Ein separater Text zu „Kunst aus Afrika im Bode-Museum – Unvergleichlich“ ist erschienen und bei Google bereits auf S. 3 vorgerückt. Link.
Samstag, den 28. Oktober
Erst einmal der letzte Eindruck, eine unauflösliche Verbindung von Barbarei und Kultur
PIRANESI „I CARCERI“ IM BERLINER HAUPTBAHNHOF
Am Abreisetag habe ich drei Stunden Zeit. Noch in die Akademie der Künste fahren zu Benjamin und Brecht – Denken in Extremen? Das möchte man eigentlich noch genauer wissen! Dazu Privatfotos am Ostseestrand, Brechts Figur daoistischer Reiter oder das Schachbrett aus Brechts Besitz, Benjamins Meerschaumpfeife, Pullunder oder so. Dazu Zeugnisse von Freund und Feind, schließlich künstlerische Kommentare aus der Gegenwart; nur wenige durften sich präsentieren. Tondokumente – aber die akustische Reliquie mit Benjamins Stimme bleibt verschollen, oder soll ich sagen: verflogen?
Ich habe von der berlinischen Ausstellungskultur (neu-berlinischen?) erst einmal genug und widme die Aufmerksamkeit dem gigantischen Hauptbahnhof! Das empfiehlt sich ohnehin, da die Bahn bei mir vor Tagen Verspätungsalarm ausgelöst hat und die reservierte Verbindung ins Untergeschoss verlegt hat – niemand weiß genau wohin.
Auf meinem Weg zusammen mit tausenden von Verirrten auf den verschiedenen Sichtebenen steigt die Erinnerung an Piranesis Kerkerbilder aus dem Scharf-Gerstenberg-Museum auf. Von denen hat der Architekt M. von Gerkan seine Inspiration, er soll es nicht leugnen! Man darf sich nur vom Titel Kerker nicht irreführen lassen. Zugegeben, in der Serie sind mächtige Ketten und Angekettete zu sehen, wird Folterung angedeutet, aber im wesentlichen zeigt Piranesi gewaltige Konstruktionen mit dem einen oder anderen Blick auf die Oberwelt mit Geschlechtertürmen vor dem Himmel, mit Brücken, zusammen gewürfelten Architekturteilen, monumentalen Skulpturen, teils in Ketten gelegt, und Reliefs mit Köpfen, mit Inschriften. Eine ist Dem Schrecken unglaublicher Dreistigkeit gewidmet. Der Bahnhof der Gegenwart kann das nicht bieten, nur banale Werbung wie: Du bist etwas Besonderes.… , doch immerhin Menschenmassen auf alle Ebenen eingekeilt oder suchend in Bewegung. Nicht nur im Winter muss bei Piranesi eine Kälte herrschen wie in der zugigen Bahnhofshalle von Berlin. Die beiden Illustrationen sind nur schwache Schatten.
Ich habe vor Tagen die Kleine Philharmonie genossen. Der Hauptbahnhof ist akustisch auch ein Phänomen, wenn alle paar Minuten ein frischer Trupp Fußballfans sein Löwengebrüll hören lässt. Keine Panik! Andere Treppen und Terrassen erlauben uns, der Quelle des Lärms auszuweichen. Die Gänge um die Schließfächer werden schon bedrohlicher.
Wann kommt endlich das erste philharmonische Bahnhofshallenkonzert, gratis und an einem passenden Samstagmittag! Von Herta gesponsert? Vielleicht erlebe ich hier aber auch schon das ultimative disharmonische Konzert unserer Zeit. Wozu übrigens ein „Denken in Extremen“ in klimatisierten Kulturräumen?
Der ICE lässt dem vorausschauenden Kunden eine Viertelstunde zum Einsteigen. Alles gut.
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Donnerstag 19. Oktober
Auf dem Humboldtforum? Nein: Auf dem Kulturforum hinter der Philharmonie
Der Monumentalbau vom Flair eines Kleinflughafens enthält jedenfalls intime verdunkelte Kabinette, Nischen, um nicht zu sagen Höhlen, für deren Wachpersonal, weil vom Museumspass ausgespart, gesondert zu bezahlen ist.
Vorsicht Verwechslungsgefahren. Wir begegnen Themen und Objekten des „Museum für Asiatische Kunst“ gleich zweimal. Eine heißt „Gesichter Chinas“, ist klein, wurde trotzdem im weitläufigen Bau auf zwei Geschosse verteilt, der irgendwie in seinem Treppenhausflair entfernt an Dahlem erinnert, nur öder und größer. Grandiose Schulflure – die Sünden der Sechziger – auf Dutzende parallel eintreffende Busladungen ausgelegt.
Ich dachte bisher, das „Museum Angewandte Kunst“ Frankfurt unter seinem Genius Mathias Wagner K sei ein Sonderfall. Dabei wird in Berlin dieselbe destruktive Methode gleich gegen zwei Museen angewandt: Museum für Ethnologie und Museum Asiatische Kunst in Dahlem, beide weltbekannt. Man löse die Strukturen auf, um über die reichen Bestände künftig frei nach Schnauze disponieren zu können. Je nachdem, was gerade unter den Leitenden Museumspädagogen – oder soll man sagen Museumspäpsten – Mode ist, werden einzelne Objekte ins Gefecht geschickt.
Gemäldegalerie und Kunstbibliothek – nicht zu verwechseln mit Neuer Nationalgalerie oder den Häusern auf der Museumsinsel – geben schon einmal Beispiele geschmäcklerischer Präsentation mit oberflächlichen Vergleichen ab.
