VON ZBIGNIEW HERBERT ABGESCHRIEBEN

|

 

„Orden des weißen Adlers“, das höchste Ehrenzeichen der Dritten Republik Polen , der Ersten Republik Polen, des Herzogtums Warschau, Kongresspolens (bis 1831) und der Zweiten Republik Polen (1918–1945).“ 2007 posthum

Ich hätte gern noch mehr von ihm abgeschrieben, aber ich trau’ mich nicht; wir leben ja nicht mehr im Mittelalter, wo genaues Abschreiben noch als Kulturleistung betrachtet wurde.

Und mir ist unbehaglich. Zbigniew Herbert (1924-1998) – inzwischen in den Olymp der Kulturschaffenden erhoben – soll selber als nationales Kulturerbe der Republik Polen angesehen werden .

Nun, was hat das mit meiner Wertschätzung für Herbert zu tun? Nichts.

 

Gedicht

Übersetzung von Klaus Staemmler –  in der FAZ vom 14. Sept. 1995 als ‘poetischer’ Kommentar veröffentlicht

Scham

 

Als ich sehr krank war verließ mich die Scham

ohne Einspruch enthüllt ich fremden Händen

überließ fremden Augen

die armseligen Geheimnisse meines Leibes

Sie drangen alsbald in mich ein und vergrößerten

die Erniedrigung

Mein Professor der Gerichtsmedizin der alte Mancewicz

Verneigte sich wenn er die Leiche des Selbstmörders

aus dem Formalinteich holte

tief vor ihm als wollte er ihn um Vergebung bitten

und öffnete dann mit geübter Hand den herrlichen Brustkorb

die verstummte Kathedrale des Atems

zart fast zärtlich

Darum verstehe ich – den Toten getreu ihre Asche ehrend –

den Zorn der Griechenprinzessin ihren verbissenen Widerstand

sie hatte ja recht – ihr Bruder verdiente ein würdiges Begräbnis

das Leintuch der Erde sorgsam

über die Augen geschoben

 

 

Als 1997 und 1998  Kursleiter mit ihren “Leistungskursen Biologie“ oder „Sport“ an unserer Schule der zu „Körperwelten“ pilgerten, also zu Gunter von Hagens dekorativ präparierten Leichen  –  riss mir der kollegiale Geduldsfaden. Ich legte eine „Postwurfsendung“ in die Postfächer (LINK ). In einem Flugblatt für Schüler zitierte ich das Gedicht von Zbigniew Herbert.  Ich nutzte es damals auch als Element eines Arbeitsblattes zum „Schutz der Privatsphäre“. Es ging gegen die “Volkszählung” oder “Mikrozensus”. Das verwendete Schalenmodell der ‘Privatsphäre’ hatte damals noch einen inneren Kern.

Warum vergaß ich später den Dichter? Betrachtete ich das Gedicht nur als individuelles Zeugnis  ? Erst jetzt stellt ein Zufallsfund die Verbindung zum Autor wieder her, ermöglicht durch die Lektüre eines ebenso vergessenen Interviews über “Literatur und Politik in Polen” von Helga Hirsch mit Herbert (DIE ZEIT Nr. 33 – 8.August 1986, s. 33-34).  Wenn das kein Motiv für einen Blogbeitrag ist!

 

 

Ein weiteres Gedicht, vom Autor kommentiert

Aus: Suhrkamp Verlag – Dichten und Trachten Nr. 29 – 1967 – S.39-43 (Verlagsprodukt mit Kostproben)

 

 Warum Klassiker?

1

Im vierten buch des Peloponnesischen Krieges

erzählt Thukydides unter anderem

die geschichte seines misslungenen feldzugs

 

neben den langen reden der führer

schlachten belagerungen seuchen

dichten netzen von intrigen

diplomatischen schritten

ist diese episode wie eine nadel

im wald

 

die griechische kolonie Amphipolis

fiel in die hände des feindlichen führers Brasidas

weil Thukydides mit dem entsatz zu spät kam

er zahlte der heimatstadt dafür

mit lebenslänglicher verbannung

 

die exilierten aller zeiten

kennen den preis

 

2

die generäle der Ietzten kriege

wenn ihnen ähnliches zustößt

knien vor der geschichte

beteuern ihr heldentum und ihre unschuld

sie klagen die befehlsempfänger an

die neidischen kollegen

die ungünstigen winde

 

Thukydides sagte nur

er hätte 7 schiffe gehabt

es wäre winter gewesen

er wäre schnell gesegelt

 

3

wenn ein zerschlagener krug

zum thema der kunst wird

die kleine zerschlagene seele

mit dem großen leid über sich

 

wird das was nach uns zurückbleibt

wie das weinen des Iiebespaares

in einem kleinen schmutzigen hotel

wenn morgens die tapeten dämmern

 

Herbert:

Ich habe dieses Gedicht Warum Klassiker zögernd gewählt. Ich halte es nämlich nicht für mein bestes, auch nicht für eins, das mein poetisches Programm repräsentieren könnte. Es hat aber – wie ich meine – zwei Vorzüge: es ist einfach, trocken und es spricht, ohne Verzierung und Stilisierung, von Dingen, die mir tatsächlich am Herzen liegen.

Das Gedicht ist dreigliedrig gebaut. Der erste Teil handelt von einem Ereignis, das ein antiker Autor beschrieben hat. Im zweiten Teil übersetze ich dieses Ereignis in die Gegenwart, um eine Spannung herbeizuführen, den Unterschied in Haltung und Verhalten aufzudecken. Der dritte Teil schließlich enthält die Schlussfolgerung und die Moral und überträgt zugleich das Problem aus dem Bereich der Geschichte in den Bereich der Kunst. Man muss kein großer Kenner der heutigen Literatur sein, um ihren Charakterzug zu bemerken – den Ausbruch von Verzweiflung und Unglauben. Alle Grundwerte der europäischen Kultur sind heute in Frage gestellt. Tausende von Romanen, Theaterstücken und Gedichten sprechen vom unabwendbaren Untergang, von der Sinnlosigkeit des Lebens, von der Absurdität der menschlichen Existenz.

Es ist nicht meine Absicht, den Pessimismus leichterhand zu verspotten, dort, wo er eine Reaktion auf das Böse in dieser Welt ist. Aber ich meine, dass die schwarze Tonart der Gegenwartsliteratur aus der Einstellung der Autoren zur Realität kommt. Und diese Einstellung wollte ich im Gedicht angreifen. Die romantische Konzeption vom Dichter, der seine Wunden bloßlegt, der das eigene Unglück besingt, hat heute immer noch, trotz der Wandlung der Stile und des literarischen Geschmacks, viele Anhänger. Man glaubt, die betonte Selbstbezogenheit, das Manifestieren seines wunden “Ich“ sei des Künstlers heiliges Recht. (41)

Gäbe es eine Schule der Literatur, müsste man in ihr vor allem die Beschreibung der Gegenstände üben und nicht die der Träume. Jenseits des Ichs des Künstlers erstreckt sich eine schwere, dunkle, aber reale Welt. Man darf nicht aufhören zu glauben, daß wir diese Welt ins Wort fassen, ihr Gerechtigkeit widerfahren lassen können.

Sehr früh, fast zu Beginn meiner literarischen Arbeit, wurde mir klar, dass ich meinen Gegenstand außerhalb der Literatur zu suchen hatte. Das Schreiben als stilistische Übung fand ich unfruchtbar. Lyrik als Kunst des Worts langweilte mich. Ich begriff auch, dass ich mich von den Gedichten anderer nicht lange hätte ernähren können. Ich musste aus mir und aus der Literatur ausbrechen, mich in der Welt umsehen, andere Wirklichkeiten erobern.

Die Philosophie machte mir Mut, erste wesentliche Fragen, Grundsatzfragen zu stellen: ob die Welt existiert, wie ihr Wesen ist und ob sie erkennbar ist. Wenn man aus dieser Disziplin einen Nutzen für die Lyrik stiften kann, dann nicht dadurch, dass man Systeme beschreibt, sondern dass man den Gedankenprozess offenbart.

Ich wende mich nicht an die Geschichte, um aus ihr eine leichte Lektion der Hoffnung abzuleiten, sondern um meine Erfahrung mit der Erfahrung anderer zu konfrontieren, um für mich etwas zu gewinnen, was ich das universelle Mitleid nennen würde, auch Verantwortungsgefühl, Gefühl der Verantwortung für den Zustand der menschlichen Gewissen.

Alt ist der Traum des Dichters davon, dass sein Werk zum konkreten Gegenstand werde, wie der Kiesel oder der Baum, dass es, aus der Materie der Sprache gebildet. die einer ständigen Wandlung unterliegt, ein dauerhaftes Leben erlange. Für eine (42) der möglichen Methoden halte ich diese: sich selbst zu überwinden, die Beziehungen, die das Gedicht mit dem Autor hat, zu verwischen. So verstehe ich die Empfehlung Flaubert’s: “Der Künstler sollte sich in seinem Schaffen verstecken, ähnlich wie sich der Schöpfer in der Natur versteckt.“

*

Man muss kein Dichter sein, um von diesem Kommentar zu profitieren, „den Herbert für die letztjährige (1966) Lyrik-Tagung in Berlin schrieb.“ (S. 39)

Das politische Thema ist das eine – über das seither vergangene halbe Jahrhundert hat es sich durch ständige ohnmächtige Empörung zu einer dünnen antiken Münze abgeschliffen.

