher davon anstecken lassen. Er hatte so viel weniger Zeit, war spät auf diese Chance gestoßen und bewegte sich je nach Saison auf ungastlicher Alpenhöhen, das Licht war nur mitteleuropäisch, wenn es nicht gerade dramatisch aufdrehte. Hätte er nicht wenigstens etwas mehr ‚Sonne’ auf die Bilder spachteln können? fragen sich Betrachterinnen und Händler. Doch auch Wiegmann war mit seinem ganzen ’Dickkopf’ Maler, Künstler.

Mir dienen „die Gespräche“ vor allem zur Schärfung der eigenen Wahrnehmung von Wiegmanns ästhetischer Perspektive, seiner Rezeption von Cezanne, den er als Orientierung genannt hat, und damit zum „beständigen Nachsinnen über das Verfahren der Meister“ (12). In seinem Kopf können sich die hier probehalber vorgestellten künstlerischen Programme verschränkt haben. Eine Kunstgeschichte mit hohem Anteil an Hypothesen und Rekonstruktion, zu der sich vielleicht nur ein Mensch mit eigenen unerfüllten Phantasien so hartnäckig versteigen kann.

Egal! Der Warenwert der Bilder Wiegmanns wird durch meine Bekenntnisse nicht gefährdet oder geschmälert. Er ist und wird ‚überschaubar’ bleiben. Sie zu entdecken, interpretieren und womöglich für eine weitere Generation zu erhalten, das muss einfach ausreichen in dem bereits zweiten Jahrhundert voller Kriege und Katastrophen überall in der Welt. Machen wir uns nichts vor!

Nun aber! Was streiche ich an?

Das Bild verdichtete sich im Gleichgewicht. Das Bild, das in seinem inneren Auge stand, völlig durchdacht in seiner Anlage, …., trat schon in den farbigen Flecken hervor, die es von allen Seiten festlegten Die Massen festigten sich und das Gebilde auf der Leinwand näherte sich jetzt dem höchsten Grad des Gleichgewicht und der Sättigung.“ …. „Es darf keine einzige lockere Masche geben, kein Loch, durch das die Erregung, das Licht, die Wahrheit entschlüpft. Ich lenke, verstehen Sie, den Realisationsprozeß auf meiner Leinwand in allen Teilen gleichzeitig. …. Alles was wir sehen, nicht wahr, verstreut sich , entschwindet. Die Natur ist immer dieselbe, aber von ihrer sichtbaren Erscheinung bleibt nichts bestehen.“ (8/9)

Schauen wir uns das an einem Beispiel an ….

Farbtöne, Abstufungen, ich mache sie fest (…) Sie bilden Linien, sie bilden Gegenstände, Felsen , Bäume, ohne dass ich an sie denke. Sie nehmen ein Volumen an, sie haben einen Wirkungswert.(9)

“Unvollendet Cezanne” Kat.131.A

Der Künstler ist nur ein Aufnahmeorgan, ein Registrierapparat …. aber weiß Gott, ein guter, empfindlicher, komplizierter … Aber wenn er dazwischenkommt, wenn er es wagt, der Erbärmliche sich willentlich einzumischen in den Übersetzungsvorgang, dann bringt er nur seine Bedeutungslosigkeit hinein, das Werk wird minderwertig. (9)

 Die Kunst ist eine Harmonie parallel zur Natur … Sein ganzes Wollen muss schweigen …. vergessen, Stille machen, ein vollkommenes Echo sein   …. muss dann ein Handwerk einsetzen, ein ehrfurchtsvolles Handwerk (9/10)

 … wie ich sie um Ihre Jugend beneide! Alles was braust! Aber mich drängt die Zeit. (10)

 … Empfindungskraft …. Gesamtharmonie …. Dieses starke Rot und Blau überfiel mich …. diese Urkraft, das heißt das Temperament, kann einen zu dem Ziel tragen, das man erreichen soll. 11

 ….diese lichtempfindliche Platte …. Lange Arbeit, Meditation, Studium, Leiden und Freuden, das Leben haben sie zubereitet. Ein beständiges Nachsinnen über das Verfahren der Meister.12

 Die großen klassischen Länder, unsere Provence, Griechenland und Italien, wie ich sie mir vorstelle, sind diejenigen, in denen die Helligkeit sich vergeistigt ….

Wiegmann zehrte über Jahrzehnte vom Mallorca-Erlebnis 1934-35. Das ist am ehesten noch in seinen Fotos spürbar, oder in seinen Verkleidungen und in der Idealisierung seiner bescheidenen Hütte. Malerisch herrschten andere Themen vor: Männerschönheit auf dem Hintergrund der erlebten Renaissance (Befreiung von Berlin), Porträts (Broterwerb); die Stilleben vor Fensterausblicken sind puppenhaft.

Frage: Zeigt L 38 etwa Mallorcas Binnenlandschaft am Abend? Raiguer mit Bergkette im Westen nördlich von Palma? Wiegmann besuchte die Insel in den sechziger Jahren noch einmal und war erschrocken über die Veränderungen. Von seinem Quartier 1934-36 aus lag Raiguer in direkter Nachbarschaft.

L 38 30×40 Mallorca?

