Einfach Engel oder mögen Sie eine post-mittelalterliche Angelogie lieber?

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Cattin/ Faure „Die Engel und ihr Bild im Mittelalter“ (Zodiaque, dt. Schnell & Steiner 2000) nach dem Besuch von Auxerre betrachtet

Eins der spirituellen Bücher von Zodiaque will mir auf den zweiten Blick nicht mehr gefallen, nachdem ich es noch freudig ins Reisegepäck stopfte. Der Philosoph Yves Cattin schwärmt, der Mediävist Philippe Faure schlägt die Bilder vor und erklärt sie. Die eindrücklichen Fotos stammen aus unterschiedlichen Quellen, teilweise von Zodiaque.
Fragwürdig ist der Essay, nicht nur, weil er von ‚französischer’ Geschwätzigkeit und immer ein wenig in der Haltung einer Anbetung mit gefalteten Händen geschrieben ist. So aufgeregt schrieben französische Literaten im 20. Jahrhundert über den Eros. Ich weiß nicht, ob ein solches Sprechen, das, kaum geäußert, sogleich wieder zu verstummen und sich dem Vergessen anheim zu geben vermag. (9)
Wie katholische Kleriker hat der Autor Kreide gefressen, damit auch Polemik den Eindruck von Nächstenliebe erweckt.
Es gibt sogar noch Schlimmeres: Wir riskieren, wenn wir dieses Buch durchblättern, darin nichts weiter zu sehen als ein Kunstbuch wie andere auch und darin nicht mehr zu suchen als ein ästhetisches Vergnügen, das zwar die Umrisse und die Gesichter sieht, aber nie die Seele entdeckt, die sie belebt. Die Kultur und das Wissen unserer Zeit sind schon so weit von den Engeln verlassen, dass wir ihre Sprache nicht mehr beherrschen, ja sie nicht einmal mehr hören. (9)
Kunstbuch wird herabsetzend verwendet. Gesichter ebenso, obwohl das Buch in der Reihe Gesichter des Mittelalters erschienen ist. Ich kann die Sätze erst wieder nachvollziehen, wenn ich sie mit den Augen von M.-A. Couturier lese (Link). Das gelingt mir hier aber nicht.
Das schöne Buch zeigt zweifellos inspirierte mittelalterliche Malereien und Skulpturen, und insoweit nicht bloß Handwerk, das Bildprogramm ist individuell und empathisch übersetzt, also Kunst im traditionellen Sinn, vielleicht sogar in frommer Haltung erschaffen. Aber es war Handwerk, im Auftrag geschaffen und erst mit der Einsegnung sakral, nicht anders als die entsprechenden Bildwerke in ‚heidnischen’ Kulturen. In der Wahrnehmung Ungetrenntes wird von Cattin mit Absicht getrennt, als Oberfläche und Seele.
Der Gedanke einer allgemeinen Säkularisierung ist nicht neu und wird häufiger geäußert, auch von Couturier, aber hier geschieht das tendenziös.
Es geht nur metaphorisch um die Sprache der Engel.
Die mittelalterlichen Denker glaubten, wie alle Menschen (?) ihrer Epoche, an die Engel. Aber ihr Glaube war keineswegs naiv, und sie haben in seinem Dienst einen enormen Aufwand an Reflexion und Rationalität getrieben. Ihre Zeit war rational und zuweilen sogar rationalistisch. (14)
Gerade wegen des enormen Aufwand(s) an Reflexion und Rationalität bietet Cattin den Lesern die lange, fein differenzierte mittelalterliche Reflexion als Geleit an (9). Die mittelalterliche Ikonographie über die Engel basiert also auf einer unermüdlichen Meditation, die jener Vorstellungswelt, die uns heute obskur und archaisch – sollte man nicht sagen: ketzerisch – anmutet, ihren Sinn verleiht. (15)
Was für einen Sinn? Ging es nicht um Einhegung und Neutralisierung einer phantastischen Vorstellungswelt (13), um wild wuchernde volkstümlichen Legenden. Man stelle sich vor, Pfingstkirchler aus dem Kongo nähmen diese Bildangebote heute für ihre Zwecke auf! Na gut, in eng sitzenden Maßanzügen fliegt es sich schlecht, aber es gibt auch Kirhenführer in weiten strahlend weißen Gewändern.
Zugleich ging es der kirchlichen Obrigkeit um Disziplinierung der spirituellen Schwärmerei allzu mystisch inspirierter Geistlicher. Cattin veröffentlicht seine ‚vorbildliche’ eigene theologische Meditation zur künftigen Orientierung der verbliebenen Frommen..
Aber auch historische und intellektuelle Distanz ist ihm nicht erwünscht, dem Bildinterpreten Faure wohl nicht erlaubt, der sich als dienstbarer Geist betätigt. Dabei stand jeder Engel in rhetorischen Kontexten, die wenn sie die Wahrnehmung beherrschen, das ‚Licht’ der Engel im Mittelalter schwächen. Nicht nur die Lektüre als Kunstbuch wie andere auch, sondern auch die Lektüre als historische Studie wie andere auch ist unerwünscht.
Die laue Anerkennung heidnischer Kulturen bei Cattin reicht mir nicht aus. Denn denen stehen vor allem die romanischen Skulpturen mental und formal weit näher als es modernere tun. Es fehlt mir im Text auch das Eingeständnis, wie die Kirchen sich an anderen heterodoxen Vorstellungswelten ‚versündigt’ haben, ob denen von Ketzern oder der Heiden.
Der kühne intellektuelle Sprung über fast ein Jahrtausend soll der abgelebten christlichen Kirche unter den Gebildeten Anerkennung verschaffen. Ist vielleicht dies Buch nicht gerade darin ein Kunstbuch wie andere auch?
Ich werde seit langem von romanischer Kunst angezogen. Ich suche aber die Begegnung mit einzelnen Darstellungen und Originalen vor Ort, mit einigen mehr als anderen. Ich brauche dazu nicht primär die Erklärungen, geschweige eine ganze Engelskunde, Angelogie (15), wünschte mir viel eher konkrete Informationen zu Entstehung und Schicksal. In Afrika sind mir entsprechende ‚spiritualisierende’ Darstellungen – wohl nach katholischem kolonialem Vorbild, gerade in der ‚Francophonie’ – als intellektuelles eben pseudotheologisches Konstrukt verdächtig.

