Picasso & Le Trocadero & 1907 & Les Demoiselles & Primitivismus & W. Rubin

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Jean-Louis Paudrat schildert in seiner Rezeptionsgeschichte ‚Aus Afrika’ (in: Primitivismus in der Kunst des 20.Jahrhunderts, William Rubin (Hrsg.), Prestel 1984, S.151f.) eine starke Anekdote über die Themen Wahrnehmung und Begreifen afrikanischer Kunst. Dazu veröffentlichte ich im April 2016 bereits einen Beitrag: „Picasso entdeckt Afrika im Trocadero 1907“ (Link).

Von derselben Erfahrung richtet sich der Blick heute auf Picassos ehrgeizigem Ringen um ein Programmbild: „Les Demoiselles d’Arles“ (Die Fräuleins von Arles). Ich zitiere noch einmal Paudrat, wende mich dann zur Darstellung von William Rubin in derselben Publikation .

J.L. Paudrat :

„Welche Objekte Picasso vorher auch gesehen hat, man sollte die Bedeutung seines Besuchs im Trocadéro im Frühjahr 1907 nicht unterschätzen. Ohne im Widerspruch zu früheren Erfahrungen zu stehen, offenbarte sich Picasso durch diese neue Erfahrung die primitive Kunst in einer Bedeutung und Dimension, die er bis dahin nicht wahrgenommen hatte. Den Bericht, den er dreißig Jahre später André Malraux darüber gab, ist in dieser Hinsicht sehr erhellend. (A.M., La Tête obsédienne, p.17ff.) Als er allein die Räume des Trocadéro betrat, wünschte er sogleich der abstoßenden Atmosphäre des Ortes zu entfliehen, fühlte sich aber gleichzeitig unwiderstehlich angezogen: ‚Es war ekelhaft. Der Flohmarkt. Der Geruch… Ich wollte sofort wieder hinaus. Ich ging nicht. Ich blieb. Ich blieb.’ Er fühlte, daß ‚sich in ihm etwas ereignete, … daß es sehr wichtig war.’ Ihm wurde plötzlich / klar, ‚warum er Maler war’. Denn anders als Derain, Matisse und Braque, für die ‚Fetische’, ‚les nègres’, nur einfach ‚gute Plastiken … wie andere auch’ waren, hatte er erkannt, daß diese Masken vor allem ‚magische Dinge’, ‚Medien’, ‚Vermittler’ zwischen dem Menschen und den dunklen Mächten des Bösen waren, genau so mächtig wie die drohenden Geister auf der ganzen Welt, Werkzeuge und Waffen, mit denen man sich von den Gefahren und Ängsten, die die Menschheit bedrohen, befreien konnte.

Ohne die Empfindungen Picassos in diesem schrecklichen Museum schmälern zu wollen, muss man einräumen, daß sie eine gewisse Berechtigung hatten. 1907 war der afrikanische Saal (…) ein sehr kleines überfülltes Depot, in dem einige der erstaunlichsten, vom menschlichen Geist ersonnenen Werke hastig und ohne jedes Konzept aufgestellt worden waren. (…) Man konnte sich kaum vom Rand zur Mitte bewegen, mußte bei jedem Schritt aufpassen, nicht zu stolpern: hier gegen eine lebensgroße menschliche Statue, dort gegen einen überladenen Ausstellungsschrank. (….) Man konnte schon erschrecken vor den Mischwesen dieses phantastischen Bestiariums (Abb.162), vor der Gewalt und dem Schmerz, die von diesen geritzten oder mit Nägeln gespickten Körpern ausgingen, von der Angst, die einem die wildblickenden, geisterhaften Erscheinungen einjagten, oder vor dem wie durch Zauberei belebten Material.

Dennoch bot dieses vom Sakralen geprägte Universum nicht die Bilder eines fernen, von rachsüchtigen Gottheiten und dämonischen Monstren bevölkerten Pantheons dar. Selten von überwältigender Monumentalität, verband es stattdessen chthonische Geister, lebendige Vorfahren, heilspendende Muttergottheiten und schützende Fetische. Damit wurde es möglich, die Vermischung des Heiligen mit der menschlichen Erfahrung, das Ineinanderfließen des kultischen und des alltäglichen Lebens zu betrachten. (…) Was Picassoo im Trocadéro entdeckte, was ihn durchdrang, hat sich vielleicht auf dieser Bewußtseinsebene abgespielt. (…)“

 

     William Rubin: „Picasso“

Rubin versucht diesen Besuch und diese Erfahrung in die Entstehungsgeschichte der „Démoiselles d’Avignon“ einzuordnen und Voraussetzungen wie Reichweite des Einflusses genauer abzuklären.

Was im Text von Paudrat auch schon mitschwingt, aber eben nur atmosphärisch, und darum leicht zu überlesen ist, das arbeitet Rubin heraus. Es ging nicht um Form, sondern um eine andere Weise, Emotionen, dunkle, zu vermitteln. Aber der Reihe nach…..

Rubin beginnt mit der mächtigen Vaterfigur des erfolgreichen Malers Ruiz alter Schule und mit dem revolutionären Elan des jungen Picasso.

„Bei keinem zweiten Künstler der Moderne … war das Talent, das er aufopferte, so außerordentlich, die Neukonzeption so radikal und überkommenden Ideen derart fremd.“ (249) Gerade weil er das Alte so perfekt gelernt hatte, konnte er sich davon 1907 und 1908 so radikal frei machen. „Nur wer so früh und mühelos die von seinem Vater favorisierte Malerei in ihrer ‚Bravour’ nachahmen konnte, vermochte sie auch so schnell als ‚falsch’ zu entlarven. (250)

Die mit dem Primitivismus verbundene ‚antibürgerliche, gegenkulturelle Kraft’ sieht Rubin bereits in der ‚Verherrlichung gesellschaftlicher Außenseiter -Arme, Blinde, Alte, entmutigte Unterhaltungskünstler (bzw. verschiedenste Überlagerungen davon). Aber die Gesellschaftskritik wurde im Rahmen des Erzählerischen vorgetragen, weniger mit den Mitteln der Malerei. (250)

Rubin diskutiert Picassos entschlossene Suche an drei Fassungen der ‚Demoiselles’ zwischen März und Juli 1907, unter Hinweis auf hunderte darauf bezogene Skizzen. (259). Den Besuch im Trocadero datiert er unmittelbar vor die letzte Fassung.

Die erste abgebildete Studie Gesamtkomposition charakterisiert er als „erzählerisch“ (Abb. 319). Sie zeige einen Matrosen inmitten fünf nackter Huren im Empfangsraum (Blumen, aufgeschnittene Melone) eines Bordells und einen Medizinstudenten mit Buch (anderswo Totenkopf) am Rande des Bildes.

                                                  

Überlegungen

Bordellbesuche interessieren mich so wenig wie das Verhältnis zu Vater und Mutter oder Picassos angebliche starke Ambivalenz in der Beziehung zu Frauen, wie sie Rubin, Norman Mailer und viele andere thematisiert haben. Jeder Mann hat sein Bündel zu tragen.

Ich stelle nur fest, dass jede Fassung der ‚Demoiselles’ für mich hässlicher geworden ist. Jetzt, wo ich sie genauer betrachte, stößt mich die berühmte Endfassung geradezu ab. William Rubin nutzt bekannte Ängste Picassos, um plausibel zu machen, wie in ‚Les Demoiselles’ ein ‚Primitivismus’ zum Durchbruch kam und worin die spezifische Rolle exotischer Objekte daran war. Von der bravourös, wenn auch etwas sentimental geschilderten Sozialkritik der Blauen und Rosa Periode blieb schließlich am Ende nichts übrig. Natürlich bewies Picasso zu verschiedenen Zeiten und Gelegenheiten bis zuletzt, dass er immer auch anders konnte.

Inzwischen ist es wohl Gemeingut, dass Picasso zeitlebens Anregungen von überall her aufnahm, wenn er nach Lösungen für ästhetische Probleme suchte. Das Buch mit dem programmatischen Titel „Picassos imaginäres Museum“ (Hatje Crantz 2001) lässt ihn auf die Frage „Was ist ein Maler im Grunde?“ antworten: „Ein Sammler, der sich dadurch eine Sammlung schaffen will, dass er sich die Bilder selber malt, die ihm bei anderen gefallen. So fange ich nämlich an, und dann wird es etwas anderes.“ Das war dabei noch viel zu eng gefasst – entsprechend dem leider auf alteuropäische Klassiker eingeschränkten Horizont. Picasso eignete sich alles an, was er gerade brauchen konnte: gelegentliche Fundstücke (ganz ohne ‚surrealistisches’ Pathos), Entdeckungen mit Hilfe von Fotografien (etwa von Brassai oder Dora Maar, aber auch eigene), er sammelte gelungene Arbeiten von Konkurrenten, alle möglichen außereuropäischen oder vor- und frühgeschichtlichen Objekte, ließ sich mit interessanten Frauen ein, er erweiterte ständig sein Vokabular und seinen Instrumentenkasten. „Anleihen“ waren eher ‚mittelbar’ oder ‚fragmentarisch’. Rubin: „Die Kraft von Picassos Phantasie und sein Gespür für Manipulation und Metamorphose waren so groß, dass direkte Anleihen bei den Primitiven, die man gelegentlich bei anderen Künstlern beobachtet, oder die unveränderte Darstellung von Stammesobjekten wie bei den Expressionisten, in seiner Malerei nur schwer vorzustellen sind.“ Wichtiger „war jedoch Picassos Gespür für den emotionalen Gehalt von Stammesobjekten. Er erlebte sie als Träger einer emotionalen Kraft, die uns zutiefst zu beeinflussen vermag.“ (279) Rubin sieht Indizien für eine Aufladung der Künstlerhand für Picasso zu einem magischen „Zauberstab“. (280) In Konsequenz davon würde ich sagen: Picasso gelangte zu dieser Zeit von der ‚bloß’ virtuosen Zeichnung zur Dimension der magischen Zeichen, von der Kraft des modernen „Künstler-Schamanen“ (280) geweckt. So gewann er zu dem früh erlernten abendländischen Repertoire ein schier unerschöpfliches ästhetisches Reservoir neu hinzu, aus dem er bis ins hohe Alter schöpfen konnte.

 

1907

Rubin legt großen Wert darauf, den auch mit dem Namen ‚Picasso’ verbundenen großen Karriereschritt für die afrikanischen (und pazifischen) Objekte nicht zu früh anzusetzen und sachgerecht einzugrenzen. Barcelona und Paris waren Kunstmetropolen voller Galerien, Ateliers und Ausstellungen. ‚Schon die Beschäftigung mit der Plastik Ägyptens im Louvre seit 1903 hatte den Weg für Picassos ‚Iberianismus’ bereitet, der von einer Ausstellung iberisch-archaischer Reliefs aus Osuna im Louvre im Frühjahr 1906 ausgelöst wurde, nach Rubin die erste entscheidende Stufe seines Primitivismus. (251) Die altiberischen Plastiken ermöglichten ihm ein ‚völlig neues Verständnis Gauguins’. In dessen großer Gedächtnisausstellung. (252) ‚Ende 1906 hatte Picasso jedoch noch keine polynesischen Kunstwerke gesehen; daher überrascht es nicht, wenn er nur die allgemein archaischen Aspekte von Gauguins Aquarell(en) übernahm – Symmetrie, Frontansicht, hieratische Gesten und Körperhaltungen’ (252)

Beeindruckt hat mich das Beispiel ‚Portrait de Gertrude Stein’ (1905-06, Ill. 303; Link), deren maskenhaftes Gesicht ich bisher nicht verstanden hatte. Genau zweiundneunzig Mal will ihm Gertrude Modell gesessen haben, ohne dass er eine befriedigende Ähnlichkeit erreichte; er habe das Gesicht ganz gelöscht. Nach einem halben Jahr Aufenthalt im katalonischen Dorf Gosol fand er die Lösung ‚in iberischer Manier’ aus dem Gedächtnis. (254)

Nach vielen Versuchen war die zweite Fassung der ‚Demoiselles’ (Ill.320, 260) von Ende Mai 1907 ein ‚spätiberisches Aquarell’ von fünf nackten Frauen in verschiedenen Posen, in dem die beiden männlichen Figuren verschwunden sind und das Bild hochformatiger geworden ist. (260) Wie ließ sich der Gehalt der ursprünglichen ‚anekdotischen’ Bilderzählung in dieses räumlich dichtere, frontalere und vergleichsweise abstrahierte Bild retten? Nur durch einige einschneidende Veränderungen auf der rechten und linken Seite des Bildes. ‚Der Rückgewinn der Aussage vollzog sich auf einer tieferen, obschon generellen Ebene, die der ‚ikonischen’ Form, die das Bild angenommen hatte, entsprach. Die Demoiselles links und rechts von der Mitte vermitteln immer dunklere Einblicke in die Natur des Weiblichen.“ Rubin spricht von der „Polarität zwischen Eros und Thanatos“, Krankheit und Tod. (260)

Rubin datiert den ersten Besuch im Trocadero-Museum unmittelbar vor Fertigstellung. Was immer das Museum an interessanten anderen formalen Leckerbissen zu bieten hatte, erst der durch die Objekte vermittelte Schrecken ließ den Knoten platzen. Die Afrikaner waren Fachleute für die ‚ikonische’ Beschwörung der dunklen Seiten der Existenz. „Die afrikanische Galerie scheint damals in einem besonders schlechten Zustand gewesen zu sein“, schreibt Rubin unter Verweis auf den Text bei Paudrat (siehe oben). Umso besser!

„Er (Picasso) reagierte damit aber auch auf den reduktiven, ideographischen Charakter der Werke, die er Salmon gegenüber als raisonnable – d. h. vom konzeptionellen her als logisch – beschrieb, sowie auf die ästhetischen Besonderheiten einiger Objekte.“ (263) – Erst die drei Aspekte zusammen – Magie, Reduktion und ästhetische Besonderheit – öffnen den europäisch sozialisierten Blick für die afrikanische Kunst. Rubin betont zu Recht, dass afrikanische Skulpturen, denen Picasso vor 1907 im Ambiente von Künstlerateliers begegnete, auf ihn nicht solche Wirkung haben konnten. Noch weniger später in gereinigter und aufpolierter Form in den Galerien von Paris. Doch die konnten ihn ohnehin nicht verlocken. Soviel Geld wollte er für seine Anregungen nicht ausgeben; notfalls reichte ja vielleicht auch ein alter Fahrradlenker.

Die Rolle der „art nègre“ in den ‚Demoiselles’ wurde schon früh von Freunden Picassos diskutiert und so in der internationalen Presse übernommen, aber sie wurde auf die Ästhetik eingeengt und oft mit dem Kubismus vermengt. Überall wollte man in seinen vor allem kubistischen Werken “Art Nègre” entdecken. (268) Rubin untersucht und bewertet im Aufsatz noch auf siebzig weiteren Seiten zufällige oder weniger zufällige Übereinstimmungen. Vorher zitiert er freilich Picassos Antwort auf eine Frage nach der Wertigkeit afrikanischer Plastik: dass „die afrikanischen Plastiken, die überall in meinen Ateliers herumhängen, eher Zeugen als Vorbilder sind.“ (270, 348: Anm.66)

                        

„Zeugen“ im wahrsten Sinne, auch Sachbeweise!

Die dämonischen Königsstatuen aus Abomey/Benin auf dem Detailfoto von 1895 (Ill 162, p.136) üben ihren finsteren Zauber im aktuellen Musée du Quai Branly aus (2006). Ich habe sie 2006 beim ersten Besuch als ‘stark’ wahrgenommen und in einem Album wiederzugeben versucht. (Link)

Zeugen! Zumal die ‚condition humaine’ auf diesem Kontinent sicher viel homogener sind als die ästhetischen Antworten, welche afrikanische Künstler in ihrer jeweiligen Umgebung gefunden haben – und finden. Am Beispiel von ‚Krankheitsmasken’ formuliert Rubin eine wichtigen Unterschied zu Ähnlichkeiten in Les Demoiselles: „Wir sollten allerdings die Tatsache nicht aus den Augen verlieren, dass sogar die gewaltsamsten Verzerrungen der afrikanischen masques de maladie reale Entstellungen des Gesichts wiedergaben; der Künstler brauchte nur die traditionelle Stilisierung seines Volkes auf physische Phänomene zu übertragen. Picassos Verzerrungen waren hingegen eine erfundene Projektion eines inneren, psychischen Zustandes. Sie stellen außerdem übersteigerte Formen von Asymmetrie dar, die sich schon in den ersten Projekten für die Demoiselles finden, die noch vor der Begegnung mit der Stammeskunst im Trocadéro entstanden sind.“ (274)            

Übrigens:

Picassos künstlerisches Erfolgsmodell auf betriebswirtschaftliche Marketingbegriffe gebracht zu haben, ist das Verdienst von „Yellow“-Strom-Erfinder* Bernd Kreutz. Lehrreich und vergnüglich zu lesen!    > Link zum Tagesspiegel.

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