„REPOSSESSED BY CONTEMPORATE MEANING“ „EX AFRICA“ (LINK SZ, München) , MUSÉE QUAI BRANLY 2021 – Kommentar und Revision – Uploads 19. und 23. Mai 2023. Redaktion 30. Mai
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Ich verfolge den Videofilm des Museums Quai Branly (LINK youtube), denn ich sammle einschlägige Tafelbilder von Chéri Samba zum kolonialen Kunstraub (LINK) für den Blog. Und ich begegne – wie immer distanziert und oberflächlich – einer Anzahl zeitgenössischer Arbeiten von Künstlern in Afrika und der Diaspora, bis zu dem Punkt, wo die Untertitel mir die Formulierung „Repossessed by contemporate meaning“ (etwa: „Durch zeitgenössische Bedeutung zurückerobert“) anbieten. Da halte ich an und aktiviere das Schreibprogramm.
„Repossessed“ – „wieder in Besitz genommen“, nicht länger „enteignet“ oder auch „verloren“, „vernachlässigt“ oder „verlassen“ ?
Manche gezeigten Beispiele sind Anklagen, noch öfter Beispiele von Trauerarbeit, aber nun im Kontext des identitären Privilegs, als Künstler ‚eigene’ Traditionssplitter benutzen zu ‚dürfen’, auch da, wo man offenbar wahllos repräsentative Objekte aus dem ‚heimatlichen’ Kontinent versammelt, nicht einmal aus dem Herkunftsland des Künstlers oder in der unmittelbaren Nachbarschaft der Vorfahren.
Oder wenn die erkennbare Identitäten – traditionelle Masken – etwa auf einem komponierten Abfallhaufen explizit noch einmal ihrer Würde beraubt werden, diesmal für einen höheren – politischen – Zweck.
Und die notorische Rolle der Fremden als Bösewichter – sie verursachen durch Nachlässigkeit ein Eisenbahnunglück – integriert der prominente Kameruner Künstler Pascale Marthine Taillou in seine allegorische Installation der Stadt Eséka. Es ist einfach spannend, den Kurator Phillip Dagen bei seiner diplomatischen Aufgabe zu beobachten.
Eine solche Ausstellung bietet vielleicht nicht den geeigneten Rahmen, um europäische Empfindlichkeiten zu berücksichtigen, etwa bei einer ästhetisischen Schlangenlinie abgenutzter verlorener Flipflops vom Strand von Benin, die entfernt an den Haufen schäbiger Lederschuhe aus Auschwitz erinnern. Aber da wären wir bereits mitten in den brisanten Thesen des Kameruner Historikers Achille Mbembe 2020 ( dlf: LINK zur Debatte). Lassen wir ihn hier beiseite.
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Das vormals im ursprünglichen Kontext Verbotene, rituell mit legitimer herrschaftlicher oder therapeutischer Autorität verbunden, empfiehlt sich heute geradezu für afrikanische Künstler. Vor allem, weil über ein Jahrhundert Künstler wie Kulturinstitute, Geschäftsleute wie Sammler aus den Gesellschaften der Unterdrücker und Ausbeuter sich daran bedient haben.
Seit einem halben Jahrhundert haben auch postkoloniale Regimes in Afrika halbherzig Brauchtum und Kulturgüter in den Dienst des in ihren Vielvölkerstaaten verordneten Nationalstolzes zu stellen versucht. Und manche verarmte, aber stolze lokale Ethnie oder vernachlässigte Region versucht, ‚Festivals’ für ihren Zusammenhalt und die Außendarstellung zu nutzen. Oder jetzt Museen.
Ich sollte mich entspannen. Von MacGaffey habe ich gelernt, ‚das zweite Leben’ ehemaliger Kultobjekte als ‚Kunst’ zu akzeptieren. Der Globale Norden hat darauf kein Monopol!
„Repossessed“ – Aber was wird überhaupt neu besetzt? Etwa die von uns hochgeschätzten, ja fetischisierten figürlichen und abstrakten Formen, vom beglaubigten historischen Alter des Objekts weiter gesteigert?
Aber die Formen hatten und haben mit der magischen /kultischen Funktion nicht unbedingt etwas zu tun, sind sekundär, ja oft für Therapien sogar überflüssig.
Gewisse kulturelle Aspekte waren vielleicht Erkennungszeichen, aber wovon? In der bewegten Wanderungsgeschichte der Afrikaner südlich der Sahara bildeten und veränderten sich Stammes-Identitäten – bereits vor der gewaltsamen Einpferchung und Durchmischung der Gemeinschaften innerhalb der Kolonialgrenzen. Gemeinsame Genealogien und Erzählungen mussten als Ausweis genügen. Sprachliche Differenzierung, Abgrenzungen und bewusste Profilierung fanden schon von Dorf zu Dorf statt, aber man konnte davon absehen, wenn man von den Nachbarn Dinge, Techniken und Rituale oder Menschen übernehmen wollte.