Auxerre Kloster Plan der Krypta (striktes Fotoverbot)

Beim Vergleich der beiden benachbarten Krypten in Auxerre/Burgund hätte ich die der Kathedrale vorgezogen, weil sich im mittelalterlichen Klosterkeller eine unübersehbare Menge Sarkophage um das zentrale Heiligengrab drängeln. Die Krypta der Kathedrale war vorher eine vollständige, von späteren Kirchenfürsten buchstäblich in den Boden gedrückte Kirche, die mehr aus funktionalen als spirituellen Motiven im Untergeschoss erhalten wurde.

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Auxerre Dom Krypta

Auxerre Dom Engel im Winkel

 

 

 

Ich verstehe meinen Text nicht als antichristlich. Kirchenfürsten hatten über Jahrhunderte eine verantwortungsvolle Rolle. Die im Mittelalter wirkende Rivalität militärisch-politischer und geistlicher Führer ersparte Europa ein Jahrtausend der Despotie, war die Urform der ‚Gewaltenverschränkung’ (Montesquieu). Die großen mittelalterlichen Bauprojekte gehören zu denen aller Machteliten der Menschheit. Man muss sie nicht dem ‚Christentum’ ankreiden, Punkt.
Ich mag nicht eine aus durchsichtigen Motiven betriebene Überhöhung von Herrschaftsformen. Vor allem ist mir  ‚spirituelle’ Überhöhung in der Gegenwart unerträglich. Die hat mit praktischen politischen Problemlösungen nichts zu tun.
Oder vielleicht doch? Ist Traditionspflege nur mit Beschränktheit oder bewusster Selbstbeschränkung vereinbar? Muss man die hinnehmen? Muss man für jeden irgendwo noch funktionierenden Antrieb dankbar sein?

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