Das mĂŒhsame Transkribieren einer durch StĂŒhlerĂŒcken und VerkehrsgerĂ€usche gestörten Tonbandaufnahme wurde zu einer bewegenden Begegnung mit Stimme, rednerischem Gestus und Argumentation meines Lehrers nach fĂŒnfzig Jahren, andererseits auch zu einer Entdeckungsreise in ein lĂ€ngst hinter meinen Horizont verschwundenes Denken.  In diesem Text versuche ich zum ersten Mal, mir darĂŒber klar zu werden.         dvg         Â
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Das entgleiste Impulsreferat (bevor es das Wort gab)
Der vorherrschende Eindruck ist: Ja, hier wird Pathos laut, reines Pathos. Und das vor Studenten. Mit auffÀlligen Akzentsetzungen und geradezu zelebrierten Wiederholungen hÀmmert er seine philosophischen Heilsformeln  ein.
BuchstĂ€blich in letzten Minute fĂŒgt er spontan ein weiteres Thema ein, holt sich damit Kant an die Seite. Ahnung des bisher ungeheuren Anspruchs an die Hörer und der atemberaubenden Abstraktheit der Anmutung? Er reitet nun auf einer suggestiven Metapher herum, dem âSchlachten lassenâ von Menschen im Krieg.
Seine Rede schallt aus einer Raumkapsel, ohne rhetorische oder pÀdagogische Kompromisse. Die Wiederholungen sollen das GedÀchtnis entlasten, können aber auch als lutherhaft erratisch vorgetragene Bekenntnisformel gelesen werden: Hier stehe ich, ich kann nicht anders. So reden mögliche Blutzeugen.
Wenn er auch eine Diskussion vorbereiten will, so schlĂ€gt er doch mit beeindruckender Energie nur Pflöcke ein, innerhalb derer sie sich gefĂ€lligst halten soll. Im Ergebnis werden auch nur ein paar schĂŒchterne Fragen an ihn gerichtet, bevor die Diskussion wirklich einsetzt, zwischen ihn und seinem jugendlichen Herausforderer, dem Kantianer Peter Reisinger, der bei Cramer promoviert, und den er bereits gut kennt.
Was Liebrucks an VersatzstĂŒcken der RealitĂ€t aus der Höhe herablĂ€sst, Reizworte aus der gesellschaftlichen SphĂ€re, sind Köder, an denen der Diskutant unweigerlich in die Höhe gezogen, entfĂŒhrt werden kann.
Alle Fragen im Bezug zu unserer Lebenswelt, in der Bruno Liebrucks damals auftrat, bleiben auch bei der LektĂŒre nach fast fĂŒnfzig Jahren offen: Was? Wann? und vor allem Wie? Zum Beispiel die magische Bedeutung des Partizips Perfekt von âaussprechenâ: âausgesprochenâ. Damit soll der Bann der ewigen Wiederholung gelöst sein?
Die bekannte generelle bundesdeutsche âMentalitĂ€tsĂ€nderungâ, wohlgemerkt nach 1966, soll uns heute einmal als unterstĂŒtzendes Beispiel fĂŒr Liebrucksâ These dienen. Was hieĂe das dann aber?
Historiker können ein weit verzweigtes Geflecht von Wirkungsfaktoren anfĂŒhren, das den Urteilshorizont jedes Individuums, aber auch von Gruppen weit ĂŒbersteigt. Das liegt beispielsweise an deren konkretem Standort in der Welt und in der Zeit, an ihren Interessen und an ihrem Engagement. Das wusste auch schon Schopenhauer, um nur einen zu nennen. Soll der Philosoph also den emotionalen RĂŒckzug aus der Politik anstreben, um eine stoische Ruhe zu höheren Zwecken unverbogener Erkenntnis zu erhalten? Als BĂŒrger eines wie auch immer demokratischen Rechtsstaats macht sich Liebrucks mit seinem Pathos lĂ€cherlich.
Widerstand? Kants WiderstĂ€ndigkeit? Warum nicht. Doch reprĂ€sentierte bereits die Formulierung âschlachten lassenâ in einer entlegenen Fachpublikation, zudem mit der Imprimatur preuĂischer Zensurbehörden, den Epochenwandel, MentalitĂ€tswandel in Europa? Was musste alles an schmutzigen zufĂ€lligen Faktoren dazukommen, um die kantische Ethik zu befĂ€higen, in der westlichen Welt ĂŒberhaupt Wirkungen zu entfalten? Und wann bitte? In welcher VerdĂŒnnung?
