Postwurf betr. ‚Körperwelten‘ (von Hagen)

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ANYTHING GOES:  PLASTINAT … and more

Liebe Kollegen, als ich durch Schüler von der Wiederholung des Mannheim-Ausflugs erfuhr, kam mir allmählich Ärger hoch: Ich hatte  gehofft, am kommenden Pädagogischen Tag  Biologen, Sport-, Kunst- und  Ethik-Lehrer darüber diskutieren zu sehen. Ohne eigene „Erfahrung“ vor Ort wäre ich ja davon ausgeschlossen gewesen.  

Vom ersten Ausstellungsbesuch (in Frankfurt) habe ich in Gk 12 und Eth13 einen Reflex mitbekommen: Mit meinen Schülern sah ich zusammen den Stern-tv-Bericht an, den eine Schülerin für den wegen Erkrankung ausfallenden Kieser-Kurs mitgebracht hatte. Die Teilnehmer der Exkursion  fanden die Ausstellung  darin adäquat  repräsentiert. (Ich kann ihn Interessierten zur Verfügung stellen.) Betroffenheit und Hilflosigkeit zeigten vor allem  zwei sehr gute  Schüler. Einer meinte; er würde erst beim zweiten Mal  genauer hinschauen können. Ich konnte dann den Katalog studieren, weil eine Schülerin der 12 ihn mir auslieh. Den wenigstens kenne ich im Original – und ich finde ihn degoutant und verlogen. Ich habe die historischen Texte kopiert, weil ich ihn nie zu Hause haben möchte. Doch das Entscheidende vermittelt er:

In Mannheim werden echte Überreste von Menschen in pietätloser Weise vor großem Publikum ausgestellt –  wegen des großen Erfolges bis zum 1.März verlängert.

Ästhetisch landen wir im  historisierenden Kitsch – die Kunstkollegen werden mir beistimmen .

Für den Historiker ist es eine zynische, geschichtsblinde Präsentation:

Ich verschließe nicht die Augen vor den Greueln der Welt und  bearbeite sie auch im Unterricht, soweit das machbar ist. Ich kenne mich auch in manchen unappetitlichen traditionellen Kulten aus, was mit meinen ethnologischen Interessen zusammenhängt. Ich nehme dabei entscheidende Unterschiede wahr. Mitten in einem seit fünfzig Jahren scheinbar so zivilisierten Milieu präsentiert sich erfolgreich ein „wissenschaftlicher“, „moderner“ Kannibalismus, wird erneut ein Prozeß der Gewöhnung, der Abstumpfung, der Enthemmung bei einem „breiten Publikum“ in Gang gesetzt! Dasselbe soll dann z.B. in Auschwitz über Menschenknochen,  Menschenhaar und „wissenschaftliche“ Präparate ein mitmenschliches Grauen empfinden?

Es rächt sich eben, daß die Verbrechen der Medizin (nicht nur im 3.Reich) nicht energisch genug an den Pranger der Weltöffentlichkeit gestellt worden sind. Daher die Dreistigkeit  solcher „Pioniere“!

Als medizinischer Laie stelle ich mir die folgenden Fragen:

1. Was immer die Medizinische Anatomie für die Ausbildung der Mediziner bedeuten mag, auf sie folgt die Physiologie!

2. Was immer die „Plastinate“ an Detailreichtum und Realismus dem „Modell“ aus Kunststoff voraushaben mögen, was hat der anatomische Laie davon?

3. In Silikon eingeschlossen statt durch Datenverarbeitung aufgeschlossen, ist das die Speerspitze der wissenschaftlichen Erkenntnis? Ich dachte, sie wäre bei Biochemie und Genetik – und diese Disziplinen werfen wissenschaftsethische Fragen genug auf !

Ethisch sind wir bei der Schamlosigkeit angekommen:

– wenn die „Spender“ ihrer Leiche darin eine schicke Beerdigungsform sehen,

– wenn nach der Entschlüsselung und Veröffentlichung des Orgasmus auch die entsprechenden Nervenstränge ausgestellt werden,

– wenn die ( juristisch naiv  aufgefaßte) „Freiheit“ des Künstlers hier ein Auge, hier eine wulstige Lippe stehenläßt oder ein Skelett seine Muskulatur oder eine  Muskelfigur ihre Haut zu Markte tragen läßt: „Anything Goes“.

Und diesen Eindrücken sollen die Schule ohne Not und vielleicht kommentarlos unsere Jugendlichen aussetzen, um was zu erkennen? Eine Menge moderner biologischer Forschung scheint mir von solchen Anatomie-Fetischisten ignoriert zu werden.

Und um was zu entwickeln? „Körperbewußtsein“ etwa? Ein gemeinsamer Besuch in der Sauna (aber das könnte ja „pädagogischen“ Skandal verursachen!), eine Fastenkur, autogenes Training, alle möglichen – inzwischen auch in Europa – gängigen Entspannungsmethoden täten dazu bessere Dienste, die jungen Leute auch ihre leib-seelische Einheit bewußt erfahren und entdecken zu lassen. Auf der anderen, dunklen Seite ließe sich auch an „psychosomatischen“ Krankheiten, an Informationen über das Sterben oder die Wirkungen der Folter eine Sensibilisierung und Aufklärung über den Körper des Menschen fördern!

Das anatomische Gruselkabinett stellt die Leiche stellvertretend für das lebendige Ganze. „Körperbewußtsein“ ist doch nicht die Einstellung eines Maschineningenieurs oder Materialprüfers oder Betriebswirtschaftlers zu einem Gerät, das zu gebrauchen, abzunutzen, steuerlich abzuschreiben und zu ersetzen wäre!

Eine lächerliche Idee, wenn es im „Abendland“ dafür nicht eine lange Tradition gäbe, und was für eine: erst eine „christliche“, die immer „den Leib abtöten“ wollte oder lebendige Menschen verbrannte, um ihre „Seele zu retten; und  die findet ihre unheilige Fortsetzung mit der moderneren mechanistischen Auffassung, die den Leib als „Maschine“, als „System“ objektiviert hat, um ihn zu manipulieren und seine Verwertung zu optimieren.

Was soll also der Bildungswert solcher „Körperwelten“ sein, der über den Jahrmarktsschauer hinausginge? Ist der Leistungssport schon so weit heruntergekommen? Hat die Biologie nichts Anderes zu lehren? Kann der Anblick einer „Raucherlunge“ Suchtprävention begründen? Es wäre das alte primitive Modell von Ignoranz  und „Abschreckung “, das in meiner  Kindheit eine „Erziehung“ bloß gegen den eigenen Körper beherrscht hat!

Ihr  v. Graeve       Frankfurt, den 20.2.98