Erwerbung: 18.9.21 – Beschreibung: 5.12.22 – Ergänzung 15.5.2023
Eine 63,5 cm hohe Doppelfigur – Januskopf wäre konventionell – Beschreibung
Ich habe mittlerweile eine Schwäche für provokante Formen, andere sagen: hässliche Formen. Nicht dass sie mich nicht irritieren würden, aber vor allem machen sie als Kunstformen neugierig. Mit den Mitteln kunsthistorischer Forschung, soweit mir zugänglich, suche ich nach der Absicht dahinter, nach der künstlerischen Antwort auf Herausforderungen, die mir auch nicht gerade vertraut sind.
Vor einem Jahr habe ich eine Ahnenfigur aus dem Maniema-Gebiet erworben. Und da ihr Verbleiben in der Sammlung fraglich ist, lasse ich mich endlich näher auf sie ein.
Beschreibung
Beine und Rumpf sind in ‚realistischem’ Stil gerundet. Darauf sitzt ein Würfel als Hals (noch tiefer als breit), darauf wieder ein abstrakter Doppelkopf in Tonnenform. Querschnitt wohl eine Parabel.
Das ist für einen ‚europäischen’ Blick absolut unharmonisch, wenn man die Folgerichtigkeit kubistischer Komposition gewohnt ist.
Der Verdacht keimt auf, dass die Absicht dahinter stand, eine mächtige Doppelmaske zwei menschlichen Körpern überzustülpen, die oberhalb der Gürtellinie zusammengewachsen waren, so wie die „siamesischen Zwillinge“ , die mich als Kind in Illustrierten erschreckten, Monster, die später – Triumph der modernen Medizin! – angeblich erfolgreich getrennt wurden.
Die Doppelfigur (ich muss es wiederholen) ist bewusst und mit Geschick komponiert. Der rohe Holzblock hatte einen quadratischen Grundriss. Die fertige Skulptur hat die materielle Solidität dieses Kernholzes bewahrt; man spürt aus jeder Richtung kontrollierte Form und strenge Ausstrahlung, die Autorität dieser relativ großen Gestalt.
Von der Seite ist der Kontrast kaum auszuhalten:
Da prägen weiche Formen die unteren zwei Drittel der Höhe: junge Brüste auf beiden Seiten, einander berührende Ellenbogen (im Interesse der Stabilität), hübsche Pobacken, die Furche dazwischen mündet auf Höhe der Lendenwirbel in ein Grübchen. Die Beine zeigen wohlgeformte Waden. Die Füße sind zierlich; schließlich besitzt man vier davon.
Das obere Drittel zeigt einen extrem breiten nur leicht gerundeten Hals, eine waagrechte Kante von Kinnspitze zu Kinnspitze und dann eine Fläche wie vom Eisenplastiker Richard Serra (LINK), auf die zwei miniaturisierte dreieckige Ohrmuscheln gesetzt sind und oben in der Mitte die zur Keksrolle stilisierte Frisur.
Zur Zweigeschlechtlichkeit
Beide Gesichter sind konkav innerhalb einer Lengola-typischen Eiform, die unten gerade abgeschnitten sein muss. Der Nasenrücken zieht sich von der Stirnkante, die auch Augenbrauenkante ist, in langem Bogen nach unten. Die perlenförmig vorragenden Augen stehen eng. Am kleinen Mundschlitz sind nur auf der männlichen Seite zwei Zahnreihen angedeutet.
In ihrer ganz aufrechten Haltung zeigt die Figur ein gegenüber dem männlichen unmerklich angehobenes weibliches Gesicht.
Der Gesamteindruck ist eher weiblich, nicht nur wegen der vier Brüste, sondern auch durch die Birnenform des Torso: durch einen engen Brustgürtel (6cm) und die beschränkte Schulterbreite (bis 13,5 cm) wirken die breiten ‚gebärfreudigen‘ Hüften (bis 14,5 cm) noch ausladender.
Bewegung
Nicht zuletzt durch die von allen Seiten lebhafte Schattenbildung wirkt die Doppelfigur lebhaft.
Könnte es sein, dass ein Maskentanz angedeutet wird, den wir nicht kennen? Nicht zuletzt vermitteln die individuell gebeugten Beine bei auffällig hoch angesetzten Knien und langen Unterschenkeln den Eindruck, dass sich ‚Mann’ und ‚Frau’ auf Höhe des Unterleibs berühren, bevor sie oben eins werden.
Anderthalb Jahre später: ein ‚alter Bekannter‘ am 29.4.23 :
Ist Ihnen das Objekt zu extravagant und meine Darstellung zu spekulativ? Zu wenig ethnologisch? Ich habe ein formal weit schlichteres Gegenstück mit sachlichen Erklärungen anzubieten, aus:
“Embodyments – Masterworks of …“ Herausgeber: Christina Helmich und Manuel Jordan, Fotos: Robert A. Kato, Fine Arts Museum of San Francisco, DelMonico Books / Prestel 2014; Depot–Nr. : S-190/L14.48.100 Tafel 100 – Bildlegende (Autor Grotaers) ( dt. Übersetzung Gv)
„Die Lengola sind bekannt für ihre überlebensgroßen Ahnenfiguren, die aus einzelnen Holzstücken zu dünnen, spitzen Statuen mit ausgestreckten Armen montiert sind. Die meisten ihrer Skulpturen sind jedoch viel kleiner und aus einem Stück Holz gefertigt. Mitglieder der ‚Bukota voluntary Association’ waren ihre Eigentümer und benutzten sie. Die Vereinigung wurde von den benachbarten Metoko übernommen und ist in Organisation und Ideologie dem Bwami-Bund der Lega ähnlich, wenn auch strukturell weniger komplex. Die Mitgliedschaft im Bwami war ein lebenslanges Unterfangen, das Initiationen auf Ebenen immer geheimeren Wissens beinhaltete und als Beweis für Status und Prestige angesehen wurde. Die Bukota-Vereinigung der Lengola umfasste ebenfalls eine Hierarchie von Mitgliedsstufen, und die Mitgliedern hatten Einfluss auf die Beschneidungsriten von Jungen und die Behandlung bestimmter Krankheiten sowie auf die Beilegung von Streitigkeiten und Fehden (Biebuyck 1977, S. 53-54).
Diese Halbfigur (53 cm) diente vermutlich im Rahmen von Beschneidungszeremonien. Das längliche dreieckige Gesicht, vertikal halbiert durch eine lange, gerade Nase, ist typisch für die Lengola-Kunst. Das helle Holz wurde geschwärzt, und hellbraune Pigmente wurden auf die Hälfte des Gesichts aufgetragen und als Tupfen auf den Rest der Figur. Viele Skulpturen aus den zentralen und östlichen Waldregionen der Demokratischen Republik Kongo (RDC) sind charakterisiert durch den Gebrauch abwechselnder Farben.“
Die Metoko werden erwähnt. Die kulturelle Verwandtschaft zeigt sich aber nicht nur in der Verwendung der Farben. Mit Kulten werden auch Formen übernommen.
Eine von Grotaers eingangs erwähnte für die Lengola typische überlange Steckfigur habe ich in einem Beitrag über Metoko-Figuren abgebildet, gegen Ende (LINK. 2019). Da finden sich auch andere Beispiele für ungewöhnliche Skulpturen unter dem Titel „Gardemaß und radikaler Bauplan“. Eine „Ahnenfigur der Mitoko“ (LINK 2019) ist als Vergleichsobjekt auch von Interesse. Wenn man auch „Drei kleinere Figuren der Lengola“ (LINK) einbezieht, wird man weitere Entdeckungen machen.