Auch das Argument Verlust ‚traditioneller’ Bedeutungen relativiert sich. Wir können sowieso die Geheimniskrämerei nicht berücksichtigen, die in den zahllosen ‚Initiationen‘ verkörpert war. Kaum möglich, die Deutungshoheit der Würdenträger und der Dolmetscher zu umgehen, geschweige denn, dass der historische Wandel der Bedeutungen abzuschätzen wäre.
Was bedeutet das Alles für uns Sammler? Nichtkommerzielle sammeln nach Bauchgefühl und versuchen, das Beste aus den veröffentlichten Erkenntnissen anerkannter Fachautoritäten zu machen.
Während des turbulenten 20. Jahrhundert haben auch die Europäer ihre regionalen Traditionen fast ganz verloren. Für mich aus der Nachkriegsgeneration war die fachlich zuständige „Volkskunde“ etwas für ‚Ewiggestrige’. Erst der Tourismus hat äußere Formen wiederbelebt.
Der in Dagens Ausstellung abgewatschte „Primitivismus“ der Kunstavantgarde hatte hingegen bereits die lokale Volkskunst Osteuropas, Russlands und Chinas entdeckt und wertgeschätzt. (u.a. Alexeev LINK; Markov LINK)
Als ich jüngst im Kulturmuseum St.Gallen (LINK) unter dem frisch restaurierten Portal „Ethnologie“ hindurch ging und im ersten Saal die Schaufenster Innerschweizer Heimatmuseen sah, war ich einfach glücklich. Wann wurden eigentlich Volkskunde und Völkerkunde getrennt? Oder entstanden sie zur gleichen Zeit?
22. Mai 2023
Versöhnlich? Jedenfalls nicht mit Phillipe Dagens Künstlertruppe im Branly 22.5. 2023
„Ja, es wird Zeit, Gräben in unseren Köpfen zu überwinden“, so versöhnlich endete mein Kommentar vor drei Tagen.
Da hatte ich noch nicht den kritischen Ausstellungsbericht in der Süddeutschen Zeitung von Joseph Hanimann, 28.Juni 2021, gelesen. Nicht Phillip Dagen im Video, sondern der Journalist Hanimann teilt mit, dass der Haufen Maskenschrott von dem trendigen Pariser „Studio Théo Mercier“ (*1984, Homepage LINK) arrangiert wurde.
Da finde ich am 5.2.24 das dekorative, aber triviale Pendant, das die umstandslose Vermüllung unterworfener Traditionen zur flauen Zivilisationskritik augenfällig macht. Bildschirmfoto:
Noch weitere Willige durften für den Kontinent „bei den großen Weltthemen heute mitreden“ (Formulierung J.H.) . Überhaupt kamen die Hälfte der Exponate ganz frisch aus den Studios. Vier große Installationen – in Phillipe Dagens Neusprech „Activation“ (Franglais?) – waren Auftragsarbeiten des Museumskurators für die Ausstellung, darunter ausgerechnet Hazoumés am Boden ausgelegte Spiralwelle „No Return“ aus ein paar Tausend verwaschener Plastiksandalen und die Installation „Eséka“ von Pascale Marthine Tayou. Das Ganze erinnert irgendwie an die unselige postkoloniale „Entwicklungshilfe“. Nicht „Diplomat“ war der Kurator Dagen, sondern Auftraggeber mit einer neuen „Quai Branly“-Agenda.
In solchem Kontext ist seine polemische Schärfe gegen „den Primitivismus“ fehl am Platz, sowohl die gegen die historische Künstlerbewegung – inzwischen ein Jahrhundert alt und spontan entstanden – als auch die gegen die vierzig Jahre alte Ausstellung im MoMa in New York, seinerzeit eine unschätzbare und sachlich unvoreingenommene Quelle für zahlreiche Entdeckungen und Einsichten. Das war eine andere Zeit. Das war noch intellektueller ‚Widerstand‘ (gottseidank aus Amerika, nicht Deutschland!), nicht Lobbyismus.
Was hat Dagen denn gegen seinen Popanz „Primitivismus“ aufgeboten außer ein paar angestaubte Promis oder hochgejubelte junge Shootingstars kurzlebiger Kunstevents! Etwa ‚Studio‘ Théo Mercier‘, der (oder das?) im Juni 2023 „Frankreich vertritt“ mit zeittypischem Gips auf einer „Quadriennale “ in Prag ?
Bin ich ungerecht? Auf eine Nachrecherche habe ich einfach keine Lust mehr. Hat vielleicht jemand den teuren Katalog gelesen und zieht andere Schlüsse? Bitte kommentieren!
ANHANG : pdf (meine Transkription) Joseph Hanimann : Ausstellung Ex Africa in Paris-Die Epoche Post-Primitivismus