Ein Jahrhundert nach Alekseev – Der ‚alte Greis’ China wird jung, der Westen altert.

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9.7.18 – 9.9.2018
Alekseevs Reisetagebuch von 1907 (Link) macht dem Leser die Probleme Chinas in ihrer ganzen Tiefe bewusst, mehr als Thoralf Kleins Quellenstudie (Link) aus der Perspektive der geistig beschränkten Basler Mission das kann. Denn auf dem Land ging das elende Leben ja irgendwie weiter, wie bereits seit Jahrhunderten.
Nach Alekseevs Eindrücken und Gesprächen 1907 zwischen Peking, Schantung und Sian erschienen Chinas Probleme unlösbar. Wo sollte man überhaupt anfangen?
Die Situation in und um China verlangte nach Revolution, und natürlich ‚von oben’.
Das Bildungssystem war 1905 in absoluter Verknöcherung an sein Ende gekommen. Lu Xuns Vergleich Chinas mit einem Greis in einem reichen Garten überzeugt mich jetzt viel stärker, besonders der Ausdruck ‚Greis’.
Heute sind die Chinesen buchstäblich jung. Zeitweise schienen sie durch Maos Umwälzungen gänzlich geschichtslos, aber heute lässt sich dem abhelfen, wenn auch mit einer gehörigen Portion Nationalstolz. (Ist in Frankreich auch viel nicht anders.)

 

Die neuen Barbaren aus dem Westen

Natürlich bekamen damals die Konservativen Angst. Die Fremden machten nicht den Eindruck, als ließen sie sich nach bewährtem Muster ‚sinifizieren’, von der komplexen chinesischen Zivilisation vereinnahmen. Diese untereinander eifersüchtige Meute machte sich daran, mundgerechte Beutestücke herauszulösen, nachdem sie in konzertierter Aggression den Widerstand des Reichs gebrochen hatte. Den Rest der Welt hatten bereits aufgeteilt, meist unter Einsatz lächerlich geringer Ressourcen. Die Barbaren waren ebenso eingebildet wie die chinesische Elite und zeigten vor niemandem Respekt. Das hatten sie bereits über ein Jahrhundert lang bewiesen. Auch ihr Zögling Japan war bereits zum ebenso aggressiven Räuber mutiert und zwar innerhalb eins, zwei Generationen. Das chinesische Reich hatte über ein halbes Jahrhundert notwendige Reformen versäumt.
Angesichts der Größe des Reichs und seinen auseinander driftenden Zentren und Bevölkerungsgruppen, auf die äußere Einflüsse in ganz verschiedenem Ausmaß einwirkten, war wieder eine lange Übergangsperiode, vielleicht sogar ‚Streitender Reiche’ zu erwarten. Ich versuche mir vorzustellen, wo China heute ohne den kommunistischen Faktor der Russischen Revolution und den Zweiten Weltkrieg stünde.

 

Wiederherstelllung der Integrität hieß Abschließung.

Die Mammutaufgabe der umfassenden ‚Modernisierung’ von Land und Kultur hätte wohl ohne eine radikale Abschließung des Landes von keiner Gruppe bewältigt werden können.
Die imperialistischen Mächte und nach dem Zweiten Weltkrieg ihre Führungsmacht USA verhinderten überall in der Welt jeden Versuch, sich ihrer Kontrolle zu entziehen. Wenn doch – etwa in Kuba, im Iran oder Afghanistan – eine hausgemachte Revolution nicht zu ersticken war, führte das zu einem endlosen Konflikt.
Die Maoisten haben als revolutionäre Dynastie gehandelt. Ihr Zentralismus hatte in China die Aufgabe, äußerer Einflussnahme kein Einfallstor zu bieten. Territoriale Integrität war wiederherzustellen und dauerhaft zu bewahren. Vor allem waren die weiträumigen Gebiete zu stabilisieren – entlang der alten Seidenstraße, angrenzend an die Sowjetunion und an Indien und Indochina. Dafür mussten Mongolen, Zentralasiaten, Tibeter und andere kleine Minderheiten um jeden Preis ‚integriert’ werden. Das ‘Chinesische Meer’ war ohnehin für das nächste halbe Jahrhundert durch die Vereinigten Staaten blockiert.
Das Regime begann erst nach vierzig Jahren mit einer zentral kontrollierten Öffnung – zunächst auf Wirtschaftsbeziehungen begrenzt – und man hält im Innern am Kontrollanspruch fest. Dazu weitet man den umfangreichen Überwachungs- und Sicherheitsapparat und den ideologischen Apparat aus, aber modernisiert sie planvoll zur Kontrolle der Infrastruktur im digitalen Zeitalter. Und man versucht nach außen strategisch die Initiative zu gewinnen und behalten.

 

Torheit des Westens. Jahrzehnte vertan.

Ich wundere mich, dass auch kluge Leute im Westen seit zwei, drei Jahrzehnten über die Dürftigkeit und Hohlheit der ‚kommunistischen Ideologie’ herziehen. Die offizielle Staatsreligion Chinas war doch nie beeindruckend, es ging immer nur um die Indoktrination mittels Nürnberger Trichter kombiniert mit Repression bei mangelnder Loyalität.
In Singapur, vielleicht auch Taiwan und sowieso in den chinesischen communities rund um die Welt hätte man warnende Anzeichen für das innovative Potential der chinesischen Kultur erkennen können. Und das bereits vor zwei Jahrzehnten, als westliche Firmenvertretungen und Regierungen sich noch voller Gier um den vermuteten gigantischen Markt in China stritten und für einmalige Großaufträge jede Vorsicht fallen ließen. Technologietransfer wurde in großem Maßstab betrieben, auf die Aussicht geradezu idyllischen Freihandels hin. Bereits vor dem Zweiten Weltkrieg nährte Chinas zu erwartender ‘Markt’ mit Hunderten von Millionen Konsumenten Träume im Westen. Nichts dazu gelernt.
Als Student war ich erstaunt über die Ignoranz und das Desinteresse in der Linken an chinesischer Geschichte vor der ‚Kulturrevolution’. Beim Antiquar konnte ich ungestört ganze Stapel alter Buchtitel abschleppen. An der frankfurter Universität unterrichtete ein Jesuit vor einem Dutzend Zuhörer (Kroker) über chinesische Rechtsphilosophie, über Legisten (jede Familie ein kleiner Staat….) und Konfuzianer (Der Mensch ist gut, aber…). Die unter der Ming-Dynastie veröffentlichten klassischen Romane lagen in fesselnden Übersetzungen (Franz Kuhn) vor, sie zeigten, wie es im alten China vor den Opiumkriegen zuging! Doch wer wollte das wissen? Es wäre nützlich gewesen. Noch jetzt bei Alekseev und Thoralf Klein begegne ich kulturell verankerten Grausamkeiten, deren Erfindung ich den Kommunisten zugeschrieben hatte.

 

Von Sengers ‚Strategeme’

Vielleicht habe ich den Funktionalismus eines H. v. Senger vor ein paar Jahren missverstanden – die Regierenden in Peking fühlen sich von ihm wohl verstanden. Vielleicht ist ja nur die gewählte Sprache für einen Europäer aus der demokratischen Schweiz zu zynisch, sein Auftreten eingebildet und seine Polemik in Frankfurt gegen den zarten sinophilen Diskussionspartner einfach zu schlicht (Link).

Was soll  aus unseren Menschenrechten und völkerrechtlichen Institutionen werden?

Die Menschenrechte besaßen für mich noch vor dreißig Jahren einen hohen Rang, selbstredend im eigenen Land und als kämpferische „Grundrechte“ verstanden, damals am Ende der Bonner Republik, als ‚vom Staat’ noch die größte Gefahr für die Menschen auszugehen schien, weil Globalisierung und Digitalisierung in ihrem heutigen Ausmaß noch nicht vorstellbar waren. Die „Grundrechte“ strahlten noch in jugendlichen Glanz, waren sie doch erst zusammen mit Willy Brandt aus der verlogenen Rechtsstaatskulisse der Nachkriegszeit befreit worden. Auch ich war jung und mit einer altersgemäßen Sensibilität für Ungerechtigkeit und fremdes Leid umhüllt (Na ja).
Seitdem die Stimmung des Aufbruchs zu einer menschlicheren Gesellschaft in Europa sich unauffällig verabschiedet hat und die Bürger sich in Konsum, Dummtourismus und digitaler Vernetzung verpuppen, ist Schluss mit ‚Aufbruch’. Nun droht unkontrollierte Zuwanderung. Die Chinesen, die auf der Neuen Seidenstraße kommen, bringen wenigstens Vorbildung und Investorengeld mit.

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