„Gesichter Chinas – Porträtmalerei der Ming- und Qing-Dynastie“ – eindrücklich
„Wechselblicke – Zwischen China und Europa 1669-1907“ – ‚Chinoiserie‘ wie gehabt
Mittwoch 18. Oktober
Morgendliche Einkaufstour, die zweite bereits.
Die zweite „Rewe-City“ – die erste war im Umbau – ist in einem ehemaligen Postamt eingerichtet. Die Postbank hat noch ein Eckchen. Ich komme mit den Erwartungen aus vier Filialen im Frankfurter Nordend; bei der dortigen „City“ in einem ehemaligen Straßenbahndepot bleibt einem der Mund offen stehen. Hier bloß ein Arme-Leute-Laden, und das ein paar hundert Meter vom Charlottenburger Schloss. An die Wohnungsmieten will ich gar nicht denken. Nicht einmal Majo in der Tube, keine Teelichter, fünf Tüten irgendwelcher Lachs. Wie muss dann Penny ein Kilometer weiter sein? Edeka an der Allee verzwergt, ebenso wie ein Reformhaus in der Nebenstraße. Und alles dünn gestreut auf weiten Flächen. Du latschst dir die Füsse platt. Aber Imbiss wohin du blickst. Und große Töne gespuckt, nicht nur in der PR der Stadtwerke für Klärschlamm. Du kannst es auch teuer und kulinarisch haben etwa so wie in der Frankfurter oder Freiburger Kleinmarkthalle, und zwar bei Bogacki. Am späten Vormittag schon essen Rentner an Tischen stehend Menus, wo sie doch zum selben Preis in irgendwelchen Lokalen sitzen könnten. – Berlin ist groß, ja, aber lauer Muckefuck, wo Frankfurt Espresso mit Schmackes bietet. Die Hauptstädter lügen sich in die Tasche.
26.10. „Jetzt entwickeln Frankfurter auch schon eine große Klappe! Vielleicht halblang? Berlin ist ein komplexes Patchwork“
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Abends Anna Vinnitskaya im Kammermusiksaal der Philharmonie.
Perfekte Akustik. Wir hatten jetzt ein Woche mit anerkannt ‚spätsommerlichem Wetter‘. Unten im Graben die einsame Pianistin, die ihren gewaltigen Flügel bändigt, ihn durch die feurigen Ringe Prokofjev, Debussy und Chopin jagt. Aber da treten erst einmal Verspätete verschiedener Ränge herein und suchen ihre Plätze. Sie werden aber weit überboten von gut verteilten namenlosen Helden, die konzertiert, aber unberechenbar husten, hüsteln, röcheln, ob in den kunstvoll eingebauten Spannungspausen zwischen den Nummern, an dramatischen Höhepunkten oder an den zelebrierten leisen Ohrwürmern. Nichts kann sie davon abhalten, vor der Pause nicht und danach nicht. Mitten in einem Goldenen Oktober. Andere bildungsferne Platzinhaber rucken mit ihren Köpfen nach vorn und zur Seite, wenn man es nicht erwartet, oder streichen durch fettige Altmännerlocken, bäh. Mir ist, als ob die Solistin in der Mitte der 28 Chopin-Variationen zu rennen anfängt. Denn kaum hat sie die Arme triumphal nach oben gerissen, als ob sich sich feiern lassen wollte, stürzt sie sich erneut ins Getümmel. Und dann müssen die Leute plötzlich weg, das beginnt schon vor dem mörderischem Beifall und setzt sich während der wiederholten Zugaben fort. Vinnitskaya spielt und sie wollen nach draußen. Es ist Viertel vor Zehn. Der Spaß hat Bolle in unserer Kategorie G schlappe zehn Euro gekostet.
Haben die Hauptstädter – dreiviertel muffige Kleinstädter und ein Viertel Eingeflogene – diese teure Philharmonie überhaupt verdient? Wie hoch war nochmal der Bundeszuschuss?
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zitty (12.-18.10) gelesen : „Das Geisterschloss – Warum das Humboldt Forum zum Debakel zu werden droht“ .
? Oje, und sogar ein „politisches Debakel“! Nicht was Sie zu wissen meinen und denken! Sie kommen nicht drauf. Was man als Beute aus Dahlems Ethnologischen und Ostasiatischen Museen entführt hat, soll selber zu unbekannten Anteilen „Preußisches Kolonialerbe“ also „Raubkunst“ sein. Eine ganze Riege excellenter provenienzwissenschaftlicher Quacksalber steht zum Exorzismus bereit, denn es ist fünf vor zwölf. Vielleicht kann der verkündete Eröffnungstermin nicht mehr eingehalten werden. Das kennt man woher noch?
Die „Provenienz“ ist die Brandschutzverordnung der Museumsverwaltung, jedenfalls wird sie dazu, wenn höchste Stellen „das Bild von Deutschlands Verhältnis zur Welt“ in deren Obhut gegeben haben. Wir haben doch keine anderen Darstellungsformen, weder Wirtschaftsbeziehungen, noch Waffenbrüderschaften oder etwa Tourismus. „Uns Deutsche“ kennt bisher doch keiner.
Zurück zum Anfang: Eigentlich suchte man nur nach einer Verwendung für den postklassischen Nachfolgebau des weithin beliebten ‚Palasts der Republik‘. Wäre ein Umzug des KaDeWe nicht geschickter gewesen? Niemand mochte eigentlich die Preußen zu ihren Lebzeiten, weder ihre Langen Kerls noch die Dicke Bertha von Krupp oder den einarmigen Banditen (alles einfach googeln!).