Flusser von China her betrachtet – Kultur der Module – Totalitarismus – Meisterschaft – Schriftidolatrie ? – Exzentriker von Yangzhou 18.Jh.
5.2.2017: Neufassung – letzte Chance vor der Löschung, aber ich bin von Flusser schon ziemlich weit weg. Vielleicht lohnt ja das Gedankenspiel von 2012
Während der Arbeit an einer Rezension im Sommer 2012 wanderten meine Gedanken bis nach China. Flusser propagierte den Wechsel des Standpunkts. Doch es ist schwer, sich mit Flusser zu streiten, solange man sich allein in seinen Konstruktionen von Welt bewegt. Man braucht einen Bezugspunkt außerhalb. So hat Hennrichs zum Beispiel (Flusser Studies 10, „Für eine Mythographie der Fotografie“) im altgriechischen Erbteil Widerstandspotential mobilisiert.
Die Einsicht Flussers, dass die Vermittlung immer auch das Vermittelte verstellt, kann man dabei gar nicht wichtig genug nehmen. Gerade seine faszinierenden Veranschaulichungen, etwa das „medienchronologische Modell“ (Marburger: S.39ff.) bergen diese Gefahr. Deren ständige Wiederholung im Kontext der wissenschaftlichen Diskussion und in den Werkeinführungen ließ sie zur Doktrin gerinnen, die sich allzu leicht aneignen und wiedergeben lässt und die man schließlich für ‚wahr‘ hält.
Die chinesische Perspektive
Flussers „neue Anthropologie“ (Marburger : 70) ist im chinesischen Kulturkreis alles andere als neu, übrigens ebensowenig wie Martin Bubers Entdeckung, „der unter einem Ich dasjenige versteht, zu dem andere „Du“ sagen“ (70). Sie ist bereits in einem chinesischen Schriftzeichen kodiert. (Sun Long-ji : Das ummauerte Ich).
Eine Studie über die chinesische Praxis der Module (Lothar Ledderose : Ten Thousand Things – Module and Mass Production in Chinese Art, Princeton 2000) hat mir seinerzeit nicht nur die Augen über die berühmte Tonsoldaten-Armee in Xian geöffnet. Überall ist dieses Konzept zu entdecken: So werden die menschlichen Individuen ebenso wie etwa die sieben Arten von Pinselstrichen nach Gesetzen geordnet und zusammengesetzt, die einen zu einer Gesellschaftsordnung, die anderen zu einer regulierten Schriftkultur. Während das Chaos traditionell den daoistischen Lehren überlassen wird, wird die Gesetzgebung seit zweitausend Jahren vom Konfuzianismus verwaltet, der so etwas wie eine ideale Parallelwelt geschaffen hat, die sich durchaus dazu eignet, dem chaotischen Leben der vielen Millionen Richtschnur zu sein und Grenzen zu setzen. Barrington Moore sprach in den Siebziger Jahren von „vorindustriellem Totalitarismus“. War der nicht vielleicht ein Vorgänger auch des nachindustriellen Totalitarismus, von dem Vilem Flusser spricht? Die Richtigkeit dieser Überlegungen vorausgesetzt, würde das – nicht nur im Scherz gesagt – Flussers Erfolgschancen in China vielleicht erhöhen?
Flusser arbeitet sich an dem christlich-jüdischen Menschenbild ab, das im Westen vor bald zweitausend Jahren die Vielfalt der antiken Menschenbilder verschüttet hat. Er entwickelt es weiter in teleologische, moralisierende und auf die Technik fixierte Richtung, bis hinein in das Heilsversprechen einer „telematischen Gesellschaft“. Wir erleben nach seinem Tod zweifellos den „Siegeszug des numerischen Denkens“ (71)! Seine Zeitdiagnose („Texte wurden immer unverständlicher“ etc.) bezeichnet vor allem die selbst geschaffenen Probleme von Avantgarden und Eliten. Der Ausweg wird auch hier darin gesucht, die existierende Welt den Bedürfnissen einer digitalen Parallelwelt zu unterwerfen und anzupassen, mit sanfter Gewalt, sonst anders. Um jeden Preis.
Chinesische „Schriftidolatrie“?
Die chinesische Schrift hat in ihrer langen Geschichte einige der von Flusser dem „technischen Bild“ beigelegten Züge bereits angenommen. Schriftzeichen werden bis heute von Gebildeten formal, funktional und bedeutungsmäßig analysiert als „Komputation von Kalkuliertem“ (73). Seit jeher gehören zu dieser von Philologen geprägten Schriftkultur Handbücher, aus denen die jeweilige Kombination von Strichen, Strichkombinationen und Abkürzungen mit den relevanten Bedeutungsaspekten zu erschließen war, in schwierigen Fällen so arbeitsaufwendig wie knifflige Probleme, die uns unversehens ein Computerprogramm stellen mag. Das Ergebnis sind annäherungsweise Veranschaulichungen der Bedeutung. Auch aus diesem Grund sind die Übersetzungen chinesischer Klassiker so unterschiedlich.
Nach 1949 begann das ganze chinesische Volk mühevoll einen beschränkten Kanon von Zeichen mit festgelegten Bedeutungen zu lernen. Sieben Jahre soll man sich in der Schule mit dem Schrifterwerb herumschlagen, habe ich einmal gelesen. Doch selbst auf dieser Basis muss ein Mindestmaß des Programms der Zeichenschrift herausgelesen werden. Und unter Mao musste man die Ausdeutung tagesaktuell halten. Die Kommunisten kombinieren heute locker Sprachregelung, materielle Anreize und unnachsichtige Repression unerwünschter Bestrebungen. Wenn man als Fremder als eigene Meinung vornehmlich ad-hoc „Komputationen“ von Propaganda-Modulen zu hören bekommt, hat das nicht nur mit der allgegenwärtigen staatlichen Kontrolle zu tun, auch mit der bekannten menschlichen Bequemlichkeit. „Schriftidolatrie“ betreiben hier am ehesten noch funktionale Analphabeten, traditionell an „Glückszeichen“ und Tempelinschriften.
Flussers Thema „Entzifferung der neuen Bilder“
Die chinesische Tuschmalerei war (und ist) lehrbar wie Kalligraphie, was Malschulen wie die „Zehnbambushalle“ belegen, die Module, Bildzeichen, als Prototypen in den Vordergrund stellten. Bildrollen und Schriftfahnen haben dieselben Wurzeln. Man lernt ein Bild von Elementen aus zu programmieren mit Hilfe eines – mit einem Künstlernamen versehenen – Kompositionsprogramms. Werkgeheimnisse gab es für die gleichzeitig als Kalligraphen, Dichter (na ja!) und Tuschmaler ausgebildeten intellektuellen Funktionäre nicht. Das „Entziffern eines Bildes“ war natürlich auch ein Entziffern des „Programms“ – der Maltechnik, des Stils und diverser in das Bild integrierter Texte.
Mancher im Westen beklagt die Naturferne der traditionellen Landschaftsmalerei Chinas und die Langeweile, die sich darin einstellen kann. Die vielfältigen Landschaften Chinas wurden bis ins zwanzigste Jahrhundert hinein nicht ästhetisch entdeckt und erkundet, sondern eine ikonographisch durchgebildete Musterlandschaft variierend wiederholt. Darin wurde ein Kanon von Stimmungen dargestellt. Die Naturferne der Bildintention könnte nach Flusser zukunftweisend sein, als das raffinierte Spiel der ästhetischen „Einbildungskraft“, aus einem beschränkten Satz an Elementen ein faszinierendes Bild zu komponieren, „komputieren“ .
In der Tradition Chinas vertrug sich das westliche Konzept ästhetischer Selbstverwirklichung und Originalität allein mit Meisterschaft, das hieß höchster Qualität der Ausführung (anschauliche Beispiele in Mark Salzman: „Eisen und Seide“, 1986). Der Gegensatz von Original und Kopie war tendenziell schon überwunden, obwohl die Verehrung anerkannter Meister bis zu ‚Vergöttlichung‘ gehen konnte. Ihre Werke, oder die ihnen zugeschriebenen, wurden auf diese Weise mit einem flusserschen Ausdruck „sakralisiert“. Doch unterstellte der so etwas nicht jeder Form von Verehrung?
Milieu statt Module
Luo Ping und die Schule von Yangzhou
In der Folge fand ich mein ‚Modell‘ der altchinesischen Tuschmalerei unbefriedigend. Da gab es doch die Malschule der „Exzentriker“ von Yangzhou und ihre buddhistischen Wurzeln. Ein unscheinbares intimes Albumblatt aus dem Besitz meines Zeichenlehrers erinnert mich an sie.
Doch erst der wunderbare Katalog der Ausstellung des Museum Rietberg Zürich 2009 „Luo Ping – Visionen eines Exzentrikers (1733 – 1799) und speziell die Unterstützung der Kuratorin Kim Karlsson haben mir die Augen geöffnet für das überraschend reiche Wissen, das man über ein solches Albumblatt erwerben kann: Luo Ping schreibt, dass das Album ursprünglich 6 Blätter hatte. Da die Schneelandschaft und das Gedicht von Sheng Bai’er inhaltlich nicht miteinander zu tun haben (Sheng schreibt von Orchideen und Pflaumenblüten), gehörte die Kalligraphie ursprünglich zu einem anderen Bild aus dem sechs-blättrigen Album. Dass Bild und Kalligraphie zum gleichen Album gehörten, liest man daraus, dass sowohl Luo Ping wie auch Sheng Bai’er für Herr Pu Yuan xiansheng malten und kalligraphierten. Und zwar an der Luoyuan Akademie in Jinan, Shandong. Aus dem auf das Albumblatt geschriebenen Kommentar von Lu Dadong, Kunstkenner und Kalligraph aus Hangzhou erfahren wir: Dadong gefällt das Bild sehr gut. Er findet, dass die Konturen zuerst mit blasser Tusche mit dem Finger gezogen (Doppellinie) und dann der Himmel, der Weg und die Mauer etc. eingefärbt wurden. Auch die Kalligraphie und das Siegel wirkten authentisch. Dadong hat aber keine Nachforschungen zum Siegel gemacht.
Ich entdecke in der Schule von Yangzhou, genauer mit Luo Ping ein Milieu von Mäzenen, Sammlern und Künstlern mit Intelligenz und Eigensinn!
Die Kunst spielte Versteck, ein Spiel, das uns aus dem modernen China bekannt ist. Souveräne Beherrschung der herrschenden Kulturtechniken gehörte dazu, das Entziffern des Programms, um es sich anzuverwandeln und es damit abzuwandeln, listiges „Spielen“, „Computieren“ (VF) mit Zeichen, Anspielungen und Symbolen.
Das war und ist nicht frei von persönlichem Risiko. Die chinesischen Dissidenten hielten schon damals die historischen Niederlagen und deren Opfer – Vorbilder – im kollektiven Gedächtnis, im 18. Jahrhundert solche des 12. Jahrhunderts, die sie zitierten und deren Geschichten sie erzählten. Wenn Flusser im Ernst Künstlern eine Dissidenten-Rolle zugedacht hat, muss auch diese Dimension mit bedacht werden. In unserer Zeit hätte er Beispiele freilich in allen Diktaturen der Welt finden können. Nahm er sie etwa nicht zur Kenntnis, weil sie ihm formal zu wenig zu bieten hatten und er sie vielleicht unter der Rubrik „inhaltsfixiert“ abheftete?
Wir treffen in Luo Ping auf einen adoptierten Waisenknaben, dann einen durch seine Dichtkunst zu Ansehen kommenden jungen Mann, der eine Kameradschaftsehe mit einer Künstlerin eingeht, der sich in einer umkämpften bürgerlichen Kunstszene als Maler durchsetzt, und zwar in mehreren Genres, der als Ghostpainter bei einem alten Meister in die Lehre geht und ihn beerbt, der formal viel experimentiert und im Buddhismus sein Zentrum findet, der eine eigene Familie gründet, in der Hauptstadt Peking Fuß zu fassen sucht, aber in seine Heimatstadt zurückkehrt. Sein reiches und lebendiges Oeuvre ist alles andere als die Montage von Modulen. Denn er übernimmt sie in seine künstlerische Handschrift. Seine und die Aufschriften von Freunden und Sammlern, soweit das Blatt reicht, lassen sich auch als Bereicherung verstehen.
Der Rietberg-Katalog beschämt mich. Keine Kulturtechnik ist so arm wie die von Flusser angedachte digitale Maschinerie! Das in Flussers Vermittlung der Welt gekratzte Guckloch ist zu klein.
Geschrieben nach dem 2. Juli 2012 und redigiert am 4.12.201; Neufassung 5.2.2017