Jean-Louis Paudrat schildert in seiner Rezeptionsgeschichte âAus Afrikaâ (in: Primitivismus in der Kunst des 20.Jahrhunderts, William Rubin (Hrsg.), Prestel 1984, S.151f.) eine starke Anekdote mit den Themen Wahrnehmung und Begreifen afrikanischer Kunst:
„Welche Objekte Picasso vorher auch gesehen hat, man sollte die Bedeutung seines Besuchs im TrocadĂ©ro im FrĂŒhjahr 1907 nicht unterschĂ€tzen. Ohne im Widerspruch zu frĂŒheren Erfahrungen zu stehen, offenbarte sich Picasso durch diese neue Erfahrung die primitive Kunst in einer Bedeutung und Dimension, die er bis dahin nicht wahrgenommen hatte. Den Bericht, den er dreiĂig Jahre spĂ€ter AndrĂ© Malraux darĂŒber gab, ist in dieser Hinsicht sehr erhellend. (A.M., La TĂȘte obsĂ©dienne, p.17ff.) Als er allein die RĂ€ume des TrocadĂ©ro betrat, wĂŒnschte er sogleich der abstoĂenden AtmosphĂ€re des Ortes zu entfliehen, fĂŒhlte sich aber gleichzeitig unwiderstehlich angezogen: âEs war ekelhaft. Der Flohmarkt. Der Geruch… Ich wollte sofort wieder hinaus. Ich ging nicht. Ich blieb. Ich blieb.â Er fĂŒhlte, daĂ âsich in ihm etwas ereignete, … daĂ es sehr wichtig war.â Ihm wurde plötzlich / klar, âwarum er Maler warâ. Denn anders als Derain, Matisse und Braque, fĂŒr die âFetischeâ, âles nĂšgresâ, nur einfach âgute Plastiken … wie andere auchâ waren, hatte er erkannt, daĂ diese Masken vor allem âmagische Dingeâ, âMedienâ, âVermittlerâ zwischen dem Menschen und den dunklen MĂ€chten des Bösen waren, genau so mĂ€chtig wie die drohenden Geister auf der ganzen Welt, Werkzeuge und Waffen, mit denen man sich von den Gefahren und Ăngsten, die die Menschheit bedrohen, befreien konnte.“
Ohne die Empfindungen Picassos in diesem schrecklichen Museum schmĂ€lern zu wollen, muss man einrĂ€umen, daĂ sie eine gewisse Berechtigung hatten. 1907 war der afrikanische Saal (…) ein sehr kleines ĂŒberfĂŒlltes Depot, in dem einige der erstaunlichsten, vom menschlichen Geist ersonnenen Werke hastig und ohne jedes Konzept aufgestellt worden waren. (…) Man konnte sich kaum vom Rand zur Mitte bewegen, muĂte bei jedem Schritt aufpassen, nicht zu stolpern: hier gegen eine lebensgroĂe menschliche Statue, dort gegen einen ĂŒberladenen Ausstellungsschrank. (….) Man konnte schon erschrecken vor den Mischwesen dieses phantastischen Bestiariums (Abb.162), vor der Gewalt und dem Schmerz, die von diesen geritzten oder mit NĂ€geln gespickten Körpern ausgingen, von der Angst, die einem die wildblickenden, geisterhaften Erscheinungen einjagten, oder vor dem wie durch Zauberei belebten Material.
Dennoch bot dieses vom Sakralen geprĂ€gte Universum nicht die Bilder eines fernen, von rachsĂŒchtigen Gottheiten und dĂ€monischen Monstren bevölkerten Pantheons dar. Selten von ĂŒberwĂ€ltigender MonumentalitĂ€t, verband es stattdessen chthonische Geister, lebendige Vorfahren, heilspendende Muttergottheiten und schĂŒtzende Fetische. Damit wurde es möglich, die Vermischung des Heiligen mit der menschlichen Erfahrung, das IneinanderflieĂen des kultischen und des alltĂ€glichen Lebens zu betrachten. (…) Was Picasso im TrocadĂ©ro entdeckte, was ihn durchdrang, hat sich vielleicht auf dieser BewuĂtseinsebene abgespielt. (…)“
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Wir wissen nicht, was Picasso selber dazu sagen wĂŒrde, aber Paudrat beschwört eine Ă€sthetische Erfahrung, die wohl jeder einmal mit afrikanischen sakralen Objekten gemacht hat, erst recht Menschen, die sie âinstinktivâ ablehnen, zum Beispiel meine Frau. An den Afrika-Tischen der FlohmĂ€rkte und bei den dicht gedrĂ€ngten Objekten auf dem nackten Boden steht die innere Abwehr immer dann bereit, wenn man ohne feste Erwartungen kommt. Und das fehlt uns gerade noch heutzutage: Disparate, dissonante Botschaften auf engstem Raum.
Jean-Luis Paudrat kannte sicher nicht James Cliffords erst 1988 erschienenen Essay âĂber das Sammeln von Kunst und Kulturâ, vor allem die Stelle, wo er fordert:
âAuf einer etwas persönlicheren Ebene, die Objekte nicht nur als kulturelle Zeichen oder Kunstikonen begreift, können wir (….) zu den Dingen und ihrem verloren gegangenen Fetischcharakter zurĂŒckkehren. Allerdings nicht in Form eines devianten oder exotischen âFetischismusâ, sondern indem die Dinge wieder zu unseren eigenen Fetischen werden. Diese Taktik â sie ist notwendigerweise persönlicher Art â wĂŒrde den gesammelten Objekten die FĂ€higkeit zusprechen, etwas zum Ausdruck zu bringen, den Betrachter zu fesseln, statt nur zu erbauen und zu informieren. Afrikanische und ozeanische Objekte könnten wieder zu objets sauvages werden; Quellen der Faszination mit der Kraft zu beunruhigen. In Bezug zu ihrer WiderstĂ€ndigkeit gegenĂŒber Klassifikationen betrachtet, könnten sie uns an unseren Mangel an Besessenheit und die vielen MĂŒhen erinnern, die wir an den Tag legen, um uns eine Welt durch Sammeln aufzubauen.“ (S.304-305)
Dabei eröffnet das, was das reine Kunstwerk âverunreinigtâ: der Schmuck und andere Materialien oder eine unwĂŒrdige Umgebung, eine einzigartige Chance auf ‚AuthentizitĂ€t‘.
Sensibilisiert von Alisa LaGamma: Kongo â Power and Majesty, N.Y. 2015
Im Beitrag âMangaakaâ, Abschnitt âKongo Deconsecrationâ p.264 – treffe ich auf immer neue Beispiele der Entweihung und/oder gefĂ€lligen Zurichtung von aus Afrika exportierten Objekten. Die in Europa frĂŒh prominenten StĂŒcke wurden als Teil des klassischen âKanonsâ afrikanischer Kunst zum Ă€sthetischen MaĂstab, nicht anders als ein Jahrhundert frĂŒher die antiken Skulpturen in Wickelmannâschem MarmorweiĂ. Deshalb sind entsprechende Manipulationen heute kaum eine Randbemerkung wert. Zwei Beispiele:
Das Handelsblatt berichtete 2010 (4.Aug.: âMesser im Leibâ) ĂŒber einen Nagelfetisch.
Er war seit 1931 im MusĂ©e de lâHomme deponiert und wurde âvermutlich zwischen 1945 und 1955â gestohlen. Jetzt wurde er unerkannt in einer öffentlichen Auktion versteigert. âKeiner prĂŒft die Verlustlistenâ. Dazu kommt die âVertuschung im Ministeriumâ macht den Skandal perfekt. Erst der neue EigentĂŒmer ermittelt die IdentitĂ€t:
Anhand der Angaben des Auktionskatalogs stellte Claes bei seinen Nachforschungen fest, dass es sich um die aus dem MusĂ©e de lâHomme entwendete Statue handelte, die allerdings maskiert und mit zusĂ€tzlichen Federn versehen und bemalt war.
Klar, wenn das Ding frĂŒherâvermummtâ aufgetreten ist! – Niemand hat die Journalistin darĂŒber aufgeklĂ€rt, was die Befreiung von âZusĂ€tzenâ fĂŒr das Objekt heiĂt. Am Presse-Foto fĂ€llt mir bloĂ ein braunes poliertes Gesicht auf.
In einem Wikipedia-Artikel wird aus Negerplastik eine MĂ€nnliche Kultfigur der Baule âblolo bianâ/âasie usuâ (dort Abb. 57) vorgestellt.
Sie befindet sich heute im Folkwang-Museum Essen . Wir erfahren bei der Gelegenheit etwas mehr ĂŒber Joseph Brummer, den Sammler und Mentor Carl Einsteins.
In der Beschreibung lesen wir: UrsprĂŒnglich befand sich auf der Skulptur eine Opferkruste, da das Blutopfer direkt auf sie aufgebracht wurde. Diese wurde jedoch entfernt. Deshalb weist die Figur nur noch eine braune Grundierung auf.
 Grundierung? Es wĂ€re interessant, ob in der Quelle Die Afrika-Sammlungen der Essener Museen, Essen 1985, S.26 Genaueres darĂŒber steht. Wahrscheinlich nicht, obwohl das in diesem Fall fĂŒr die Interpretation wichtig wĂ€re, die sich unentschieden zwischen zwei Optionen einrichtet. Der Kompilator in Wikipedia scheint auch nicht willens, einen freien Schritt zu tun. Eindeutig: Mangel an Besessenheit.
(Ich gebe ihm zum Dreck am FuĂ noch einen weiteren Tip: die GröĂe! Ein Geistergatte von bald sechzig Zentimetern!? Gegen einen Ehemann, den die verheiratete Frau gegen ihre Konkurrentinnen an sich binden möchte!?)
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