‘Negerplastik’ – Was vermittelt Carl Einstein’s Essay?

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Warum vergreife ich mich an einem ‚Meilenstein’ und ‚Pionierwerk’ in der Rezeption afrikanischer Kunst, das mittlerweile hundert Jahre alt ist?

Ein Brieffreund fragte mich unlängst: „À propos Ihrer (momentanen) Afrika-Sammelleidenschaft: Haben Sie eigentlich je Carl Einsteins „Negerplastik“ gelesen? Es würde mich interessieren, was Sie von dem Buch halten, das ja offenbar zu einer ersten Afrika-„Mode“ im 20. Jahrhundert beigetragen hat“. Er fügt hinzu: „Ich selbst verstehe zu wenig von Kunst, um mir ein wirkliches Urteil über derlei Dinge bilden zu können.

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Die Neuausgabe von 1992 bei Fannei & Walz in Leipzig verstaubt schon Jahre im Regal. Bisher nahmen mir trübe Abbildungen und die totale Anonymität der abgebildeten Plastiken jedes weitere Interesse an Carl Einsteins Essay. Auch jetzt will ich vor allem wissen, was man Interessantes über die Negerplastik erfahren kann! Sie doch auch. Oder? Die kursiv gedruckten Textstellen sind  Originalzitate.

Methode

Die positive Überraschung zu Anfang! Die erste Seite (7) formuliert drei Einsichten:

  1. den leeren Anspruch der Europäer auf eine ‚geradezu phantastische Überlegenheit’ – Erläuterung unnötig

  2. Umstände und Grenzen der ästhetischen Neubewertung der ‚Negerplastik’ um 1915

  3. die damaligen Chancen für ein Verständnis dieser Kunst.

Zu 2. schrieb Carl Einstein:

Das damals aktuelle Kunstgeschehen in Europa bildete eine neue Geschichte (im Sinne von Lesart, Paradigma, Diskurs – Gv). Was vorher sinnlos erschien – und einer Majorität auch später noch (9) – wurde als Lösung der aktuellen Probleme in der plastischen Kunst betrachtet und somit als ‚Kunst’ (8) anerkannt. Begründung: ‚Wird eine formale Analyse möglich, die sich auf bestimmte eigentümliche Einheiten des Raumschaffens bezieht und sie umkreist, so ist implizite erwiesen, dass die gegebenen Gebilde Kunst sind’ (10). Die Objekte wurden in Westeuropa enthusiastisch gesammelt (8) und analysiert. Einschränkung: Der heutige Künstler agiert nicht nur für die reine Form, er spürt diese noch als Opposition seiner Vorgeschichte und verwebt seinem Streben das allzu Reaktive; seine nötige Kritik verstärkt das Analytische (14). Er verkenne damit , was Carl Einstein als im formalen Sinn als stärkste(n) Realismus erweisen will, ohne es hier näher zu bezeichnen(14).

Mit dem Hinweis auf ihre Blindstellen dämpft Einstein Erwartungen an die Eignung europäischer Künstler als ‘Führer’ zur afrikanischen plastischen Kunst. In ‚Primitivismus’, William Rubin’s New Yorker Ausstellungskatalog von 1985, stehen dazu interessante Details, zum Beispiel im Kapitel über Brancusi. – Ich thematisiere es in meinem Blog unter: ‚Freie Figuren auf eigenen Füssen’.

Zu 3. Carl Einstein begründete seine formale Methode mit erstaunlich realistischen Argumenten:

Die Völkerschaften wanderten und schoben sich in Afrika. (8) Gänzlich verschiedene Stile rühren oft aus einer Gegend her; mehrere Erklärungsweisen können hier auftreten, ohne dass man entscheiden dürfte, welche berechtigt wäre; man kann in diesem Fall annehmen, es handele sich um frühere oder spätere Kunst, oder zwei Stile bestanden gleichzeitig nebeneinander, oder eine Kunstart sei importiert. In jedem Falle, weder die geschichtlichen noch geografischen Kenntnisse erlauben vorläufig auch nicht die bescheidenste Kunstbestimmung. (9) Die beliebte Gleichsetzung, Einfaches und Erstes seien möglich identisch, nennt er Einbildung. Also bleibe allein die formale Methode, sich auf reines Beschreiben der Skulpturen als formaler Gebilde (10) zu beschränken. Dann aber erscheint es folgerichtig, dass er im Abbildungsteil des Buches gleich ganz darauf verzichtete, die ‚ethnische Zuordnung’ (Eisenhofer/Guggeis, ‘Afrikanische Kunst’, 2002), Daten über den Erwerb, Größenangaben und Verbleib anzugeben, so wertvoll das auch heute wäre.

Wieso dann ein Kapitel über Religion und afrikanische Kunst? Carl Einstein warnte doch ausdrücklich davor, die gegebenen Gebilde als Führer zu irgendeiner Praxis umzubrauchen (10)? Das galt wohl bloß für die Anderen.

Religion und afrikanische Kunst, Kubische Raumanschauung – alles eins ?

Religion interessierte ihn offensichtlich nicht als menschliche Praxis, sondern lieferte als eine despotische bedingungslos herrschende Religion (27) das metaphysische Korrelat (18), aus dem sich ein kanonischer Stil (16) ableiten ließ, und zwar exakt der kubische Stil, der zudem autonome Kunstwerke schaffen sollte – in Afrika, nicht in Paris, Berlin oder Moskau. Carl Einstein variierte die Formulierungen, zum Beispiel:

Da war die angeblich unaufhebbare Distanz des Verfertigers zum Werk: (…) Das Werk als Gottheit ist frei und losgelöst von jeglichem; Arbeiter und Adorant stehen zu ihm in unmessbarem Abstand. (15)

Der Künstler erarbeitet ein Werk, das selbständig und unverwoben bleibt. Dieser Transzendenz entspricht eine räumliche Anschauung, die jede Funktion des Beschauers ausschließt. (…) Eine fast unbeschreibbare Erregung bemächtigt sich des Überlegenden angesichts seiner schwierigen, sich zunächst als fast unlösbar darstellenden gestalterischen Aufgabe, die kubische Raumanschauung rein zu verwirklichen. (19)

Um ein abgegrenztes Dasein des Kunstwerks herauszubilden, muss jede zeitliche Funktion ausgeschaltet werden; das heißt ein Umgehen des Kunstwerks, ein Betasten muss verhütet werden. (…) Die Raumanschauung, die ein solches Kunstwerk aufweist, muss gänzlich den kubischen Raum absorbieren und ihn vereinheitlicht ausdrücken; Perspektive oder die übliche Frontalität sind hier verboten, sie wären unfromm.(18).

Nun ist klar, warum er am Ende des Kapitels ‚Religion und afrikanische Kunst’ zufrieden feststellte: Wir können nun gänzlich von dem metaphysischen Korrelat absehen, da wir es als selbstverständlichen Mitfaktor auszeichneten und wissen, daß gerade aus dem Religiösen eine abgelöste Form gefolgert werden muß. (18/19)

Sachkommentar

Einstein wollte nicht einmal die bekannten Verhältnisse in Alteuropa seit irgendeinem antiken Volke (15) zur Kenntnis nehmen, wo Künstler als Handwerker in dienender Beziehung zu Priestern und anderen Auftraggebern standen, wo selbst religiöse Bildwerke vor ihrer Weihe als profan galten.

In Afrika war und ist die Rolle der Anwender, Heiler, Hexer und Priester eher noch dominanter: Oft liefert der Handwerker, Schmied oder Zimmermann, dem Besteller nur ein Vorprodukt, das dann weiter ausgestattet und magisch ‚geladen’ wird. Bei den Lega im Osten des Kongo, wo die Geheimnisträger des Bwami-Bundes sich ihre Figuren  traditionell selber schnitzten, bestand die Ausbildung selbstredend überwiegend aus Techniken der magischen Aufladung. Die ästhetische Lösung und der Schnitzer interessierte kaum einen. Dagegen machte der Vorbesitzer – so wie heute die vornehme Provenienz bei vielen Sammlern – das Ansehen des Objekts aus. (Daniel Biebuyck, 1986) Es gäbe so viel zu sagen, über die Scheu zu berühren, die in Anspruch genommene Vermittlung durch – modern ausgedrückt – Ärzte, Therapeuten, Erzieher, Seelsorger, ‚Kartenleser’, ja auch ‚Profiler’ und Sicherheitsdienste, über Wirkungen und ihre Steigerung, ob additiv durch magische Aufrüstung oder durch gesteigerte ästhetische Wirkung. Viele Fragen sind offen. Über Entstehung und Erfolg ‚kubistischer’ afrikanischer Skulpturen vor Ort zum Beispiel habe ich noch nichts Erhellendes gelesen. – Ist es in diesem Zusammenhang nicht ein schlechter Witz, dass ausgerechnet nackte, jeden kultischen und wirkmächtigen Beiwerks beraubte, gereinigte und oft neu patinierte Holzkörper zum Ziel seines Hymnus werden? (Siehe seinen Bildteil)

…. zu Religion und der Begriffswahl Gott (15):

Man weiss seit langem, dass Gott im afrikanischen Denken oft über allem schwebte und schwebt, aber dass er deshalb noch keinen Kult bekam. Kulte wurden vielmehr organisiert, um dem Wohlergehen der eigenen Gruppe, der Abwehr von vermeintlich fremdverursachtem Unglück, der Förderung des Lebensglück oder schlicht Ehrgeiz und Neid von Individuen zu dienen. Wo heute einheimische Kirchen Erfolg haben, verdanken sie ihn sehr irdischen Heilsversprechen und greifen in ihrer Praxis zu den alten ‚symbolischen’ (magischen) Herrschaftsmitteln. So spricht Wyatt MacGaffey auch für die vorkoloniale Epoche nüchtern von ‚politischer Kultur’ (‚Kongo Political Culture’, 2000). Afrikaner gingen und gehen pragmatisch an die Dinge des Lebens heran. Zudem ist afrikanische Religion’ vor allem seit dem 19. Jahrhundert zu ständiger Neuinterpretation gezwungen (‚Renewal and Reinterpretation’, John M. Jantzen in ‚Kongo Across The Waters’, 2013)

Kubische Raumanschauung als Abrechnung mit europäischen Lösungen

Das Wunschergebnis Carl Einsteins: Die Negerplastik soll als eine klare Fixierung des unvermischten plastischen Sehens (19) das unversöhnliche Gegenteil zur europäischen Plastik sein und eine abgegrenzte Welt bilden. Er konstruiert dazu  einen ‚Primitiven’, der alle Avantgardisten an Radikalität übertrifft, indem er in höchster Erregung (19) an Gottesbildern werkt in einem Stil, der keiner Willkür des einzelnen unterliegt, sondern kanonisch bestimmt ist und nur durch religiöse Umwälzungen verändert werden kann. (16) Die gönnerhafte Aufnahme des Negers in die europäische Kunstwelt ist an die Bedingung geknüpft, alles ‚anders’ und alles ‚richtig’ zu machen. Widerspruch und formale  ‚Verunreinigungen’ durch europäische Lösungen (19) sind nicht gestattet. Europäische Lösungen (…) sind den Augen geläufig, überzeugen mechanisch und durch Gewohnheit. (…) Die Frontalität betrügt fast den Beschauer um das Kubische und steigert sämtliche Kraft auf einer Seite. (…) Den Fehler, die Kunst der Neger an einem unbewußten Erinnern irgendwelcher europäischer Kunstform zu Schanden zu machen, werden wir vermeiden, da die afrikanische Kunst aus formalen Gründen als umrissener Bezirk vor uns steht. (19) Dagegen wurde das europäische Kunstwerk geradezu die Metapher der Wirkung, die den Beschauer zu lässiger Freiheit herausfordert. Das religiöse Negerkunstwerk ist kategorisch und besitzt ein prägnantes Sein, das jede Einschränkung ausschließt. (17/18)

Es ist kein Zufall, dass dieses Buch zu Beginn des beispiellosen Weltkrieges 1914-18 erschien, von dem viele Intellektuelle ein reinigendes ‚Stahlgewitter’ erwarteten. –  In ‚Das entfesselte Wort – Nietzsches Stil und seine Folgen’ von Heinz Schlaffer, 2007, S. 218 Anm., werde ich fündig: Carl Einstein erinnert sich an seinen Wechsel von der Zivilkleidung zur Uniform: Wir spürten, wir sollten Form erhalten …/ Es ging um eine Verwandlung – die alle Kräfte durchdringen wird. (aus: Einige der schwierigen Aufgaben des Militärs, Werke Bd.4 Berlin 1992, S.78). Oder darf man an eine andere ebenso gründliche ‚Kulturrevolution’ denken? Die russischen Bolschewiken haben wenige Jahre später in industriellem Maßstab einen kanonischen Stil organisiert, der keine Willkür des einzelnen duldete. Und unter Stalin galt ohnehin: Eine fast unbeschreibbare Erregung bemächtigt sich des Überlegenden… (19)

Doch darf ich Carl Einstein an den Pranger stellen?  Wenn er Schriften deutscher Ethnologen seiner Zeit aufschlug, fand er sich ‘in guter Gesellschaft’. Da schwor man spätromantisch  auf ‘Einfühlung in fremde Kulturen’. Und man musste schon deshalb ‘die psychische Einheit der Kulturen’ unterstellen, weil ‘ohne sie (…) ja der Versuch des einfühlenden Verstehens zum Scheitern verurteilt gewesen’ wäre. Das  ‘mündete in Sentimentalität oder extremen Subjektivismus’. (Fritz Kramer: ‘Einfühlung. Überlegungen zur Ethnologie im präfaschistischen Deutschland’, in: ‘Lebenslust und Fremdenfurcht – Ethnologie im Dritten Reich,’ stw 1189, 1995, S.85-102, zit. 88)

Maske und Verwandtes

Zurück zum Text. Ich wollte nicht jede Beobachtung Carl Einsteins an afrikanischen Plastiken – aus erster oder aus zweiter Hand – herausklauben, reinigen und kommentieren, denn mit afrikanischer Kunst und deren Kontexten hatte dieses ‘avantgardistische’ Manifest nichts im Sinn. Das unprätentiös betitelte letzte Kapitel richtet wenigstens den Fokus auf ein paar weitere Aspekte.

Tätowieren: (…) Der Neger opfert seinen Körper und steigert ihn; sein Leib ist dem Allgemeinen sichtbar hingegeben (…). Es bezeichnet eine despotische bedingungslos herrschende Religion und Menschlichkeit, (…) allerdings auch eine gesteigerte Kraft der Erotik. Welch Bewußtsein heißt es, den eigenen Körper als unvollendetes Werk zu begreifen, den unmittelbar man verändert. (27) – Nur ein Spezialist könnte dieses Amalgam interessant gedeuteter Phänomene mit Einsteins ‚Theorie’ auflösen.

Tanz, Frisur: (…) den gesamten Körper zu beeinflussen, ihn bewußt zu produzieren, und dies nicht allein im unmittelbaren Bewegungsausdruck, z.B. dem Tanz oder dem fixierten wie der Frisur. (28)

Masken: An der Maske versteht der psychologisierende und zugleich theatralische Europäer dies Gefühl am ehesten. (28) – Das scheint für Einstein selber zu gelten. Zu Themen wie der Verwandlung, sei es durch die Extase oder die Maske als die fixierte Extase (28), zeigte er Ansätze zu morphologischer Betrachtung; aber auch hier dekretierte er eine bestimmte Form: die Maske hat nur Sinn, wenn sie unmenschlich, unpersönlich ist; das heißt konstruktiv, frei von der Erfahrung des Individuums (28). Grundsätzlich akzeptierte er wohl die Vielfalt: Ich gab eine Folge von Masken / in den Bildteil des Buches /, die vom Tektonischen zu einem ungemein Menschlichen niedersteigen, damit die verschiedenartige Reihe der seelischen Fähigkeit (!!) dieses Volkes (!!) belichtet werde. (29) Da scheint etwas von der Zurückhaltung vom Beginn durch: Hie und da erscheint es fast unlösbar, welchen Ausdruckstypus das Negerkunstwerk darstelle, ob den Erschrockenen oder Erschreckenden. (…) Die Tiermasken erschüttern mich, wenn der Neger das Gesicht des Tiers annimmt, das er sonst tötet (!!) (29)

Heute steht mir der Sinn nicht auf Nachrufe und Würdigungen

Hannes Böhringer (Einfach werden) und Rolf-Peter Baake (Rezeptionsgeschichtliche Anmerkungen zur ‚Negerplastik’) fassen die Leistungen Carl Einsteins und die Würdigungen durch Andere sachlich und übersichtlich zusammen. Und erst die Suchanfrage bei Google! Da muss ich mich ja schämen, so borniert zu sein! Wenigstens ein paar Links zu Seiten auf Deutsch füge ich an:    Kurzbiografie    Hans-Jürgen Heinrichs in der ZEIT   Carl-Einstein-Kongress 2016

Die historischen Verdienste Carl Einsteins, der Mut, sich in jener Zeit zur afrikanischen Kunst zu bekennen und sie zur Kunst zu erklären, und noch mehr die intellektuelle Biografie des Mannes jenseits dieses Buches sind für mich nicht Thema. Ich frage nur: Bringt uns dieses Buch heute im Verständnis traditioneller afrikanischer Skulpturen und Kulturen weiter?  Meines Erachtens tut es das nicht, sondern wirft den Leser um hundert Jahre zurück, vor allem lädt es seinem Bemühen um die Dinge nutzlosen Ballast auf. Die ideologischen Bastionen, gegen die Carl Einstein theoretisch anstürmte, sind geschliffen. Wir müssen auf andere Fragen Antworten suchen.

 

FORTSETZUNG DES THEMAS MIT DER AFRIKA-KUNSTHISTORIKERIN ZOÉ S. STROTHER, N.Y.      LINK