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Cezanne: Schauen Sie diesen Sainte-Victoire … welche Melancholie am Abend, wenn sich diese ganze Schwere auf ihn senkt …. In seiner Bläue nimmt er teil an dem umhüllenden Atem der Luft. Dahinten rechts, auf dem Pilon du Roi, sehen Sie dagegen, wie die Helligkeit feucht und schillernd schwebt. Das ist das Meer. Das muss man wiedergeben. Das muss man verstehen…. (12/13)

Parallele Erfahrungen mit dem Berner ‚Dreigestirn’ und den Bergketten hinter dem Niesen und dem See natürlich. Ich mache Cezanne zum Dolmetscher-Guide für Wiegmann

Wir sind heute zivilisierte Menschen, das Verlangen nach dem Klassischen ist in uns ….Es gibt eine Art von Barbarei bei den falschen Primitiven, das hassenswerter ist als selbst. Man ist es nicht mehr. Uns wird die Geschichtlichkeit angeboten. die Akademie. Man kann heute nicht mehr primitiv sein. Man muss sie brechen, sie ist der Tod der Kunst. …. Man mag reden was man will, es ist der schlimmste Niedergang, wenn man den Primitiven und Naiven nur spielt. Greisenalter. (14)

 Wiegmann steckte  anfang der Dreißiger Jahre in einer Sackgasse; Kubismus und Agitationskunst  waren ausgelutscht. Später Erfolg in New York. Gewagte Materialien als Ausweichbewegung. Suche figurativ und Porträt. War die mir gegenüber betonte Abgrenzung von ‘Neuer Sachlichkeit’ auch nur halbwegs gelungen ?

Der “Thementag Picasso” am 2.April 2023 in ARTE  betont das biografische Malen und Bilden, das Kaschieren etwa der Leidenschaft für Fräulein Walter, die schiere Bilderproduktion und Anhäufung; ich registriere das Selbstzitat handwerklicher Routine, die (damals) skandalträchtige Masche und Kehrtwendungen (wie im Mode-‘Zirkus’) und darüber die Selbstmystifikation gebreitet und die Legendenbildung seitens der Linken (“Guernica”, “Friedenstaube”):

Agostino Carracci Omnia vincit Amor 1599

Cézanne: Ja, das abstrakte Handwerk führt am Ende zum Verdorren; unter seiner geschraubten Rhetorik, in der es sich erschöpft. Zum Beispiel die Bolognesen (Brüder Carracci, ende des 16. Jh.).Sie empfinden nichts mehr. …

Die großen Worte, das sind die Gedanken, die nicht Ihnen gehören. Die Klischees sind die Pest der Kunst. Sehen Sie die Mythologie in der Kunst. …. Ein Kerl kann nicht die Reflexe des Wassers unter den Blättern wiedergeben, da klebt er eine Najade daran.

Gasquet: Aber Veronese, Rubens, Velasquez, Tintoretto, die Sie doch lieben? –

Cézanne: Sie! Sie besaßen eine soche Lebenskraft, dass sie in all diesen morschen Bäumen den Saft wieder kreisen ließen ….15

Ihr Fleisch … hat eine Wärme des Blutes. Cellini den blutenden Kopf am Arme des Perseus schüttelte ….. einen feuchten Saft an seinen Fingern kleben fühlt .. Wiegmanns Entdeckung im Süden?

Es war ihre Natur, diese Körper von Göttern und Göttinnen. Sie verklärten damit den Menschen angesichts der Madonnen und Heiligen, an die sie nicht mehr glaubten. Schauen Sie hin, wie kalt ihre religiöse Malerei ist. ….. In dieser Renaissance gibt es einen Ausbruch einzigartiger Wahrhaftigkeit, eine Liebe zur Malerei und den Formen, die man nie wiedergefunden hat. – Die Jesuiten kommen. Alles ist geschraubt. Man lernt, man lehrt alles.

Courbet Waldinneres bei BadenBaden – Bildschirmfoto

Die Revolution muss hereinbrechen, damit man die Natur wiederentdeckt, damit Delacroix seinen Strand von Etretat malen kann, Corot sein altes Gemäuer in Rom, Courbet sein Waldinneres und seine Wellen. … (16)

 

 

Woran dachte Wiegmann bei seinem Waldinneren, das er wiederholt zum alleinigen Thema machte?

Lektüre Sieben

Ein revidierter Blog zu Max Beckmann “Der Mann im Mantel malt Landschaften”

(LINK) und zwei interessante Beispiele später Landschaften aus dem Gedächtnis gemalt, also Seelenlandschaften und biografische Zeugnisse. Abbildungen aus dem Ausstellungskatalog “Landschaft als Fremde” in der Hamburger Kunsthalle, Hatje Verlag 1998:

Beckmann CapMartin 1940 S.154

Beckmann Meer 1943 S.143

 

 

 

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Mit dieser stark kontrastierenden Malerbiografie und dem ihr angemessenen künstlerischen Konzept möchte ich den ersten Teil der UNTERSCHIEDLICHEN PERSPEKTIVEN schließen. Ich kenne bereits Kandidanten für die Fortsetzung.     8. Juni 2023

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