Figur des mythischen Ahnen und Helden Sètò der Ngbaka (UBANGI)

|

Veröffentlicht am 12.Nov.2019, ergänzt am 17. Januar 2021

‚Kunstprovinz’ UBANGI

Freund Joe unterschied im Gespräch gestern ‚die afrikanische Ästhetik’ von ‚der europäischen‘, blieb aber dabei stehen.

Wir sehen mehr, wenn wir ‚Realismus’ bloß in fremdem Gewand unterstellen. Dafür bieten – anders als ‚reine’ Kompositionen – ‚Kultfiguren’ ideale Ansatzpunkte: die Rolle, die sie eingenommen haben und die Erwartungen und Versprechungen, die mit ihnen verbunden waren (MacGaffey). Um den ‚Realismus’ einer Figur (oder Maske) zu erfassen, muss man sich aber schon für die soziale Welt interessieren, aus der sie kommt. Dann kann die wieder freigesetzte ästhetische Kraft, diese eigentümliche Schönheit auf den Besitzer als Betrachter zurückstrahlen.

Die weite Kunstprovinz nördlich des Kongobogens zwischen Atlantik und Nil macht es uns nicht leicht. Von Kunsthistorikern wurde sie vernachlässigt – mit Ausnahme der Mangbetu und Azande und spezieller Sammelgebiete wie etwa Waffen.  Sie war traditionell Durchzugsgebiet aller möglichen Völker und endete als Flickenteppich kolonialer Grenzregionen.

Formale Kühnheit und ‚Stil’ findet man hier höchst selten, höfische Anmut wie bei den Kongo, Kuba oder Luba schon gar nicht, eher eine ‚Art Brut‘, eine Mischung von Ungestalt und ‚Kindchenschema’. Man kann das auch positiv sehen, man kann etwa die ‚Geschlossenheit‘ der Bildproduktion loben, die Nähe der Rundplastiken zu den Stämmen und Zweigen, aus deren lebendigem Holz sie geschlagen wurden, ihre durchgängig aufrechte Haltung. So  macht es Georges Meurant in ‚La Sculpture Ubangienne‘ , siehe unten: pp. 159 ff ).

Auf den Märkten unter freiem Himmel ist  „Azandejedenfalls zum Etikett für Alles und Jedes aus dieser Richtung geworden. Ich erwarb auf gut Glück solche nicht-identifizierte Figuren.

Sprachkarte  c UBANGI p.107

 

2007 ist  ziemlich spät unter dem Titel „Ubangi“  ein repräsentatives internationales und interdisziplinäres Handbuch erschienen, das diesen ‚blinden Fleck‘ bearbeitet, indem es historische, kunstwissenschaftliche und ethnologische Perspektiven  zusammenführt. „Ein Schmelztiegel an den offenen Grenzen Zentralafrikas“ betitelt der Herausgeber Grootaers sein Einleitungskapitel : Un creuset aux frontieres ouvertes en Afrique centrale.

Die Ngbaka (nach Burssens)

In einer knapp gehaltenen Skizze werden die Ngbaka  charakterisiert: als 1920-24 von der Kolonialmacht zur Sesshaftigkeit gezwungene, kulturell relativ homogene Gruppe von heute etwa ein Million Menschen, kulturell und sprachlich den Gbaya und Manza in der Zentralafrikanischen Republik verwandt. Die meisten Skulpturen sind eher korpulent und tragen runde Köpfe. Der Grad der Ausarbeitung variiert stark. Die Skulpturen der Ngbaka haben viele Merkmale mit denen ihrer Nachbarn gemeinsam und sind daher schwer einzugrenzen. Burssens referiert Kolonialberichte in Tervuren und zeigt damals vor Ort gesammelte Stücke.

Über die religiöse Sphäre erfahren wir, dass die Ngbaka dem höchsten Wesen Gàlè, das als Quelle des Lebens auch den Frauen die Fruchtbarkeit gewährt, im Innern des Gehöfts ein schnell wachsendes Bäumchen pflanzen, aber in ihren Mythen auch Gbaso, den Schöpfer des Himmels und der Erde und der gesamten Natur verehren. Ihre Existenz schulden sie aber unmittelbar Sètò, dem man bei Nacht im Sternbild des Orion begegnen kann und der zugleich die zentrale Figur der Fabeln der Ngbaka ist.

Sètò galt als erster mythischer Ahne, doch wurden die eigentlichen Vorfahren niemals figürlich dargestellt (pp.121,123).  Zusammen mit denen seiner Schwester-Gattin Nàbo stellte man diese Figuren in ganz unterschiedlicher Größe paarweise auf.   Ein belgischer Kolonialbeamter, A. Ronse, schrieb, Figuren des Paares würden sorgsam in den Häusern aufbewahrt, um böse Geister zu verjagen, die für Tod, Krankheit, Missernte, erfolglose Jagd und Fehlgeburten verantwortlich seien.

Der Beamte schilderte auch die Verfahrenweisen zur Abwehr oder beim Eintritt solcher Unglücksfälle. Man rieb dazu rituell eine Figur oder beide Figuren mit Rotholzpulver (‚kula‘) und/oder Palmöl ein, parallel dazu den betroffenen Menschen und sein Gerät, etwa die Lianen für eine Jagdfalle.

Für „Nervenleiden“ bei Frauen war allein Gàbò zuständig, die einst selber daran gelitten hatte. 1933 berichtete De Gruben von frenetischen Tänzen von Frauen zu Ehren von Gàbò, die ihnen in ihrer Trance medizinische Ratschläge übermittelte. Der Dorfheiler schnitzte bei der Gelegenheit eine Figur, die im Fall späterer Besessenheit nützlich sein sollte. Der Beamte Crabben erwähnte weitere spezielle Heilfiguren. (ebd. p.126)

Seto und Nabo begegnen uns wieder in einer Fotoserie von der Behandlung eines kranken Mädchens gegen 1965 in Karawa in der Nähe des Ubangi. Die Großmutter vollzieht ein schlichtes Opferritual:

Doku

auch  Ubangi p.298 8.3 bis 8.5 c: Téophile Decoene, vers 1965

Mutter und Kind werden dabei wie die beiden Figuren mit dem Hühnerblut bestrichen, alle essen vom Fleisch, die Mutter gräbt die auf Eingeweide und Kopf des Huhns übertragene Krankheit in der Erde ein. (Abbildung unten links) Der Vater gibt der Großmutter ein Strohband, die bindet es dem Kind  und ein Stück davon auch den Figuren um den Hals.

Bei den Figuren ist die Stirn stark vorgewölbt, die Nase lang und sie führt ganz flach zu zu einem spitzen Kinn, die Ohren stehen ab. Beide Figuren sind weich in den Körperformen. Die Schultern hängen, die Arme sind nur spitz zulaufende Stummel. Die regionale Grundform ist zu erkennen.

Grootaers (Hrsg.) 2007: „Ubangi“ , Kap. „Glauben und Rituale der Ndbaka“ p.298f., III 8.3.- 8.9; Fotos des Autors Marcel Henrix.      17.1.2021

 

Beschreibung  meiner Figur ‚Sètò‘

Objektdoku

Ngbaka Sètò c. coll. vG

Ausgetrocknetes dichtes mittelschweres Holz von dunkler, bei Sonnenlicht roter Farbe. Kernholz in Längsrichtung beschnitzt, erkennbar an feinen Poren in Querrichtung. Ursprüngliche Schwachstellen im Holz sind ausgebrochen, aber durch Abrieb und Pflege geglättet. Gut geölt, noch leichter Geruch.

Die Kanten der kräftigen plastischen Beine sind hell abgerieben. Die kleinen Perlenaugen sind verloren, möglicherweise auch solche Perlen in den Löchern des Narbenschmucks auf Stirn und Nasenrücken.

Die Figur wirkt stark, muskulös – man denkt an Brettbauch – und wirkt größer als die gemessenen 32 cm Höhe.

Der ornamentale Körperschmuck auf Bauch und Schultern fällt an den ruhigen Flächen sofort auf. Man vermisst vielleicht einen Nabel, aber das Bauchornament markiert ihn als zentrale Leerstelle. Das Muster besteht entlang der Arme aus ‚Krähenfüßen’, deren innere ‚Zehen’ sich in einem großen Bogen über den Brustmuskel bis zum Bauch fortsetzen. Die punktierte Linie auf dem Nasenrücken reicht bis zu einem angedeuteten hohen Haaransatz. Die  Frisur ist durch drei breite parallele Kerben nur auf der Rückseite und über den Ohren markiert.

