Eine arme Mbole-Figur inmitten Europas ‘sakraler Kunst’

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Gefühle im Widerstreit

Sie hat mich gleich am Stand überzeugt, bei allen Vorbehalten, die ich gegen den Figurentyp hege. Überraschenderweise wirkte sie auf mich vom Gesicht her. Es hat einen weichen Ausdruck, was doch (als ‘Modernismus’) alarmieren sollte.

‚Seele’ sollte man bei dieser zur Warnung gezeigten Darstellung eines Gehängten am wenigsten erwarten! Die ‚afrikanische Ästhetik ist in solchen Dingen äußerst lakonisch. Doch deshalb ist noch nicht Schematismus gefordert, zumal bei einer erzieherischen Figur. Auch sind die Gestaltung des Themas durch den Schnitzer und die kultische Verwendung nicht dasselbe. Manche Künstler legen mehr hinein als sie müssten.

Ich konnte und kann nicht eine verbotene Zutat erkennen! Keine naturalistische Dramatisierung.

Das ist ja kein Abbild eines in Wirklichkeit Gehängten, sondern die Metapher einer Botschaft, hier einer moralischen Mahnung. Der Körper der Figur weckt bei mir altem Lutheraner das Bild eines starken Kruzifix’. Äußerste Konzentration bei erheblicher Größe (84 cm). Gehe ich fehl, wenn ich Trauer, Reue, Bedauern in den Gesichtszügen lese?

Die Norm

Jedes Dorf hat(te) eine solche Figur für die moralischen Lektionen bei der Aufnahme in die höheren Ränge, entnehme ich Felix (100 tribes…).  Während der Zeremonie wurden die Neulinge vor schwerwiegenden Normverletzungen eindrücklich gewarnt. Und man wollte eine Figur, die die Strafandrohung verkörperte. Dabei war die konventionelle Stilisierung in durchschnittlicher Qualität gewiss der Normalfall, aber jede Figur wurde anders.

Öfter sehe ich das Gestell gleich angeschnitzt, was aber nach Felix nur ‚selten’ vorkam. Das war auch technisch aufwendig und unnötig, denn man band die Figur auf das Gestell.

Ich bewundere an meiner schlichten Figur die ‚natürliche’ Haltung. Das ist eine Illusion, denn in den Proportionen ist der Torso gegenüber Kopf und Beinen erheblich verlängert. Von den 84cm Gesamthöhe macht er überschlägig fast die Hälfte aus, ähnlich einem Gekreuzigten an frühmittelalterlichen Kirchen-Kreuzen.

Leiris.Delange-p.358;419 Mbole-92cmT.

Masterpieces,111-Mbole_ Ofika

Bamert1980-p.294-197Mbole-52cm

 

Meine Figur erfüllt den Standard:

Doppelkappe, nach vorn verdrehte Arme, die Hände auf den Oberschenkeln, vier Einkerbungen rechts und links für die hervorstehenden Rippen; das zurück gezogene Brustbein bildet eine flache Kerbe, die dünnen Beine, die gebeugten Knie und langen Füße bilden einen Winkel, der das Stehen unmöglich macht. – In diesem Fall sind sie bereits abgebrochen und geklebt. – Figur wie die Person hängt, die beiden Unterschenkel sind durch einen Steg stabilisiert. Das – in diesem Fall männliche – Geschlecht ist ausgebildet (hier mit Hoden).

 

 

Handwerkliche Qualität

Die Form ist klar und sauber gearbeitet, das Hartholz (Felix) dicht und fehlerlos. Bei einer Tiefe der Figur von bis zu 18 cm war ein fehlerloser und gerader Abschnitt eines kräftigen Baumstamms nötig.

Die Oberfläche ist glatt und von dunkelbrauner Färbung, ihre Patina – bis auf die Füße – leicht glänzend. Auf Gesicht und Brustbein liegen Reste von Kaolin. Die Figur ist so solide und schwer, wie ich das erwarte.

 

           “Elegant und würdevoll” –  Francois Neyt findet den richtigen Ton

Neyt Arts Trad…. p.34 II.6

 (Anthropologe & Benediktinermönch), in Arts Traditionnels .. Zaire 1981, p.34:

 “Die nördlichen Mbole haben eine elegante, würdevolle Figur geschaffen, mit langen scharf gebeugten Gliedern. Die halbkreisförmige hoch gekämmte Frisur zeigt eine breite freie Stirnpartie, ein konkaves Gesicht mit vorstehendem gezähntem Mund, geschlitzten Augen und langem Nasenrücken (fig. II.6)”

Vorführung bei einem Künstler und Ästheten fortgeschrittenen Alters

Klaus ist von der Skulptur, die ich an einen chinesischen Stuhl hänge, sehr angetan, er will ihre spontan bestimmte Position nicht ändern, schleppt ein Bild von sich an. Wir stellen Übereinstimmungen in den Gesichtern und ihrem Ausdruck fest. Er stimmt meinen Ausführungen zu. Leider kann ich sein Urteil nur unscharf erinnern. Nur, dass Fotos mittig sein müssten, damit beide Gesichtshälften gleich belichtet seien. Trotzdem wünschte er das Foto an der Kellertür im Profil. Er nimmt die Figur am Ende länger auf den Schoß und betrachtet sie und lässt sie auf sich wirken.

 

Ins christliche Mittelalter und zurück

Ein paar Tage später erinnert Heinz die Figur an das Motiv des ‘Jesus op de kolde steen’ oder auch ‘Jesus op de rast’ in gotischen Plastiken. Das lässt mir keine Ruhe, und ich finde in Westfalen („Münster, um 1470/80“), sowie Kalkar am Niederrhein („Christi Hand einfach abgeschnitten“) und im Museum der niederländischen Provinz Limburg („wat je ziet, ben je self“, 1.47 m hoch)

Christus a.d.Stein-Kalkar

Beispiele für einen Passionstyp, der eine damals gefühlte Lücke zwischen der kanonisch überlieferten Kreuztragung und Kreuzigung füllte. Als Mensch war ‘Christus’ erschöpft und verzweifelt. Gemeinsam ist den Darstellungen der „Eindruck verhaltener Innerlichkeit im Leiden. Die ausdrucksvolle Skulptur ist ein typisches Beispiel eines Andachtsbildes des späten Mittelalters“ (paulusdom.de)

Ich will der Skulptur der Mbole nicht eine ihr fremde Botschaft aufdrücken, aber auch ihrem Schöpfer wie ihrem Publikum war menschliches Leiden nicht fremd.

Kunst überwindet Kulturgrenzen ohnehin nur in einer tieferen Schicht, nicht durch den eingefahrenen Kulturtourismus mit Gewöhnungseffekt, durch die Litaneien angelernter Bilderklärer, Medienberichte oder (ungelesene) dickleibige Kataloge.

 

Was ist überhaupt ‘ sakrale Kunst’ in ‘Europa’ heute? 

M.-A. Couturier (+1954) hatte dazu eine klare Position. Als Glaskünstler war der Dominikaner  seit 1919 in den Pariser Ateliers de l’Art Sacré tätig,  später als Redakteur an der  l’Art Sacré ein halbes Jahrhundert lang treibende Kraft bei dem Versuch einer Erneuerung der “mediokren” religiösen Kunst in Frankreich. Sein Name bleibt verbunden mit den wenigen herausragenden Projekten der katholischen Kirche: Assy (Léger), Vence (Matisse), Audincourt (Léger) und Ronchamps (Le Corbusier) in den Fünfziger Jahren. Er sah diese Projekte in einer langen Tradition, als Kirchenführer mutig den größten Meistern ihrer Zeit die bedeutendsten Monumente des Christentums anvertrauten, wie fremd und revolutionär diese Künstler auch sein mochten. ( Sacred Art, 34 )

Sacred Art ist eine posthum von Dominique de Menil und Pie Duployé redigierte Auswahl von programmatischen Texten. Sie ist nur in der amerikanischen Übertragung von Granger Ryan greifbar (Austin/Texas 1989). Ihrer sprachlichen Kraft traue ich mehr als meiner Übersetzung.

Couturier p.96 Vence Matisse

Unter der Überschrift “The Stations of the Cross” (deutsch: Kreuzweg) schrieb Couturier, weshalb dieses Wandbild von Matisse (1951)  für ihn “the most beautiful thing in the chapel” war:

What I see here is something like a large page covered with marks that look like the scribbled, barely legible writing in letters written in an a hurry, under the drive of intense emotion. (….)  What other writing would be betterwhen I am to be told of the Passion? These violent signs are all I need. They say all that matters: why say morte? (….) The terrible news is there, stark , plain, undisguised. (….) I see here that the style has nothing in common with what we already knew in Matisse’s work. Nowhere else do I find this violence, this total absence of the slightest concern for beauty: nothing here is set down to please the eye. Even the numbers of the Stations seem thrown on the wall brutally. (And I remember a remark Père Festugière made to me – that “the sacred disappears from art whenever a deliberate care for the beauty of forms intervenes. (96/97)

  • “Ich sehe hier etwas wie eine große Seite, mit Markierungen bedeckt , die aussehen wie die gekritzelte, kaum lesbare Schrift in eilig geschriebenen Briefen, unter dem Antrieb intensiver Gefühle. (….) Welche  andere Schrift wäre besser, wenn ich von der Passion erführe? Diese gewalttätigen Zeichen sind alles was ich brauche. Sie sagen alles, was zählt: Warum mehr sagen?  (…). Die schreckliche Nachricht steht da, stark, klar, unverhüllt. (….)
  • Ich sehe hier, dass der Stil nichts mit dem zu tun hat, was wir bereits in Matisse ‘Arbeit kannten. Nirgendwo sonst finde ich diese Gewalt, diese totale Abwesenheit der geringsten Sorge um die Schönheit: hier ist nichts, was dem Auge gefällt. Selbst die Nummern der Stationen scheinen brutal an die Wand geworfen. (Und ich erinnere mich an eine Bemerkung, die Père Festugière mir gemacht hat: “Das Heilige verschwindet aus der Kunst, wenn eine bewusste Sorge um die Schönheit der Formen eingreift.” (96/97)

Couturier stemmte sich unbeirrbar gegen den scheinbar unaufhaltsamen Niedergang christlicher Kunst in Europa (und in den Kolonien). Ich wähle drei Aspekte aus:

The Magnificence of Poverty  (40)  – Die Großartigkeit der Armut

There was a time, and it lasted for centuries, when extreme poverty did not diminish the dignity of forms. But today, in our mindless world, it seems that wealth and poverty alike have lost their proper powers, and both of them debase everything they touch: The houses of the wealthy as well as those of the penniless are almost invariably ugly, amazingly pretentious and unaware of their vulgarity“(p.40)

  • Es gab eine Zeit, die Jahrhunderte andauerte, als die extreme Armut die Würde der Formen nicht schmälerte. Aber heute, in unserer gedankenlosen Welt, scheint es, dass sowohl Reichtum als auch Armut ihre eigentlichen Kräfte verloren haben, und beide entwerten alles, was sie berühren: Die Häuser der Wohlhabenden wie auch die der Mittellosen sind fast immer hässlich, unglaublich protzig und ihrer Vulgarität nicht bewusst.

Sacred Art and its Public  (61)  – Sakrale Kunst und ihre Öffentlichkeit

What we want to do here is to make our readers keenly aware of the misunderstanding that that separates Christian art from its public. To begin with, there is the painful fact that the Christian people have indeed become a “public“ for their art – passive or distrustful onlookers in the presence of these sacred works. Yet these works should be born out of the Christian people, should spring fully alive from them, from their life, from their desires: their art should be both the face and the mirror of the Christan soul. That is what sacred art always was in the ages of living faith, and what it no longer is. (….)_

  • Was wir hier tun wollen, ist, dass wir unseren Lesern in aller Schärfe das Missverständnis bewusst machen, das die christliche Kunst von ihrer Öffentlichkeit trennt. Da ist zunächst die schmerzliche Tatsache, dass das christliche Volk tatsächlich zu einer “Öffentlichkeit” für seine Kunst geworden ist – zu passiven oder misstrauischen Schaulustigen in Gegenwart dieser heiligen Werke. Diese Werke sollten doch aus dem christlichen Volk geboren werden, ganz lebendig aus ihrem Leben, aus ihren Wünschen hervorgehen: ihre Kunst sollte sowohl das Gesicht als auch der Spiegel der christlichen Seele sein. Das war es, was die sakrale Kunst in den Zeiten des lebendigen Glaubens war und was sie nicht mehr ist. (….)

Frommer Kitsch (61)

Auf der anderen Seite waren Kleriker und fromme Laien lange schon Teil der Misere sakraler Kunst in Frankreich. Die ‘Geschmacklosigkeit’ in den meisten Kirchen Frankreichs kann selbst einem oberflächlichen Kulturtouristen kaum entgehen. Für Courturier war die Ausbreitung von süßlichem Kitsch  Indikator für den Zustand des Katholizismus selbst.  Nun, ein halbes Jahrhundert später ist die tiefe Krise der ehemals herrschenden Weltkirche wirklich nicht mehr zu übersehen.

There is after all a Catholic art that is very much alive, universally alive – what is called l’Art de la Saint-Sulpice or bondieuserie (Link). Make no mistake about it: the popularity of the sentimental ‚devolutional“ art is due … to the fact that the Christian people, with the clergy in the lead, unconsciously recognize themselves in it and are pleased with what they see (….) in any Catholic church in Europe, America or Asia. (…) That is why it is so important to analyse these problems of Christian art correctly: they are inexorable signs of the real condition of Catholizism (61)

  • Es gibt schließlich eine katholische Kunst, die sehr lebendig und allgegenwärtig ist – sie wird l’Art de la Saint-Sulpice oder bondieuserie genannt. Machen wir uns nichts vor: Die Popularität der sentimentalen, „erbaulichen”Kunst liegt daran … dass das christliche Volk, mit dem Klerus an der Spitze, sich unbewusst darin erkennt und mit dem zufrieden ist, was sie sehen. (….) in irgendeiner katholischen Kirche in Europa, Amerika oder Asien. (…) Es ist deshalb so wichtig, diese Probleme der christlichen Kunst richtig zu analysieren: Sie sind unerbittliche Zeichen des realen Zustandes des Katholizismus.

Couturiers Abbitte an die Kolonialvölker

Über Couturiers Abbitte an die Kolonialvölker kommen wir zum Ausgangspunkt zurück. Ich weise auf den vor zwei Jahren veröffentlichten Blog hin, worin ich den Artikel „Too Late“ reproduziere und kommentiere. (Link)

Ich bin auf der Suche nach Ausnahmen

Die Krise traditioneller Kunst hat keine Gegend der Welt ausgespart. Und doch war und ist die kulturelle Landschaft viel unübersichtlicher, als damals Couturier wissen konnte. Als Sammler hoffe ich grundsätzlich auf Nischen und auf Ausnahmen von der Regel, auf Kunsthandwerker und Auftraggeber, die in der Regel unbekannt geblieben oder vergessen worden sind, aber “deren Arbeiten aus ihrem Volk geboren werden, ganz lebendig aus ihrem (…) Leben, aus ihren Wünschen hervorgehen”, egal, wie und in welchem Ausmaß sie heute noch als sakral zu bezeichnen sind.  Das ‘Sakrale’ – was immer das war – übte seine Macht mitten im Leben aus, der Vorhang vor seinen Geheimnissen war ziemlich durchsichtig. ‘Volksfrömmigkeit’ hatte immer ihre zwei Seiten. Eine davon war Ergebnis manipulativer Machtstrategien der ‘geistlichen Hirten’.  Aber aus inbrünstiger Verehrung konnte Bildersturm werden.

Ich will mehr wissen über die Mbole und ihre Nachbarn seit der Kolonialzeit! Zum Beispiel, inwieweit ihre Bünde als verschworene Gemeinschaften im Untergrund überlebt haben, ob die Dörfer unter der endlosen Folge kongolesischer Krisen inzwischen auf ihre traditionellen Bünde und deren Rituale und Zeichen zurückgreifen wie in anderen Regionen des Kongo und Afrikas. Haben sich deren Lehren geändert, etwa unter der Einwirkung der Kolonialverwaltung, der Unternehmen, der Mission oder der Pfingstkirchenbewegung der Kitawala, die zeitweise in der Gegend einflußreich war?

3.9.18

 

 

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