Die ‘literarischen’ Erfahrungen und Grundsätze Herberts scheinen mir wichtiger! Seine Kritik an der “Selbstbezogenheit” zum Beispiel.

Es werden aber auch individuelle Erfahrungen und Einstellungen formuliert, wo ich mich wiederfinde: Ich erinnere mich an das erste Semester in Germanistik, als ich der „Kunst des Wortes“ von Conrad Ferdinand Meyer in verschiedenen Fassungen von „Der römische Brunnen“ nachging.  Ich langweilte mich derart, dass ich dem Studienfach den Rücken kehrte. Nicht dass ich fremde „Lyrik“ verachteten würde – hatte ich mich doch selber darin versucht – doch bis auf ein paar magische Verse gab sie mir nichts. Herbert: „Ich begriff auch, dass ich mich von den Gedichten anderer nicht lange hätte ernähren können.“

„Ich musste aus mir und aus der Literatur ausbrechen, mich in der Welt umsehen, andere Wirklichkeiten erobern.“ Das war auch mein Antrieb, schon als Kind, damals ‘lesend’.

„Philosophie“  an der Universität hieß für mich zunächst ein „System“. Unter dem Einfluss kaum älterer Vorbilder, übrigens künftiger Lehrstuhlinhaber, bedeutete das Friedrich Hegel. Vierzig Jahre später erst verweigerte ich selbstbewusst Schopenhauer die ‚Schlossführung’ durch sein imposantes System und wollte nur ‘die Baustelle’ besuchen. (LINK) Ich interessierte mich bloß für „den Gedankenprozess“. Herbert: „Jenseits des Ichs des Künstlers erstreckt sich eine schwere, dunkle, aber reale Welt. Man darf nicht aufhören zu glauben, dass wir diese Welt ins Wort fassen, ihr Gerechtigkeit widerfahren lassen können.“

Nach seinem zweiten Essay in „Opfer der Könige“ über die Vernichtung der Albigenser kann ich heute auf die vielen Details in Laduries Monografie verzichten, die mir einmal sehr wichtig waren – zumal das Papier meines Taschenbuchs vergilbt ist und Druckgröße wie Satzspiegel nicht lesefreundlich sind (LINK).

 

Aus dem Essay “Das Seelchen”

EINE DER TODSÜNDEN DER ZEITGENÖSSISCHEN KULTUR IST, DASS SIE kleinmütig einer frontalen Konfrontation mit den höchsten Werten aus dem Wege geht.

Und auch die arrogante Überzeugung, dass wir auf Vorbilder (sowohl ästhetische wie auch moralische) verzichten können, denn unsere Lage in der Welt ist angeblich außergewöhnlich und mit nichts vergleichbar. Deshalb lehnen wir die Hilfe der Tradition ab, versinken immer tiefer in unsere Einsamkeit, graben in den dunklen Winkeln unserer verlassenen Seele.

Es besteht die falsche Meinung, dass Tradition so etwas wie Erbmasse ist, die man automatisch erhält, ohne Anstrengung, deshalb sind diejenigen, die gegen Vererbung und unverdiente Privilegien sind, gegen die Tradition. Allerdings erfordert jeder Kontakt mit der Vergangenheit Mühe und Arbeit, die außerdem schwierig und undankbar ist, denn unser kleines ,,Ich” schreit und wehrt sich dagegen.

Ich habe mir immer gewünscht, dass mich der Glauben nicht verlässt, dass große Geisteswerke objektiver als wir sind und dass sie uns beurteilen werden. Jemand hat richtig gesagt, dass nicht nur wir Homer lesen, die Fresken Giottos bewundern, Mozarts Musik hören, sondern dass Homer, Giotto und Mozart uns betrachten, uns hören und unsere Selbstgefälligkeit und Dummheit wahrnehmen. Arme Utopisten, Debütanten in der Geschichte, Brandstifter von Museen, Vernichter der Vergangenheit, die jenen Wahninnigen ähneln, die Kunstwerke zerstören, weil sie ihnen nicht ihren Frieden, ihre Würde und ihre kühle Ausstrahlung verzeihen können.

 

„Das Seelchen“ Auszug, aus: „Das Labyrinth am Meer“ – Wieder abgedruckt in „HERBERT”,…  einer „Publikation der Abteilung für Promotion, Ministerium der Abteilung für Auswärtige Angelegenheiten der Republik Polen“ (ISBN 978-83-89546-75-3) anlässlich des vom Parlament ausgerufenen „Zbigniew-Herbert-Jahrs 2008“.

 

Herbert lebte lange Jahre im Grunde als Emigrant, ein belesener Reiseschriftsteller mit kritischem Blick und mit Vorlieben (und Aversionen), wie man sie von sich selbst kennt.

Beispiel aus “Ein Barbar in einem Garten” (dt. in edition suhrkamp 1965 Übersetzung Walter Tiel, S.11-12)

Die Galerie in Chantilly ist dem Louvre ebenbürtig, obwohl hier die Stile und Epochen derart durcheinandergemischt sind, daß man sich auf den ersten Blick nicht zurechtfinden kann. Obendrein haben die fürstlichen Sammler (wohl aus Zerstreutheit) zwischen Meisterwerken unglaubliche Schinken aus dem 19. Jahrhundert aufgehängt. Ohne diese Bildersammlung jedoch wäre unsere Kenntnis insbesondere der französischen Malerei des 15. und 16. Jahrhunderts stümperhaft und unvollständig. Erwähnen wir nur (….) eine der prächtigsten illustrierten Handschriften nicht nur der französischen Kunstgeschichte: Les très riches heures du Duc de Berry. (….) Das Anschauen und Verstehen der Miniaturen verlangt spezifische Dispositionen und Fähigkeiten. Man muß in eine Welt eintreten, die dicht verschlossen ist, wie eine Glaskugel. Wir befinden uns ein wenig in der Situation Alicens im Wunderland, die mit einem goldenen Schlüsselchen eine Tür öffnet und wohl den herrlichsten Garten auf Erden erblickt, der jedoch allzu klein ist, als daß sie ihn betreten könnte. “Ach, wenn man sich doch nur zusammenschieben könnte wie ein Teleskop”. Das Anschauen von Miniaturen ist für die, welche sich wie ein Teleskop zusammenzuschieben verstehen.  (….)

Doch Sassetta, wo ist Sassetta, bin ich dorch seinetwegen hierher gekommen. Welch eine Freude, ,mein’ Bild am richtigen Platz zu finden. Es ist klein und wird von seinen Nachbarn fast erdrückt. Es heißt Verlobung des hl. Franziskus mit der Armut und zeigt zwei Mönche, die drei schlanken Mädchen, einem grauen, einem grünen und einem Purpurnen, gegenüberstehen. Von der Handfläche des Heiligen zur Handfläche der mittleren Gestalt spinnt sich eine subtile Bewegung wie ein zarter Faden. Im linken oberen Bildteil entschweben drei mystische Fräulein in den Himmel, natürlich und ohne gewaltsame Gesten; lediglich die nach hinten gebogenen Fußsohlen erzählen vom Flug. Auf der rechten Seite des Bildes steht ein weißes steinernes Schloß – überaus leicht, ein Schmetterling vermöchte es zu entführen. Die Landschaft ist toskanisch – graugrün, denn eben naht der Abend. Baumkronen stehen einzeln im Gelände, wie Notenköpfe. Der Himmel senkt sich herab in Streifen wie bei östlichen Malern – ganz oben herrscht kühles Blau, aber über der Linie sanft modulierter Höhen sprüht Mondhelle, Iicht, gewichtlos und ohne Grenzen. (….)

Schätzt man ein Werk danach ein, ob und wie es die Kunst ,vorwärts stößt., so wirkt dies BiId Sassettas skandalös anachronistisch und bezeugt die Blindheit des Künstlers für das, was >neu< ist. Er lebte in der Mitte des Quattrocento und dabei malte er, als schriebe man das dreizehnte Jahrhundert. Den Körper baute er aus Pflanzenfasern auf, nicht aus Fleisch und Knochen, wie es sich in der Epoche Masaccios und Donatellos gehören würde. Seine Mißachtung der Gesetze der Schwerkraft war absolut, und der empfindsame Linearismus seines Stils bewirkte, daß er den Byzantinern näher rückte als irgendein Maler Venedigs oder Florenz’. – Es fällt schwer, sich von Sassetta loszureißen, dessen Bilder die Anschauung nicht revolutionieren, sondern einen unwiderstehlichen Zauber verströmen. Glücklicherweise unterscheidet sich die Kunstgeschichte von einem Handbuch der Geometrie; es ist Platz in ihr auch für Zauberer – solche wie Sano di Petro aus Siena, Baldovinetti aus Florenz (LINK) oder Carpaccio aus Venedig. (….)

Kürzlich begegnete mir eine verwandte ‘byzantinische’ Malerei aus Russland. (Näheres folgt noch!)

 

Stand: 06.09.24

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert