Wichtige Ergänzung 21.2.2018 unten
30.9.2017 Erste Beschreibung einer ‘hermetischen’ Figur
25.5 cm hoch, treffsicher geschnitzt, gepflegt, wie zu einem Kiesel gerundet. Die Figur fasst sich gut an. Er riecht dezent rauchig. Die Glättung hat nicht alle Holzfehler und ‚Schnitzer’ verschwinden lassen. Optisch matter Glanz, haptisch gebremste Glätte. Alle Ansichten, auch die Dreiviertelansicht sind ausgewogen komponiert, am meisten Spannung baut noch die Rückansicht gegen die anderen Ansichten auf, die im Gegenlicht auf den Umriss reduziert einem Scherenschnitt gleicht.
Ein fein geteiltes, jeweils konkav geschliffenes Gesicht, plastisch hervortretende Bohnenaugen, die wohlproportionierte Nase und in weitem Abstand darunter der kleine geöffnete Mund, nach innen gedrehte Füße und Knie, männlich auseinander stehende Pobacken, angedeutetes Geschlecht, runder Rücken, Bauchwölbung, fehlender Hals – aber welche Details tragen überhaupt Bedeutungen? (Erläuterung bei Link)
Die Ruhe der Figur hat auf mich eine ambivalente Wirkung. Auffällige Unauffälligkeit. Unangreifbarkeit. Es gibt an dieser Harmonie nichts auszusetzen, zu ergänzen.
Die Figur trägt rechts wie links wie selbstverständlich drei Zacken, die eigentlich beunruhigen sollten, deren Energie aber seitlich in den Rumpf zurückgeleitet wird. Sie laden die Figur mit ästhetischer Energie auf.
Sie wirken offen für verschiedene Deutungen und regen Spekulationen an. Wird die Schlangenform anderer Figuren zitiert, etwa die kantigen ‚Wellen’ an Schlangenfiguren wie Muzombolo und Mulima (Quai Branly, Liz Cameron: L’Art des Lega 2013, ill.138,139)? Oder gestutzte Flügel, mit der Betonung auf ‚gestutzt’? Ich denke da an die (noch) ausgebreiteten Flügel der Figur Mutu Nyabeidilwa (Link).
Es wäre übertrieben, der Figur pfiffige Aufmerksamkeit zuzusprechen. Hat schon jemand über die verschiedenen Augen der Lega-Figuren geschrieben?
5.10.2017 ‘Morphologische’ Eigenheiten als Deutungsansatz? (S. Klopper)
Sandra Klopper ( “Speculations on Lega Figurines“, African Arts 1985,19-1,66) unterscheidet bei den Figuren der Lega zwei große Gruppen nach den Kategorien des Moralcodes, wie sie Biebuyck 1972 zusammenfasste:
bunene: das Gute, Glück, Perfektion, Größe, Leistung, Erfolg und Reputation
sowie bwanya: das Schlechte, Pech, fehlende Mäßigung und alle anderen Verhaltensmuster, die ein wahrer kindi nicht zeigen sollte“ (65) – kindi bezeichnet ein Mitglied der höchsten Ranges des Bwami.
Ihre These: Schon der Stil einer Figur der Lega vermittelt diese Kategorien durch allgemeine Qualitäten. Aus einigen morphlogischen Typen und ihren Aphorismen gewinnt sie die Überzeugung, dass Symmetrie, Balance und anatomische Vollständigkeit generell für Figuren reserviert seien, die Tugendkonzepte und aufrechte Moral repräsentierten, während die negativen Kräfte durch Assymmetrie, anatomische Unvollständigkeit und physische Entstellungen vertreten seien. (66) Anatomisch vollständige und recht naturalistische Figuren habe Biebuyck samt ihren Aphorismen in seinen größeren Studien vernachlässigt.
Meine Frage: Symmetrisch und ausbalanciert ist die Figur zweifellos, aber ‘anatomisch vollständig’? Die Figur ist zweifellos eine aus dem Kontext der Initiation zu höheren Rängen, eine aus dem Korb für die zeremonialen Belehrungen, stilvoll und gepflegt. In Analogie zum eigenen Körper reinigte, ölte und bestäubte man die Figur vor dem Gebrauch mit weißem oder rotem Pulver, nachdem man sie aus dem Korb entnommen hatte (Liz Cameron 2013, 144).
Ich vermag die Figur kaum mit der Ästhetik der moralischen Hässlichkeit zu verbinden, obwohl der Stil dieses Korbes vielleicht bloß diskreter, würdevoller war, näher an den in Elfenbein geschnitzten Objekten. Der Geschmack des Auftraggebers, Kunst des Schnitzers und nicht zuletzt die Lebensbedingungen in der Region (Link) könnten eine Rolle gespielt haben. Der Schritt in die Sphäre zumindest der moralischen Zwielichtigkeit wäre zumindest einen Versuch wert.
28.1.2018 “Kakulu Ka Mpito“, der entehrte Greis
Sandra Klopper diskutiert eine ausgesprochen negative und ordinäre Frauenfigur: Wayinda, die mit einem jämmerlichen entehrten Ehegatten verbunden ist: Kakulu. Die Abbildungen 3. und 4. sowie 10. sprechen für sich.
Daniel Biebuyck umreißt die speziellen Rollen der Wayinda und des Kakulu im Standardwerk “Lega Culture” (Berkeley, L.A., London 1973) speziell für die unter Pl. 69 abgebildete Figur:
“….. Die Figur Kakulu befand sich im Initiationskorb zweier Klans, zusammen mit anderen negativen Figuren wie Wayinda (die Frau, die sich durch Ehebruch während ihrer Schwangerschaft rituell besudelt hat) und Mukobania (der frivole Rowdy, der Streit unter den Leuten verursacht). Es würden dem Objekt zwar verschiedene Bedeutungen zugeschrieben (Hinweis auf eine Publikation von 1953), aber dass sie Kakulu darstelle, darin herrsche Einmütigkeit. Kakulu – der Alte, der Opfer entweder seiner ehebrecherischen Gattin werde oder von Mukobania, der Ärger verursacht habe, weil er leichtsinnig einige Fremde zu einem Besäufnis zusammengerufen habe.” Kakulu ist nicht zwar nicht persönlich für den Niedergang seiner Familie durch ritual pollution verantwortlich, aber darin verstrickt.
Fragen zum Tabubruch der Gattin.
Die strenge Bewertung des Ehebruchs als ritual pollution verwundert etwas und wirft die Frage nach dem entscheidenden Element auf. Was wissen wir schon über die Sexualität während der Schwangerschaft in den Stammesgesellschaften im Kongobecken? Wer schreibt darüber?
Während seiner Aufenthalte (1961-1973) erfuhr F. J. Thiel bei den Bayansi etwa von der „Pflege des Bauches“ : der Fötus müsse durch Samen des Mannes ernährt werden und bei der Erstgeburt der Geburtskanal durch gestandene Männer erweitert werden. (‘Jahre im Kongo’, (2001, S. 207) – Wie weit die Vorstellungen damals und immer noch verbreitet sind, kann ich nicht beurteilen. Doch der Fruchtbarkeit der Frauen und einer komplikationsfreien Geburt gilt überall die Sorge, und über allem natürlich der Harmonie in der Gesellschaft. Der gelten die gesellschaftlchen Regeln. So lässt sich Fremdgehen durch Entschädigungszahlungen aus der Welt schaffen; voreheliche Liebhaber werden durch Zahlung eines Huhns aus dem Bauch der Braut ‘vertrieben’. Während der zweijährigen Stillzeit werden ‘die ehelichen Pflichten’ durch jüngere weibliche Verwandte übernommen. u.s.w.
Die Lega haben laut Biebuyck zwar komplizierte Heiratsregeln und betrachten viele Kombinationen unter Kriterien der Klanzugehörigkeit als ‘Inzucht’, aber sie praktizieren traditionell Polygamie. Frei von solchen Problemen sind Mischehen mit Bembe, Songola oder Bangubangu, vor allem in Grenzdörfern. Reiche Väter mit vielen Frauen schenken zuweilen einem Lieblingssohn eine ihrer recently married junior wives. Witwen werden vererbt an enge Verwandte (widow inheritance) – mit Ausnahme der eigenen Mutter und ihrer älteren Schwestern.
Eine Sonderstellung hat nur eine Frau: A woman who has achieved the highest female grade of bwami is perpetually married to her husband, she can be neither divorced nor inherited, (Biebuyck 1973, p.43), also die mit ihrem Gatten in den höchsten Grad des Bwami eingeweihte Erste Frau kann sich weder scheiden lassen, noch vererbt werden.
Allein ihre sexuelle Untreue kann eine existentielle Katastrophe für die Familie bedeuten. Bei ihr werden bereits geringere Übertretungen wie ungebührlich lange Abwesenheit vom heimischen Herd etwa bei der eigenen Verwandtschaft geächtet und zum Gegenstand der moralischen Unterweisung (Siehe Beitrag zur Hornvogel-Figur “Die unwürdige Gattin” Link).
Irgendwann bekomme ich Zweifel, wie lebensnah das böse Exempel ist. Die Erste Frau muss erst schwanger werden – hat sie da bereits die höheren Weihen erreicht? Auf Feldfotos sehe ich nur alte Frauen! Und dazu dann die Untreue! Das wäre schon eines deutschen “Tatort” würdig!
21. 2. 2018 Die Botschaft war sogar äußerst lebensnah!
In seiner hochkonzentrierten kurzen Geschichte der Kunst der Lega innerhalb des Bwami – “The Decline of Lega Sculptural Art” in “Ethnic and Tourist Art” pp. 334-349, Berkeley 1976 – behandelt Daniel P. Biebuyck die Ablehnung der vielen unerwünschten Veränderungen, die mit den Europäern gekommen waren durch die Bwami-Honoratioren. Dabei konnte bei der Initiation eine moderne Glühbirne eine traditionelle Figur ersetzen und wurde vom Aphorismus begleitet: “Wer die Frau eines Würdenträgers verführt, verspeist ein Ei mit üblem Geruch.” Man umschrieb damit die Kritik daran, dass die belgischen Kolonialgerichte die strengen traditionellen Sanktionen in einem solchen Fall nicht mehr anerkannten. Auch Scheidung und Wiederverheiratung solcher hochrangiger Frauen wurden nun von der neuen Autorität der Weißen toleriert. (p.345)
Nur wenige Lega-Gemeinschaften verwendeten Objekte aus europäischer Herstellung kultisch. Die anderen vermittelten dieselbe Boschaft über traditionelle Figuren. Der Aphorismus war immer noch das entscheidende Element. Biebuyck schließt seinen Aufsatz mit zwei weiteren Sentenzen: “Armut ist keine Schande und kein Grund, um zum Dieb zu werden.” Doch beschämt und verfolgt zu werden, ist unerträglich: “Das Huhn wird vom Regen geschlagen, seine Federn hängen herab.” (p. 349)
Der verklausulierte Protest gegen die europäischen Aggressoren und daran, dass sie die traditionelle Ordnung und Moral in den Dörfern der Lega zerstören, ist für mich eine plausible Stoßrichtung in Verbindung mit der Figur Kakulu. Gibt es eine bessere Erklärung für die Traurigkeit der Figur und für ihre Tragik?
Vergleichsstücke – Was haben diese Kakulu Gestalten mit meiner gemeinsam?
< Biebuyck 1973 69. > Liz Cameron zeigt zwei Kakulu (ill.136, 137).
Der “Old Man“ wird mit angelegten Armen – undifferentiated from the torso – dargestellt Oder er scheint die Hände über dem kurzen aber dicken Kugelbauch zu falten. (B. 1973 pl.69) . Das hat er auch mit der früher besprochenen “freien Figur auf freien Füßen” (Link) gemein, die ich damals noch nicht identifizieren konnte. Zackig verstümmelte Arme können dieselbe Botschaft vermitteln: Kakulu kann nichts mehr tun, ein hilfloser Greis!
Wenn wir auf die Beine schauen, wirken sie meist lang und steif. Die Füße lassen es – mit einer Ausnahme (ill.137) an Stabilität fehlen.
Allgemein liegt der Schwerpunkt zu hoch. Dazu trägt der durchwegs große oder zu große Kopf bei. Meine
Figur scheint zwar stabil auf seinen kurzen Beinen, aber die abstrahierten Fußspitzen sind stark nach innen gedreht. Ihr Ausdruck ist ‘betreten’. Doch Vorsicht: Der Schiedsrichter (Link) hat die auch!
Große halslose Köpfe auf rundem Rücken – das Alter? Trotz unterschiedlicher Stile geben ein vorgeschobene spitzes langes Kinn und Glupschaugen den Gesichtern einen traurigen, ja kläglichen Ausdruck. Mein Zackenmann macht keine Ausnahme.
Der Kakulu hat seinen Namen nach dem Affenfell, das seine Frisur bildet. Einzelne Haare haben sich an geflickten Stellen meiner Figur erhalten. In den Ill. 135 und 136 wirken die Fellfrisuren und Backenbärte ungepflegt, ja grotesk.
Die Erwerbung vom März 2015 aus dem Beitrag “Freie Figuren auf freien Füßen” (Link)
Die damals behandelten Themen waren der bewusste Verzicht auf Sockel und die zeittypische Herablassung eines Constantin Brancusi gegenüber afrikanischer Stammeskunst. Revidieren muss ich heute nur die Begeisterung über die empfundene Leichtigkeit, Beschwingtheit. Ich gewinne damit nicht nur eine Einsicht in unterschiedliche Bildsprachen, sondern zugleich ein weiteres Anschauungsobjekt.
Umdeutung
Die kleinen Füße – einer halb, einer ganz abgebrochen – signalisieren Unsicherheit, die gebeugten Knie vielleicht gar ‘weiche Knie’, die erhobenen Hände sind vielleicht zur Klage erhoben (wie bei 68. und 69.); das Geschlecht ist verschwunden (wie bei 68. und 69.) der kugelig gebeugte Rumpf könnte der eines alten buckligen Menschen sein. Kakulu ‘tanzt’ unfreiwillig. Treffender wäre: Alles um ihn herum beginnt zu kreisen, zu tanzen; ihm wird schwindlig. – Eine sehr alte kleine (20,5 cm hohe) Holzfigur, fleckig glänzend abgeschliffen, der man Beschädigungen leicht verzeiht.
Variante in Elfenbein
Auch diese stilisierte alte Elfenbeinfigur bot sich für die Verwendung als “Kakulu” an. Ich habe bewusst die Seitenansicht gewählt, weil da die am aufgedunsenen Körper schlaff anliegenden Ärmchen deutlich werden. In der Vorderansicht könnte man sie glatt übersehen. Doch auch die ‘blind’ wirkenden Glupschaugen und der kleine Mund passen zu den Vergleichsobjekten.
Machen Sie sich in Ihrer eigenen Sammlung vielleicht auch auf die Suche?