‘Revolutionäre Tradition’ westlicher Malerei – Notiz 1936

|

 

5.3.17     Ergänzt durch eine Bemerkung von Ernst H. Gombrich (1993)

Wiegmann sprach in seiner Einführung in die Pekinger Ausstellung von einer ” Tür durch die es möglich ist von westlicher zu östlicher Kunst und vom Osten zum Westen zu springen“!  Auf den zwei Notizzetteln hier versuchte er vor allem, Chinesen die abendländische revolutionäre Tradition zu erklären. Die Faszination, die in diesen Jahrzehnten westliche Moderne in China ausübte, wäre ein triftiges Motiv gewesen, das zu tun.

Gehörten die zwei Blätter zur Vorbereitung seines Auftritts? Sind sie deshalb Fragment geblieben, weil sie ihre Aufgabe der Durcharbeitung erfüllt hatten? Die zweimal erwähnte Figur eines englischen Malers würde zum Publikum der Vernissage passen, auch zu den Lesern des PEIPING CHRONICLE. Die Beispiele ‘ Impressionismus’ und ‘Expressionismus’ passen in die Zeit. Und warum sonst hätte er die zwei losen Blätter sonst in seinen Nachlass aufnehmen sollen? Ich kenne bisher keine weiteren Dokumente, in denen er das Thema weiter ausgeführt hätte.

Die Originale liegen im Stadtarchiv Frankfurt (noch ohne Ordnungsziffer).

 

 

Text

engl. Maler – Lieber Freund – unmöglicher Standpunkt :

“Wie kann man 2 Jahrtausende bei denselben Themen, demselben Stil und derselben Naturanschauung – also bei der Tradition – bleiben?”

Piepmatz …, bei/Li Liu Fang* “weniger gut und Kaligraphie” –

Europäische Malerei ist seit den Griechen in traditioneller Richtung – trotz aller Kunstrevolutionen – Diese Revolutionen sehen für einen Europäer sehr gewaltig aus, sind aber vom Osten gesehen nicht viel mehr als Pol und Gegenpol   zwischen denen die Epochen sich in Pendelbewegungen befunden haben.

In frühromanischen Figuren ebenso wie in den gotischen steckt noch Griechenland, deutlich in der Renaissance und Barock. Proportion, Raum, überhaupt die Elemente der darstellenden Künste – sind als Begriffe in der Tradition entwickelt und haben, trotz aller Varianten, ihr Mass vom Griechentum bezogen. (Auf Zusammenhänge zwischen Griechenl. und Ägypten nicht eingehen)

Was sind heute die Gegensätze zwischen Impressionismus und Expressionismus? Wo ist das Revolutionäre bei Manet (?) bei Meunier (?)* geblieben? Es blieb das Problem der Figur, des Menschen. Statt der Hofdame war es nun die Arbeiterfrau?  Die Gesetze der Form blieben in traditioneller Form erhalten. Revolutionen des Individuums und seine Befreiungen gibt es in der europäischen Kunst in periodischer Kontinuität und wird es voraussichtlich auch einige Jahrhunderte weiter geben. Die Marxisten sprechen von revolutionären Traditionen (und warum nicht?)

Für einen Chinesen ergibt sich beim ersten Blick auf die europäische Kunst ein ebenso falscher Eindruck wie für     /2.Blatt/    diesen englischen Maler – Umkehrung – ! das Chaos. Wenn er unser traditionelle Revolution oder revolutionäre Tradition aber begreift, hat er den Schlüssel. Für den englischen Maler wäre es der Schlüssel, um die Tür von der anderen Seite zu öffnen. Er würde bemerken, dass die Gleichförmigkeit die er sieht, nur ein Ausschnitt aus der chin. Kunst ist. Ein Ausschnitt wie er z. Beispiel bei uns herzustellen wäre : Apoll v. Belvedere, Michelangelo David, Ingres und bei Picasso der klassischen Periode. Beliebig lange Reihen ließen sich herstellen vom griechischen Vasenbild bis zu Matisse etc. –

Picasso, als Beispiel europäischer traditioneller Revolution und seine Versuche diesen Bann zu brechen. Ausflüge in für Europa zu entdeckende Formgebiete die Negerplastik, in mexikanische Kunst, zu den Chinesen und alles ausgeführt auf der Fläche mit den traditionellen handwerklichen Mitteln.

Bei ihm  ein Versuch zu neuer Bildform, zudem bei ihm allein dieser Versuch zu einer traditionsfreien Bildform, das heisst einer Bildarchitektur die sich in einigen Perioden sehr der chinesischen Tradition nähert und sich von ihr nährt.

Kein Zusammenhang zwischen Kunst und und den sociologischen Gegebenheiten darf geleugnet werden, nur ist der Einfluss, ob er in Abkehr, Verherrlichung oder revolutionärem Lehrbild sich auswirkt, hier wie dort der Antrieb zur Produktion – es werden damit gute und schlechte Bilder gemacht, die guten Bilder und die grossen Meister jeder Geistesrichtung = jeder Zeitrichtung, bleiben undiskutabel ob sie auch von diesem oder jenem Zeitpublikum geleugnet oder nicht verstanden werden.

Beispiele :  Revoluzzer Signorelli. Antichrist in Orvieto*. Prometheus – Kronos (?)*

von Griechenland bis in unsere Tage . . .

Verherrlichung . alle christliche Kunst

Abkehr Romantiker, Hegeliasten (?), auch in christlicher Kunst

 

+++++++++++++++++++++++

Erklärungen (Versuch)

  • Li Liu Fang – ‘Autor’ des Senfkorngartens
  • ?  Meunier : Constantin Meunier (1831 -1905)
  • Signorelli Orvieta   >   https://it.wikipedia.org/wiki/Cappella_di_San_Brizio
  • Der gefesselte Prometheus mit dem Adler;(Trinkschale aus Cerveteri, um 560/550 v. Chr.

 

++++++++++++++++++++++

Ernst H. Gombrich (1993)

Zum Thema der Notizen äußert Ernst H. Gombrich in “Die Kunst, Bilder zum Sprechen zu bringen – Ein Gespräch mit Didier Eribon” (dt. Klett-Cotta 1993, S.70-71) verwandte Ansichten, in seinem Fall nicht als praktizierender Maler, sondern als Kunsthistoriker:

Eribon fragt ihn explizit zum Gefühl von Künstlern, “dass es noch einen großen Fortschritt geben kann, dass man erst am Anfang steht.  Cézanne hat sich als den frühen Vertreter einer neuen Epoche gesehen” (Gombrich): “Ist es nicht auch der Wunsch, mit der Tradition zu brechen?”

Gombrich:  “Ja und nein. Wenn man völlig mit der Tradition bräche, müsste man wieder mit Nichts anfangen, und ich glaube nicht, dass das möglich ist.”

Eribon: “Ist der Impressionismus nicht ein solcher Bruch?”

Gombrich: “Nein, der Impressionismus ist ganz gewiss kein Bruch mit der Tradition. Die Impressionisten haben weiter auf einer Leinwand, in einem Rahmen gemalt. Die Probleme, die sie sich stellten, etwa das Malen des Lichts oder der Landschaft, die haben Künstler wie Corot oder Boudin schon vorher hervorragend gelöst.”

Eribon: ” Aber glaubten die Impressionisten nicht selbst, einen solchen Bruch zu vollziehen?”

Gombrich: “Nein, ich glaube nicht, dass sie sich als die Protagonisten eines neuen Aufbruchs sahen. Es gibt einen berühmten Brief, in dem Renoir Cernini empfiehlt. Beim Kubismus ist das etwas anderes. Im zwanzigsten Jahrhundert ändert sich das. Aber ich bin zutiefst davon überzeugt, dass jeder Künstler zuerst die Sprache seiner Kunst erlernen muss, die Konventionen, und erst wenn er die meistert, kann er weitergehen. (….) Wenn ein großer Künstler ein Instrumentarium meistert, versucht er neue Wirkungen durch Kombinationen und Abwandlungen zu erzielen. Und er entdeckt, dass es tatsächlich etwas gibt,was noch niemand zuvor gemacht hat. (….) Man kann in der Kunst sich ohne eine gemeinsame Sprache nicht wirklich mitteilen. Der Überrschungseffekt, von dem wir vorher sprachen, setzt eine Erwartungshaltung voraus. Wenn man etwas erwartet und die Erwartung dann übertroffen wird, verspürt man eine gewisse Erregung. Wenn nicht, ist das nur Lärm.  (….)” (71)

Fortschritt in der Kunst? Gombrichs nimmt das Beispiel der Rohrflöte eines Schäfers irgendwann in der Geschichte:

„Erst mit diesem Röhrchen ist dann die Orgel möglich geworden, (….). Aber man kommt nicht von einem Tag von der Weidenflöte zur Kunst der Fuge. Unglücklicherweise sieht die moderne Ästhetik nicht immer, dass die Kunst von diesem Gleichgewicht zwischen Tradition und Veränderung abhängt.  (….) Es hat ein Fortschritt stattgefunden. Aber indem man die technischen Möglichkeiten weiterentwickelt, entwickeln sich auch die Risiken. In der Renaissance gab es gewiss schlechte Kunst. Aber es gibt heute noch mehr, weil es leichter ist, zu scheitern. Es wird immer schwieriger, die immense Komplexität zu beherrschen, die das Medium bietet. Wenn das System einfacher ist, sind die Risiken geringer. Folglich glaube ich, dass es sowohl einen Fortschritt wie einen Niedergang gegeben hat. Es gibt heute mehr schlechte Kunst als im alten Ägypten.“ (72/73)

Gombrich kann uns  die Augen öffnen  für die Tendenzen der Gegenwart, eher als ein Vilém Flusser – der – auch er anfang der neunziger Jahre – die grenzenlose Kreativität des Mensch-Maschine-Systems verkündete. Freilich, den Begriff  “Kunst” hat Flusser bereits passend umdefiniert.

 

 

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert