Kultusminister Schopenhauer – 2.kritischer Kommentar

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zu Schopenhauer: Über Erziehung  in Parerga et Paralipomena §§ 372-76

Seitenangaben nach Haffmanns (Lütkehaus) Ausgabe der Werke in 5 Bänden      

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Allgemein lautet seine Hauptthese:

Der Natur unseres Intellekts zufolge sollen Begriffe durch Abstraktion aus den Anschauungen entstehn“.

Was heißt nun aber: entstehen und sollen?

Moderne Psychologen und Biologen sagen: Begriffe, aber solche mit unscharfen Rändern, entstehen spontan bereits in einem frühen Stadium. Sie werden auch evolutionsbiologisch erklärt, aus „kognitiver Sparsamkeit“ („Wann ist etwas ein Vogel?“. McNeill/Freiberger: Fuzzy Logic, dt. München 1994,S. 121-128)

Das größere Problem macht mir die „Anschauung“. Wie wir wissen, machte schon Schopenhauer zeitlebens die Mehrheit seiner Erfahrungen über Medien im weitesten Sinne. Er war – beginnend mit den Bildungsreisen in der Jugend – ein Beobachter der Welt.

Seine finanziellen Entscheidungen waren nicht weniger abstrakt als die von modernen Depotverwaltungen.

Er hat sich von seiner Lektüre, auch der beginnender Massenmedien, informieren lassen. Wo er die unmittelbare Erfahrung einbrachte, war sie zutiefst geprägt von eigenen Misserfolgen, Ängsten und Ressentiments – etwa was die Universitätslehre, das Verlagswesen angeht oder eben 1848.

 

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Mir fallen die durchwegs groben Entgegensetzungen im Text auf auf. „Falsch“ scheint Schopenhauers Lieblingswort. Aus der „falschen Erziehung“ sollen sollen „schiefe Köpfe“„auf immer“ hervorgehen.

Bei seiner Entgegensetzung von „natürlicher Erziehung“ und „künstlicher Erziehung“ macht er konzeptionelle Anleihen bei Pestalozzi – über ein halbes Jahrhundert hinweg – und zwar bis in seine schulmäßige Ausführung hinein. Als jugendlicher Besucher in Burgdorf war er noch skeptisch, was die mögliche Wirkung betraf.

Der alte Oberpädagoge will tatsächlich zwingend für eine willkürlich festgelegte Zeitspanne vorschreiben, wohin die „Kinder“ – wohl auch noch mit sechzehn – ihren Kopf drehen und welche „Worte“ sie „gebrauchen“ dürften, damit sie  nicht „Flausen in den Kopf bekämen, als welche häufig nicht mehr auszutreiben sind“ (537).

„Auszutreiben“! Platos Idealstaat winkt herüber, erst recht, wenn im § 376 „der ROMAN“ als Jugendverderber am Pranger steht.

Pestalozzis Grundidee ist einleuchtend, Schopenhauers spätere Zutaten sind aber allesamt von Übel. Vom Ergebnis der falschen Erziehung und Lehre zeichnet er eine Karikatur, die der natürlichen Intelligenz der Menschen Hohn spricht. Denn wo uns im Leben „schiefe Köpfe“ begegnen, haben immer weit stärkere Faktoren als die genannte Methode mitgewirkt: Einschüchterung, Depravationen, unmittelbare Vorteile, Bequemlichkeit und genuine Dummheit. Ansonsten gilt, was die Stichworte „Lippenbekenntnisse“ oder Wahrung des Gesichts“ (in China) andeuten.

Als Herstellungsprozess behandelt er nicht nur – im Hintergrund sehe ich ständig das Bild vom Eintrichtern – die  falsche Lehrmethode, auch sein Vorschlag betrifft nur die Methode, das

Vorsagen, Lehren und Lesen“ (536). Gedächtnisleistungen werden von ihm als Ablagerung des Eingetrichterten behandelt. Völlig undiskutabel.

 

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Kulturstaatsminister honoris causa ? (Hier spricht offensichtlich der Lehrer!)

Schopenhauer formuliert mit seinem Programm bereits die perfektionistischen Träume ministeriell beauftragter Lehrplan-Designer, wie sie in Deutschlands Bundesländern ihr Unwesen treiben. Auch ihren Texten entsteigt millionenfach die Schimäre eines Lehrplans auf zwei Beinen.

Ein blinder Fleck im Gesichtsfeld des sechzigjährigen Schopenhauer wundert mich schon: „Diese Auswahl sollte (…) von den tüchtigsten Köpfen und den Meistern in jedem Fache mit der reiflichsten Überlegung gemacht“ werden (541). Hat er vergessen, in wessen Händen das Bildungssystem liegt und was er in „Das Elend der Universitätsphilosophie“ über das Interesse des Staats dabei geschrieben hat?

Übrigens wäre der vorgeschlagene Abstand von zehn Jahren für den Modellwechsel, für eine „Revision“ des Curriculums (541) beim momentanen Entwicklungstempo für einen KuMi sicher zu lang. Was nicht schlecht sein muss.

Der § 375 zeigt aber, wohin sein angebliches Erziehungsprogramm in Wirklichkeit zielt: auf die philosophierende Monade, das wandelnde schopenhauersche Gesamtwerk. „Der Einzelne“ soll dem Anspruch genügen, „jede ihm vorkommende Anschauung dem richtigen, ihr angemessenen Begriff zu subsummieren“ (541).

Die auf den ersten Blick zutreffende Beobachtung Älterer an Jugendlichen: „so ist in der Jugend meistens wenig Übereinstimmung und Verbindung zwischen unsern, durch bloße Worte fixierten Begriffen und unserer, durch die Anschauung erlangten realen Erkenntnis“ spricht kaum mehr als die eigene Erfahrung des Philosophen an.

Dass einem ein Verständnis „erst in sehr reifem Alter und bisweilen plötzlich aufgegangen ist“ (537), ist normal und bei keiner pädagogischen Methode vermeidbar.

Nicht vergessen werden soll hier der angebliche „gesunde Menschenverstand, wie er bei ganz Ungelehrten häufig ist“ (536), ein bekanntes Vorurteil aus bildungsbürgerlichen Zeiten vor den modernen Sozialwissenschaften. Der Selbsthass der Intellektuellen schleppt es bis heute mit. Traditionen spielen bei dessen Gesundheit eine Rolle, eine Lebenssituation, die den Einzelnen auf sich (und seine Familie) stellte, und sicher die vielen unerkannten Begabungen, die nicht bereits durch ein flächendeckendes Bildungssystem abgeschöpft worden sind.

 

Schopenhauers autoritäre Träumerei ist weltfremd und pädagogisch ignorant, könnte aber gerade deswegen Friedrich Nietzsche zum Vorbild seines Erziehungsprogramms für den Neuen Menschen gedient haben.

Man kann den Text Schopenhauers zweifellos auch freundlicher lesen, bei jedem Aspekt nach dem Körnchen Wahrheit suchen. Doch das „28.Kapitel“  tritt selbstgewiss auf unter dem Anspruch dieses „philosophischen“ Buches, „vereinzelte, doch systematische Gedanken“ über seinen Gegenstand zu bieten. *

Rudolf Walter Leonhardt  sprach 1979 in der ZEIT von einem disparaten Frankfurter Allerlei von 38 Essays sehr unterschiedlicher Qualität des Philosophen, der der Literatur so nahe ist wie kaum ein anderer Philosoph. Was er wohl von diesem Essay gedacht hat?

 Frankfurt, den 25.6.2013 detlev()graeve.org

 

 

 

 

 

 

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