Flussers fernöstliche Weltanschauung

|

Und doch ist nichts Mystisches an dem Versuch, die abstrahierenden Vorurteile ais der Beobachtung der konkreten Welt auszuklammern. Die fernöstliche Weltanschauung ist synchretistisch, ästhetisch und führt unter anderem zum mystischen Welterleben.“   Der Satz steht in einem Hinweis auf die phänomenologische Methode in „Die Geste des Malens“ („Gesten“, Fischer Wissenschaft 12241, 1994, S.96). Mit seiner Abschweifung zu den speziell japanischen Zen-Praktiken Bogenschießen, Ikebana und Teezeremonie will Flusser an dieser Stelle zwar nur eine exotische Illustration liefern, doch ist deren sozialer Kontext für mich unabhängig von diesem konkreten Bezug interessant, da Flusser hier mit seiner kurzen Betrachtung ein Fenster in die außereuropäische Welt öffnet.

Der Konformitätsdruck hat sich in Japan viel später als in China ins Extrem gesteigert und hat nur zwei Jahrhunderte ungebrochen angedauert, dennoch sind die oben angesprochenen berühmten Phänomene für beide Gesellschaften typisch. Der Zwang zu äußerer Anpassung war ungeheuer, auch die buddhistischen Praktiken spiegeln ihn in ihrer extremen Ritualisierung. Wenn Übernahmen von außen in einer solchen Situation überhaupt möglich sein sollten, blieb nur der „Synchretismus“, der das Fremde durch Einschmelzen tiefgreifend umgestaltet.

Dazu gehörte die Ästhetisierung in Form streng ritualisierter Gesten, deren Perfektionierung eine asketische Selbstdisziplinierung verlangt und bereits in der Ausbildung Entschleunigung bewirkt. Einen Freiraum kann man nur ganz im Inneren der in Richtung null entschleunigten Gesten erreichen, also insofern man das Diktat hinter sich lassen kann. Die von Flusser angesprochene innere Haltung ist bereits ein Ergebnis langer intensiver Schulung oder modern ausgedrückt Kompetenzentwicklung, wie sie nur einer kleinen Elite oder höfischen Oberschicht zugänglich war. Diese Schichten tendierten im übrigen zum Agnostizismus. Das von Flusser erwähnte dritte Stichwort „Mystizismus“ trifft wohl eher populäre traditionelle religiöse Vorstellungen, allgemein auch die von Frauen in dieser Kultur.

Vielleicht ist eine solche Geistesverfassung ja unsere gemeinsame Zukunft, doch noch ist nicht aller Tage Ende. Was immer wir an Freiheit und Freiheiten in der westlichen Welt – auch Vilém Flusser in Brasilien – genießen, verdankt sich unserer Geschichte und unseren Traditionen. Gewiss sind die Zeiten längst vorbei, als unsere Vorfahren auf Pferden durch die Wälder ritten und Kleinkriege führten, die allgemeine Militarisierung, Bürokratisierung und Industrialisierung, auch die – von Flusser eigens beklagte (Tschudin-Interview) – Verschulung und Verwissenschaftlichung und zuletzt die digitale Revolution haben die Menschen immer unentrinnbarer einem formalisierten Regime unterworfen. Andreas Gelhard hat (Kritik der Kompetenz, diaphanes Zürich 2011) die Erfolgsgeschichte der psychologischen Test- und Kontrolltechniken im 20. Jahrhundert in Richtung einer ständigen ‘Persönlichkeitsentwicklung’ und damit auch der Auflösung des Politischen im Sozialen (ebd.147) nachgezeichnet. Immer mehr prägen Mensch-Maschine-Systeme unseren Alltag und unser Selbstverständnis. Daran ist kaum ein Zweifel möglich.

Doch mein Eindruck verfestigt sich seit einiger Zeit, dass Flusser in vorauseilendem Gehorsam dem Trend Vorschub leistet. Wenn etwa wie überall in den versammelten Essays der „Gesten“ vom „Erleben der Phänomene“ dermaßen stark abstrahiert wird, dass am Ende kaum mehr als die Aussage: „Wir sind Gesten“ (98) übrig bleibt, ist eine ‘fernöstlich’ meditative Haltung nicht mehr fern.

Damit eignet sich die Lehre bestens für moderne Funktionäre, auch intellektuelle, die sich im ‚Apparat’ einrichten wollen und darum hart an ihrer psychischen (wie physischen) Selbstentwicklung arbeiten, schon weil sie sich ständig von der Weiterentwicklung und Perfektionierung des Apparats bedroht fühlen müssen. Zudem scheinen ‘fernöstliche’ Konkurrenten immer die Nase vorn zu haben. Gelhard nennt das entsprechende Kapitel: „In Form sein als Lebensform“.

 

Näheres über die chinesische Variante im Beitrag Auf einem Wasserbüffel Flusser entgegen, sowie unter der Kategorie China Puzzle!