Ein Würdenträger erinnert im Ritual an seinen Autoritätanspruch
Die Experten scheinen sich über den Figurentyp einig:
Liz Cameron übernimmt 2013 – in „Secrets d’Ivoire“ Musée du Quai Branly 2013, p.162 zu ill.141-142 , u. Anm.37 – Daniel Biebuyck’s Interpretation von 1973 in „Lega Culture“ pl.66:
„Figuren mit einem oder zwei erhobenen Armen illustrieren das das Vorrecht der Würdenträger im kindi-Rang, als Schiedsrichter bei Streitigkeiten und Familienfehden zu wirken. Sie heißen ‚Kasungalala’ (Cameron: ‚kasangala’) und der zugehörige Sinnspruch (aphorism) lautet:
„What shoots up straight; I have arbitrated Igulu (lit.: the sky); I have arbitrated something big.“- „Was in die Höhe schnellt; ich habe den Himmel (Igulu) befriedet; ich habe ein großes Problem gelöst.“
Die Figur
Heinz war ganz aus dem Häuschen. Er fand die Frauenfigur daneben (Link) direkt langweilig. Mich faszinierte die Wucht der Armstreckung, nein: der Körperstreckung, als würde sich die ganze Figur daran hochziehen. Sofort dachte ich bei der Haltung an Streberhaftes, Angestrengtes, an die Anmaßung im Anspruch auf Autorität. Denn ‚eigentlich’ verlangt doch eine Vermittlungsaufgabe große Geduld, Besonnenheit und Erfahrung. Der Besteller der Figur legte offensichtlich Wert auf die Betonung eigener großartiger Leistungen, und wir werden noch sehen, er war nicht der Einzige.
Genial sind die atemberaubenden Proportionen, die schein-perspektivischen Verkürzungen: am größten sind die Hand und der aus dem Torso bruchlos hervorragende Arm, dann der Kopf mit dem weißen Maskengesicht. Nach unten wird der Körper immer kleiner. Ich möchte das ’expressionistisch’ nennen.
Nichts Überflüssiges: Finger nur an der wichtigen Hand, der männliche Hüft- und Beinbereich nur als Kontur. Überhaupt genügen Konturen zur Charakterisierung der dynamischen Figur aus allen Richtungen. Der sichere Stand und die Aufrichtung des Körpers wirken zusammen. Nacken und Schultern sind verschmolzen. Die Körperenergie kann von den Fußspitzen bis in die Fingerspitzen fließen. Das weiße Gesicht sitzt flach wie eine Miniaturmaske auf dem Kontinuum. Die dicken Bohnenaugen und die gerade Nase haben zusammen mit der Mundkerbe auf der weißen Fläche einen brillanten Auftritt.
Das Holz hat oberflächlich an Käferfraß gelitten, wurde aber vorher und lange nachher gepflegt. Biebuyck (1973,179) nennt das: “consecration through usage“ – Erst der Gebrauch und lange intensive Pflege, der Körperpflege vergleichbar, vollenden das Werk: Die inzwischen rot oder weiß aufgefüllten Vertiefungen folgen ebenso der senkrechten Achse, sie haben nicht ganz die Breite der Kerben zwischen den Fingern. Sie tun der Wirkung keinen Abbruch, im Gegenteil.
Mein unorthodoxer Gedanke – Zoé Strothers Studie über die Pende „Inventing Masks“ bringt mich auf darauf: Und wenn ein Neutöner unter den Schnitzern ein bereits ‚angefressenes’ Holzstück für sein ‚minimalistisches‘ Werk verwendet hätte?
Dagegen Biebuyck (173): Der Schnitzer bekommt das Material vom Besteller, neben einem symbolischen Geschenk.
Oder – warum auch immer – ist zu schwaches Holz verwendet worden? Wie dem auch sei, Freund Klaus sah das alles ganz anders: für ihn war die Figur erst einmal unprofessionell, aber durchaus im Rahmen des formalen Repertoires der Lega. Er begeisterte sich für eine zweite Figur. ‚Museumsstück’ rief er aus. (Sie wird Thema des nächsten Beitrags.)
Zurück zum Figurentyp : Vergleichsstücke
Biebuyck „Lega Culture“ ill. 66
Das sichtlich sehr alte Stück (25,5 cm) erscheint mir noch viel skurriler – und geheimnisvoller. Biebuyck hebt auf handwerkliche Ausführung und Erhaltungszustand ab, wenn er dazu ausführt: “Similar well carved and well polished statues of kindi are functionally equivalent to ivory and bone carvings.“ – Ähnlich gut geschnitzte und polierte ‚kindi’-Statuen ersetzen in der Funktion Elfenbein- und Knochenschnitzereien. Selbst auf dem kleinen s/w-Foto spürt man die Dichte des Holzes, die Glätte und den starken Abrieb der ursprünglich scharfen Kanten. Die bizarre Komposition scheint er in die Güte der Schnitzarbeit einzubeziehen, geht aber nicht auf Details ein.
Cameron bildet dasselbe Stück auf S.23 frontal und in Farbe ab; dabei fallen eine grüne Halskette und geheimnisvolle Handhaltung auf. (Siehe unten auf einer Abb. im Hintergrund )
Cameron Ill. 141:
Die Figur wurde vor 1966 von Prigogine und Massar im Kongo gesammelt, 17,5 cm hoch,
Die Figur hat einige Gemeinsamkeiten mit meiner: Die strenge Reduktion auf einen ungegliederten Körper ist noch weiter getrieben, bis auf die großen Hände, deren nach vorn gekehrte Handflächen leicht ausgehöhlt sind. Die Gesichtsmaske ist zentral und größer. Auch hier beeindruckt die Streckung des Körpers. Die Geste ist aber eine andere: Die geöffneten Handflächen scheinen so etwas wie eine riesige Kugel vor sich zu stemmen. Eine weitere Gemeinsamkeit: großporiges trockenes Holz. Hier treten an Stirn und im Brustbereich Jahresringe sichtbar hervor.
Figur in ill. 142
Die gleich große (17.8 cm) hölzerne Figur repräsentiert einen mir unbekannten Stil. Sie wirkt in der kleinen Farbabbildung so glatt poliert und honigfarben wie altes Elfenbein. Cameron zeigt in ill. 146 (p.163) eine stilistisch vergleichbare Figur in Elfenbein. Biebuyck würde sagen: Sie sollte eine solche ersetzen. Sie ist eindeutig durch Brüste und einen leicht gerundeten, von einem Nabel gekrönten Bauch als Frau gekennzeichnet. – Waren auch mit ihrem Gatten in den höchsten Kindi-Rang initiierte Frauen zur Vermittlerrolle berufen? Sandra Klopper (AA 1985 t.19,1 p.65) zitiert Biebuyck mit der Formulierung „women of virile status“, also Frauen mit männlichem Status, die an Verhandlungen und Beratungen aktiv teilnahmen. Sie bietet als weiteres Erklärungsmuster an: die assoziative Verbindung mit Kontexten, die noch nicht ergründet sind.
Schließlich die Figur aus meinem ersten Lega-Beitrag (Link)
Daher kennen Sie vielleicht die nun folgende Figur. Sie ist 22,4 cm hoch und damals mit zwei Genossen – vermutlich sogar aus demselben Korb von Figuren – in meine Sammlung gekommen. Sie glänzt an ihren vielen Kanten und zeigt Maserung, denn sie wurde seinerzeit in eine Art Blockstil aus hartem Holz gehauen. Die Bemühungen um Glättung der Oberflächen endeten an den Kanten, ob die nun gewollt waren oder zufällig entstanden. Die Vorderseite ist trotzdem klar und plastisch ausgearbeitet. Und Löcher im Holz am Hinterkopf wurden vor langer Zeit mit Harz geschlossen.
Wenn ich nun wieder danach greife, spüre ich ihr ‚unverwüstliches’ Alter und ziehe sie überraschend meiner Neuerwerbung vor. Das muss an ihrer langen Dienstzeit liegen, denn die Bauart ist grob. Zum Beispiel ist die Hand monströs, der Daumen abgespreizt, die restlichen vier Finger im Block ein wenig eingekerbt. Immerhin sind ihre Augen, Nase und Mund eher fein. In ihrem Alter und ihrer kantigen Blockhaftigkeit ist sie mit Biebuycks no.66 vergleichbar, nicht so formenreich wild, aber vielleicht in der Rücksichtslosigkeit gegenüber der Anatomie noch radikaler, als sei sie aus einem blechernen Backförmchen geschnitten und ein wenig nachgearbeitet.
Erklären sich stilistische Unterschiede vielleicht auf der Folie der Geschichte?
Wenn ich diese Figur auf der Folie der Geschichte der Lega betrachte, komme ich nach Biebuyck’s „Lega Culture“ (part 2, 59-65) auf keine wirklich einschneidende Krise, auch nicht in der Zeit der Araber und Sklavenhändler oder dem blinden Fleck zur Zeit des ‚Kongostaates’ vor 1909. Der Bwami herrschte in jedem Dorf des geschlossenen Siedlungsbiets, das die Pende entschlossen verteiligten. Dem sich anschließenden Kolonialregime war der konservative ‚Bwami’-Bund nicht sonderlich sympathisch, aber erst 1948 wurde er eindeutig verboten. Biebuyck fand aber in den fünfziger Jahren immerhin noch eine enorme Menge alter Kultobjekte und hatte bei der Dokumentation der Rituale keine Probleme („enormous number of old insignia in Pendeland in the 50ies“ (61). Meine Neuerwerbung könnte vielleicht ende der vierziger Jahren entstanden sein. Er ist zwar stilsicher, aber wirkt doch wie eine ‚Notausgabe’. Wer weiß? Aber das alte unverwüstliche Stück?
…. oder aus den Lebensbedingungen? Armutsgefälle?
Biebuyck sprach von ‚Einheit in der Vielfalt‘, aber die kulturellen Unterschiede seien nicht erheblich. Liz Cameron verweist auf ein geschlossenes Siedlungsgebiet von der Größe Belgiens in drei Verwaltungsbezirken: Pangi in der Provinz Maniema, Mwenga und Shabunda in der Provinz Süd-Kivu. Schwieriges Terrain erschwert den Verkehr. Zehn Monate über herrschen konstante Hitze und Feuchtigkeit. Man lebt in kleinen ziemlich isolierten Gemeinden, vor allem in den dichten Wäldern des Westens, die den Jägern und Sammlern eine große Biodiversität liefern; im Osten dagegen ist der Boden karg und das Relief schroff, die Pende sind ärmer. Demzufolge können sie sich zum Beispiel seit altersher weniger Ränge in ihrer sozialen Organisation Bwami leisten. (Cameron 41)
Könnten die eklatanten Unterschiede im ‚Raffinement‘ zwischen alten Figuren auch durch solche banalen Ursachen entstanden sein? Man kann sich ohnehin darüber wundern, dass fast alle Figuren, die man wo auch immer zu Gesicht bekommt, in Büchern, Galerien, auf Märkten, dem obersten Rang Kindi vorbehalten sein sollten? Ist oder war Kindi relativ, auf die jeweilige lokale Organisation bezogen? Ich weiß es noch nicht.
Die Frage bringt mich auf die Mitteilung Camerons (nach Biebuyck 1994), dass die Bwami-Organisation mancher Dörfer nicht über alle Ränge verfügt, die anderswo Ehrgeizige erklimmen können. In diesem Fall darf der Bund einen Vertreter in ein passendes Dorf entsenden, wo er vom dortigen Bwami in die Geheimnisse dieses Rangs eingeführt wird und – wieder zuhause – andere einweihen darf. Zum Zeichen der Übertragung erhält er eine große Figur als Zeugen. Eine dauernde Patenschaft ist dadurch begründet, jedenfalls noch in den fünfziger Jahren. Eine solche Figur – vom Typ katanda – will ich im übernächsten Beitrag unter demselben Obertitel vorstellen. (Cameron 153)