Wie schwach sind Liebrucksâ Formulierungen, wenn es um reale MĂ€chte geht. Da fallen mir prompt seine kleinmĂŒtigen Anstrengungen ein, um im Dritten Reich zu Anfang des Krieges eine Professur in Philosophie zu erhalten. Ich habe erst vor kurzem davon erfahren.
Sagen, was ist â In einer freien Gesellschaft ist wahrlich keine besondere Leistung, fĂŒr die professionell ausgefeilte Philosophie des Deutschen Idealismus nötig wĂ€re, die erst mit kosmischer VerspĂ€tung begrifflich erarbeitete Antworten auf die Situation der Zeit zu liefern verspricht, die auch noch unvollkommen sein und ein Verfallsdatum tragen sollen. Hans Blumenberg hat auf die Hoffnungen amerikanischer Raumfahrt mit Ironie – oder nicht eher Humor? – geantwortet. Er machte sich ĂŒber das unlösbare Zeitproblem des von TrĂ€umern bei der NASA ersehnten Kontakts zu höheren Intelligenzen im Kosmos lustig. Das Lachen ist heilsam. Aus der Falle von ZuspĂ€tkommen und Vergessen, auch Vergessenwerden gibt es kein Entkommen.
(das Folgende habe ich direkt in die Maschine geschrieben)
Wenn Liebrucksâ Intervention Philosophie ist â und die Zeichen sprechen dafĂŒr â muss sie sich fragen lassen, wie sie in ihre Zeit spricht.
Ich bedauerte seinerzeit, dass er kaum AufsĂ€tze veröffentlichte. Ich habe in den fĂŒnf Jahren unseres Kontaktes von keinem erfahren. Liebrucks widmete sein ganzes Leben ausgerechnet dem ungewissen Nachruhm. Er arbeitete an Beweisen im Kontext klassischer Philosophie, die von der Gesellschaft nicht mehr gefordert wurden, gar nicht mehr gefragt waren. Seine am Ende seines Beitrags fast schon vergessenen RatschlĂ€ge an die studentische Jugend, gerade die Freistellung von der Politik als Chance zu sehen, bezog sich auf eine Situation der UniversitĂ€t, die von der Politik bereits als anachronistisch behandelt wurde. Seit dem Bologna-Prozess ist sie ohnehin Geschichte.
Wichtiger sind andere VersĂ€umnisse, zunĂ€chst ein Paradox: den Erwartungen der studentischen Hörer entsprechen zu mĂŒssen, etwa einen gegenĂŒber den praktischen ErtĂŒchtigungsversprechen der Rhetoriker gleichwertigen Nutzen anbieten zu sollen, aber das nicht zu können. Der Philosoph spricht aus seinem Elfenbeinturm, propagiert nur ganz allgemein den Eintritt, obwohl er wissen muss, dass er die Studenten mit der Propaganda des Politikverzichts vor den Kopf stöĂt. Vielleicht wirbt er auch gar nicht, vielleicht sucht er auch nur Anerkennung fĂŒr eine verbarrikadierte Disziplin, von der man sich fragt, wozu sie gut ist.
So öffnet er ihnen in den ganzen fĂŒnfunddreiĂig Minuten die TĂŒr zur Philosophie nicht einen Spalt breit, er lĂ€sst keine ZugbrĂŒcke, keine Leiter hinab, hinab, obwohl er, daran lĂ€sst er keinen Zweifel, die Philosophie, die er vertritt, er als einzig wahren Ort betrachtet, von dem aus der Ăberblick, der Durchblick, der Einblick in die Zeit zu gewinnen ist.
Ich frage mich heute, ob solche Disziplin ĂŒberhaupt zur universitĂ€ren Lehre gehört und nicht in ein Forschungsinstitut fĂŒr Postgraduierte. Studenten sind noch viel zu grĂŒn, um dem etwas Sinnvolles abzugewinnen. Wie Sokrates und Plato hĂ€tte er sich vom politisch definierten Bildungsbereich abwenden sollen. Mit dem reifen Alter fĂŒhle ich mich ĂŒbrigens am rechten Platz.
So., den 25.8.13
Ein paar Jahre Ă€lter bin ich schon zu ‚reif‘ dazu. Adieu.  8.4.2019
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