Der Schnitzer hat bis auf die abstehenden Arme wenig riskiert. Die gerundeten Formen – von Augen und Ohren zu Schultern und Beinen – verschleifen die stilistischen Besonderheiten des Figurentyps. Die Ohrlöcher sind groß und mit alten Kaurimuscheln bestückt.

Große Bohnenaugen mit kleinen Bohrungen suggerieren zusammen mit den Perlenohrringen und einem kleinen Mund ein ‚herziges‘ Kindergesicht, wie man es man von den – meist viel kleineren – Yanda-Figuren der verbreiteten Mani-Gesellschaften (Link) her kennt, die  auch auf stämmigen Beinen stehen und einen Gürtel über ringförmig stilisierten Hüften tragen. Bei dieser Figur besteht der Gürtel aus dreifach gedrehten Stoffstreifen.

Der runde Rücken stört mich anfangs, zumal die stämmigen kurzen Beine Dynamik vermissen lassen. Die Figur steht allerdings breitbeinig fest auf dem Boden. Die leicht gebeugten Arme und der gerundete Rücken konzentrieren im eingezogenen Bauch eine Menge Energie. Der halslose Ansatz zum breiten Kopf zeigt keine Schwäche. Wenn ich die Figur mit denen vergleiche, die auf einen mächtigen magischen Nabel setzen, wirkt hier die schiere körperliche Energie.

Proportionen

Unter der Gürtellinie auf 12 cm Höhe hängt entspannt ein kräftiger Schwanz herab. Darüber ruht ein Kraftzentrum von 13 cm (Höhe) mal 11 cm (Breite). Auch die Arme enden in Gürtelhöhe. Ein großer Kopf – 9 cm hoch und 10cm breit – dominiert mit großen, weiss umrandeten Augen.

 

 

Zwei Referenzfiguren des mythischen Ahnen Sètò

Im Kapitel „Schnitzkunst und angewandte Skulptur des nordkongolesischen Ubangi“ des Altmeisters Herman Burssens (einschlägige Publikationen seit 1962 !) werde ich gleich zweimal fündig, zuerst bei einer Figur von eher naturalistischer Machart, die Sètò, den ersten mythischen Ahnen der Ngbaka verkörpert, dann aber mit vielen Übereinstimmungen.

c UBANGI p.124 ill.3.20 Ngbaka 1928

Objektdoku.

c coll. vG

UBANGI  p.124   ill.3.20   Ngbaka-Figur, die der belgische expressionistische Maler Frits Van den Berghe 1928 besessen hat  >

Der Körperbau ist naturalistischer : Kopf, Proportionen,Nabel – aber Armhaltung, Ohrringe, geschwärztes Rotholz sind vergleichbar >

 

 
Vergleichsobjekte

UBANGI ill.3.17 Ngbaka ‚Séto & Nabo‘ 34,32cm

Größere Übereinstimmungen!

  • Ähnlich abstrakter Körperbau: Kopfform (bis auf die Ohren!), halslos, Power-Schultern, gebogene Arme (mickriger!), runder Rücken, kurze Kraftbeine, ‚Kahlkopf’ (m) oder angedeutete Frisur (w)
  • ovale Augenplatten!
  • sich kreuzende gepunktete Tattoo-Linien auf dem Gesicht !
  • ähnliche Typen von Ritztattoos auf dem Körper
  • ‚vergilbt’ (nicht weiß) aufgehellte Gesichtsmitte
  • geformtes Geschlecht

So viel für heute. Zu den Mustern der Tattoos kann ich noch nichts sagen.

Eine letzte Vermutung betrifft mannshohe Pfosten mit einfach gehauenen Köpfen, die in Dörfern noch 1972 fotografiert wurden: Auch sie könnten Sètò darstellen. (p.124)

Seit 2019 sind die Objekte der Region ‚Ubangi‘ in einem eigenen Unterkapitel zusammengeführt, damit Querverbindungen ins Auge fallen. (LINK)

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert