Geschrieben 19.12.2017
Dialektik der Aufklärung – afrikanisch! Eine abergläubische Säkularisierung beschleunigt dasVerschwinden traditioneller Spiritualität zugunsten von manipulativer ‚schwarzer Magie’
Die Aufsicht durch die Ahnen – auch wenn sie durch nicht zu lange Verstorbene ausgeübt wurde – schuf eine höhere Instanz. Ihren Interpretationen lagen mehr oder weniger bekannte ungeschriebene Gesetze zu Grunde. Waren ihre Strafen hart, so waren die des Alten Testaments auch nicht weniger hart. Wenn ich dazu ‚Religion’ sage, darf ich das der afrikanischen Tradition nicht verweigern, auch wenn sie nicht – einige Jahrhunderte später! – schriftlich kodifiziert war wie die der Juden. Diese Tradition war körperlicher, näher am Leben, indem sie die intime individuelle Erfahrung des Vergessens und Verschwindens beim Wort nahm, die auch in Europa früher die untergründige ‚vor-christliche’ Religiosität der Menschen prägte Sie gilt auch für das Jenseits. Den ‚Hades’ der Hellenen stellen wir Laien uns heute vielleicht zu statisch vor, weil uns Theater, Erzählungen und Barock-Opern begrenzte dramatische Situationen vorgeführt haben, etwa in ‚Orpheus und Eurydike’, und die Dynamik des Verschwindens damit ausblenden.
Ist es nicht interessant, dass in Afrika die Macht der Hexer gegen die der Ahnen gestellt wurde, so wie die Macht Satans gegen die Jehovas?
Ohne das Vertrauen in den Schutz durch die Ahnen lebt das Individuum in der ‚eindimensionalen’ Welt Satans. Darin können Hexer trickreich Menschen ‚fressen’ und sich Seelen und niedere Geister dienstbar machen. So interpretieren viele ‚Kinois‘ – Bewohner Kinshasas – heute die Verhältnisse. Eine höhere Instanz greift heute nicht ein, beendet heute nicht das Leiden anständiger Menschen. Viele Pfingstkirchler glauben, dass sie die finale Prüfung vor dem Jüngsten Gericht und dem Reich Gottes durchleben.
Die meisten Menschen sind nur damit beschäftigt, den Schadenszauber ihrer Gegner und Konkurrenten zu neutralisieren und zu überwinden. Mit Schopenhauer zu sprechen: Einer der Teufel des Andern, die Hölle in der Welt („Schopenhauer-Lesebuch“, A.Hübscher,S. 184f.). – Sie ergreifen jeden Strohhalm, um diese Hexer zu erledigen, folgen jedem auch falschen Propheten, der verspricht, sie davon zu befreien.
Die ‚Entgöttlichung’ der Welt kann auch den Raum für ‚Götter auf Zeit’ verschwinden lassen. Es kommt nur auf die verlorene Dimension an, egal, wie ‚Götter’ entstanden sind. Chinesen, Hellenen und Römer teilten mit ‚animistischen’ Afrikanern die Vorliebe für vorbildliche ‚Ahnen’, die man gerne länger auf Erden gesehen hätte und die als Aufrechte oft an der ‚bösen Welt’ gescheitert waren.
Die modische Bewegung zur Aufwertung traditioneller Kulturen und ihrer Träger trifft auf demoralisierte oder kolonisierte Erben, welche die ihnen von UNESCO bis ARTE zugemutete tragende Rolle gar nicht einnehmen können, oft auch gar nicht wollen.
So wie in der ‚materialistischen’ eindimensional globalisierten ‚modernen Welt’ die Naturräume wie Urwälder, die Kulturräume bis in die letzten Nischen, die Traditionen und materiellen Kulturen, aber auch Industrien, Infrastrukturen und politischen Verfassungen erst ‚verhext’ und dann zum Verschwinden gebracht werden, so sind es im zugegebenermaßen engeren Horizont afrikanischer Dörfer und inzwischen über alle Grenzen gewachsenen Metropolen, in denen nicht nur hergebrachte Normen und Kenntnisse, auch die in der Kolonialzeit entstandenen Ordnungen und Infrastruktur zerfallen, von innen zerfressen wie ein Individuum, dem ein Hexer die Seele geraubt hat.
Wer als Leser und Leserin darüber den Kopf schüttelt, dass ich bedauerliche lokale Vorkommnisse nur so aufbauschen kann, möge die Parallelität der Entwicklungen bedenken. Wie oft haben wir in dieser Zeit das unabweisbare Gefühl, dass „die Seele“ von etwas „gestohlen“ wird? Innenstädte, Altstädte werden zu Fassaden, Kulturlandschaften flurbereinigt, ‚Geheimtipps’ vor die Säue geworfen, ‚Kultur’ in Schauwerte und Events verwandelt, Intimität und individuelles Schicksal vermarktet und bis auf die molekulare Ebene durchleuchtet, Sprache wird reguliert….
Vor dreihundert Jahren schrieb Montesquieu „Persische Briefe“, vor hundert Jahren erschienen die fiktiven Reiseeindrücke des Papalagi. Mit Samjatin, Huxley, Orwell erschienen literarische pessimistische Utopien. Es gab auch bereits authentische Berichte von Fremden (Näheres bei F.Kramer).
Nehmen wir doch auch die Projektionen zur Kenntnis, mit denen uns heutzutage Kongolesen sich und uns zu verstehen versuchen.
19.12.2017