V. M. Alekseev – Versöhnung von Sinologie und Ethnologie

|

‘Vorkämpfer einer komplexen Orientalistik’ und wissenschaftlicher Entdecker der chinesischen Volksdrucke (Nianhua)

Zum Lesebericht veröffentliche ich einen thematischen Index für die im Tagebuch auf 370 Seiten verteilten Beobachtungen und Erklärungen bei (Link)  – bis Seite 100 ist der Index bereits fertig.

*

So wie später der Farmerssohn Victor Davis Hanson aus dem amerikanischen Mittelwesten die bäuerlichen ‚Banausen’ neben den urbanen ’einzig wahren Athenern’ aufwertete ( in ‘The Other Greeks – The Family Farm and the Agrarian Roots of Western Civilization“, N.Y. 1995), so schenkte der Sinologe Alekseev, das geniale Arbeiterkind aus St. Petersburg, ab 1907 den einfachen Chinesen die Aufmerksamkeit, die sie verdienen.

Sie fragen vielleicht, mit welchem Erfolg?

Alekseev (1881-1951) konnte seinen berühmten Lehrer aus der Metropole Paris, Eduard Chavannes (1865-1918) auf einer sechsmonatigen gemeinsamen Reise für dieses Thema nicht erwärmen, geriet mit der Sowjetunion wissenschaftlich in eine Randlage. Der – noch unfertige – Wikipedia.de-Artikel (Link) listet immerhin drei Publikationen in London, Deutschland (Asia Maior) und Paris zwischen 1928 und 1937 auf. Alekseev konnte froh sein, auch unter Stalin und während des Zweiten Weltkriegs weiter an Übersetzungen aus dem Chinesischen arbeiten zu können und Schüler auszubilden. Eine ausführliche Bio-Bibliographie “übersetzt aus sowjetischen Quellen”  hat Harmut Walravens als pdf (OE-21-6) ins Netz gestellt.

Unter diesen Umständen hielt ich  über die Jahre Jean-Pierre Dubosc (Link) für den Entdecker der chinesischen Volksdrucke (Nianhua), der sie 1937 sogar in der Pariser Nationalbibliothek auftreten ließ. Die Tusch-Malerei der Ming- und frühen Qing-Epoche war ihm aber Entdeckung genug. Damit verschwand er im Olymp des internationalen Kunsthandels, wo Geld zu verdienen und Ansehen zu gewinnen war.

V.M. Alekseevs „Reisetagebuch China 1907“ erschien erst posthum 1954 und  viel später 1989  auf Deutsch in Weimar, DDR. Die russische Sinologie müsste interessant sein, ihre ethnologischen Sammlungen sowieso.

Haben wenigstens die Amerikaner ihn für sich entdeckt? Er war ‘Mitglied’ in den dreißiger Jahren in zwei Fachgesellschaften. Mehr erfahre ich nicht.

Alekseev war der geborene Ethnograph: Sein Fleiß, unbändige Neugierde, unbekümmerte Kontaktfreudigkeit, Hartnäckigkeit, eine für detektivische Arbeit nötige Aufmerksamkeit auf Details, gesunder Menschenverstand und die Herkunft aus einer ‚bildungsfernen Schicht’, die n icht nur in Russland stärker in den Volkstraditionen lebte als die verbürgerlichten und internationalisierten sozialen Eliten.

Kam die künstlerische Avantgarde Russlands damals aus solchen Bildungsneubürgern?

Bekannt ist, dass sie Volkskunst wie Ladenschilder, Ornamente, Trachten und Volkslieder schätzte. Es gab wie in Paris und Berlin auch einen genuin russischen ‚Primitivismus’, z. B. Wladimir Markov (Blogbeitrag „Fotografie interpretiert Skulptur” : Link)

Wissenschaftliche Arbeitsteilung war anfangs des 20. Jahrhunderts eher Zeichen konventioneller Ängstlichkeit bzw. Bequemlichkeit und intellektueller Enge, nicht unbestrittenne Erfolgsbedingung wie heute.

Dem Pionier blieb gar nichts anderes übrig, als für seine Entdeckungen die Erklärungen vor Ort einzuholen, auch gegen Widerstände . In ‚sinologischer’ Literatur war dazu nichts zu holen. Alekseev war sich aber für Volksmärkte und Kontakte mit der dienenden Volksmasse nicht zu schade. Er nutzte jede Quelle und alle Tricks: etwa Gebildete zu Recherchen zu nötigen.

Er schrieb eine eigene Methodologie sinologischer Ethnologie (auf Russisch).

Die Tragik, dass die vollkommen erschlossene Sammlung seiner Nianhua – moralischer und religiöser Volksdrucke – hundert Jahre später noch nicht zugänglich ist, – oder etwa doch? Das Bedauern, dass ich kein Russisch lesen kann, wie ich Schwedisch verstehen sollte wegen des Materials der Kongo-Missionare; das Gefühl, alt zu sein.

 

Meine Lektüre

5.7.18

Foto des Expeditionsfotografen

 Einen zweiten Anlauf im Tagebuch genommen ab S.76 auf dem Weg zum Gipfel des Taishan!

Die Redaktion der Tagebücher hatte er ohnehin erst spät angepackt. Seine Schüler, die Alekseevs Redaktion der Tagebücher fortsetzten, haben keine schlechte Arbeit geleistet.

Auf jeder Seite wertvolle ‚Feld’-Informationen, die den isolierenden Vorhang hinter den Volksdrucken wegziehen: Adressaten, erhoffte Wirkungen, Zuständigkeiten und Hierarchien erscheinen lassen.

Und das in der beschwingten Luft einer Entdeckungsreise! Wir spüren den durchrüttelnden Untergrund wie den strengen Fahrtwind, wenn der junge Reisende Alekssev am liebsten anhalten oder verweilen würde. Begegnungen und Gespräche werden zusammengefasst samt den damaligen Bewertungen. Eigene Reiseerlebnisse 1973 und 1988 tauchen aus dem Gedächtnis auf. Manche Einschätzung – als Zeichen neuer Unkultur – ist zu revidieren. (Selbst die ‚Große Proletarische Kulturrevolution’ war genuin chinesisch.)

Atheistischer Skeptizismus in der Elite und im Volk sich mehrfach absichernder Geisterglaube koexistieren und ergänzen einander. Ineinander verschachtelte, miteinander konkurrierende, jedenfalls unberechenbare Hierarchien lehren das Individuum Pragmatismus und mahnen zur Vorsicht: Warum sollte die Situation im Jenseits günstiger sein? Für Verbrechen im Diesseits hat man auch Strafen im Jenseits zu erwarten. Doch gute Taten scheinen bloß den Ruhm unter den Überlebenden zu mehren, offiziell zwar Lippenbekenntnis, doch von den Unglücklichen und Ohnmächtigen, denen die Mittel für nennenswerte Opfer abgehen, ist Verehrung bis zur Vergöttlichung zu erwarten. Ob das der armen Seele im Jenseits hilft? – wo selbst traditionelle Götter für irdische Zuwendungen dankbar sind? Was empfehlen die Chinesen dem Individuum? Leichtigkeit, stoische Haltung – im Sinne von „Was ist dein eigen? “ (Epiktet), Humor im Pech, aber auch Cleverness im Wahrnehmen und Ergreifen von Chancen aller Art. Alekseev vergleicht an einer Stelle die höchstens laue religiöse Haltung der Chinesen mit dem Ernst buchstäblicher ‚Passion’ der Spanier und Süditaliener. Wer würde sich solchen Ernst in China leisten? Das Leben ist schon grausam genug.

Auf seiner Reise durch China erlebte Alekseev 1907 die durch Armut erzwungene Findigkeit und Aktivität der Menschen.

Demselben Thema widmet sich übrigens ein Postkartenbuch über die nomades, die Menschen im Straßengewerbe von Paris um die Jahrhundertwende, das ich im brocante erwarb. Das ist in Westeuropa seit einem halben Jahrhundert Geschichte.

 

Zwei Tage später

Nach mehr als drei Kapiteln und zweihundertvierzig Seiten bin ich erschlagen von der Fülle einzelner Beobachtungen und Entdeckungen; mehr als farbig zu Markern gelingt nicht, aber ein Index wäre wünschenswert. Dabei lässt Alekseev bereits so viele Details weg! Die wenigen Illustrationen machen nur manchmal Appetit auf mehr. Meine kleine China-Karte lässt von Google-Maps nur träumen. Ein paar ausführliche Erklärungen des alten Alekseev sind mir dann auch nicht recht, ich fühle mich um den wirklichen Reisebericht betrogen und mit Volkshochschulsätzen abgespeist.

Als Leser eines Reiseberichts möchte man Fragen stellen, so aber fühlt man sich schmerzhaft ausgeschlossen. Manchem Romanautor gelingt es, eine illusionäre Kulisse, eine beruhigende Augentäuschung hinzuzaubern, aber das kann und will Alekseev keineswegs, er will seine eigene Unruhe auf den Leser übertragen. Dem Reisenden selbst waren nur eilig hingeworfene Erläuterungen und Gedanken möglich. Das betont er mehrfach. Er musste ständig verzichten, auswählen. Er bestimmte nicht über das Programm, er war nur Reisebegleiter des berühmten Professors aus Paris.

Immerhin erhalten die vielen von ihm angesprochenen ‚Götter’, Statuen und Nianhua wenigstens andeutungsweise ein Ambiente, sie erhalten eine Rolle zugeteilt und oft Begleiter, etwa das Personal in den Tempeln oder papierene Reittiere, etwas, was sie im sterilen Rahmen von Katalogabbildungen niemals bekommen. Geduldiges eigenes Recherchieren des Lesers muss eben Angedeutetes und Fehlendes ersetzen. Das Buch ist eine Aufforderung zu arbeiten! Das erzeugt diese ermüdende Dynamik, wenn im ununterbrochenem Erzählstrom ständig ad hoc nicht zu Verstehendes – bloß registriert – vorbei zieht.

Meine kleine Restsammlung wird davon belebt. Die Fülle ist so überwältigend, das relativiert die Aussagekraft vorhandener Sammlungen. Das Tagebuch ist – virtuell – eine gigantische Sammlung; real soll sie in Russland liegen.

 

Wieder zwei Tage später

Die Menschen haben für eine Handvoll Existenzprobleme verschiedene Lösungen praktiziert, die aber anscheinend stets umständlich sind und harte Nebenwirkungen haben.

Christliche Heidenmissionare schufen auch in China nur zusätzliche Probleme – Alekseev mochte sie nicht –  indem sie mit der Autorität ihres Amtes oder gar der Obrigkeit auf Grund ihrer eigenen westlichen Mythologie soziale Regeln bekämpften, die unter den gegebenen Bedingungen funktionierten. (Link)

Alekseev erkannte China als ein ideales Feld für die Ethnographie, dank der Schreibwut all der Chinesen, die nur die ersten Stufen der Bildungspyramide erklommen hatten. So konnte er sonst so sorgsam vor Fremden verborgene lokale Geheimnisse direkt von den Hauswänden und Mauern ablesen. Jedenfalls einen Teil. Andere Monstrositäten wie die in Nordchina den Frauen allenthalben verkrüppelten ‚Lilienfüße’ konnte man mit bloßen Augen erkennen, aber die gängige Erklärung nur in Umgangschinesisch erfahren: ‚Sie finden sonst keinen Mann’.

 

 

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert