Die Begegnung
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Auf dem Markt begegne ich einer starken Figur, dem klassischen afrikanischen KrĂŒppel, nicht einmal auf einem der Klapptische, sondern auf einer einfachen Decke am Boden, erschreckend naturalistisch, die eigene Erlebnisse in Erinnerung ruft, zugleich gute klassische Pende-Schnitzerei.
Die Materialien sind: Holz, ĂŒber Holz gespannter Stoff, Rohr, Harz, frische Bananenstrohfrisur; alles zusammen 2kg schwer, 42 cm (mit Frisur 45) hoch, solider aufrechter Stand in realistischer Position.
Anfangs versuche ich den VerkĂ€ufer mit dem Hinweis auf Museen zu vertrösten, aber da bin ich noch nicht sicher, ob er auf dem Markt nicht noch einen âKuriosaâ-Liebhaber finden wĂŒrde. An diesem Tag findet er ihn nicht. Ich kontaktiere ihn einige Tage spĂ€ter und erwerbe sie mit Herzklopfen.
Ich kann mit dieser Figur nicht âzusammenlebenâ wie mit anderen â ich mĂŒsste âmein Leben Ă€ndernâ â aber ich kann sie ins Netz stellen und fĂŒr ârealeâ Hilfe werben lassen. Ich möchte mehr ĂŒber sie wissen. Irgendwann muss sie in eine Institution.
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Die Kraft der Figur
Der Àsthetische Aspekt
Der KĂŒnstler hat vor allem die entscheidenden Winkel von HĂ€nden und FĂŒĂen genial gestaltet.
Immer wieder schaue ich unglĂ€ubig auf die durch TĂŒcher und Harz verbundenen Bambusrohre. Die Winkel â auch die der starr gespreizten Finger und Zehen â sind âRealitĂ€tâ.
Danach frage ich mich gar nicht bei dem Oberkörper, der ein Hemd glaubhaft macht mittels des sich kantig durchdrĂŒckenden âKörpersâ aus Holz, wie anzunehmen ist. Und erst recht nicht bei einem Gesicht, das zugleich den ârealistischenâ Ausdruck einer wiederholten physischen Anstrengung zeigt wie die typischen Gesichtstraditionen der nördlichen Pende-Masken.
Wie schrieb noch Rubin in âPrimitivismusâ:
âDer KĂŒnstler brauchte nur die traditionelle Stilisierung seines Volkes auf physische PhĂ€nomene zu ĂŒbertragen. Picassos Verzerrungen waren hingegen eine erfundene Projektion…â (274)
Und was ist nun âgewaltsamerâ? FĂŒr mich immer noch die RealitĂ€t. Ăsthetik ist doch Schein, Schall und Rauch.
Die Ă€sthetische QualitĂ€t des geschnitzten Gesichts rĂŒhrt mich besonders. Keine Koketterie verwĂ€ssert die Kraft der Tradition.
Ihre mobilisierende Kraft
Ein paar Tage spĂ€ter. Ihre Kraft erweist sich in meiner Spende fĂŒr das Unicef-Programm. Zugegeben, ich habe mir zuvor den bewegenden Dokumentarfilm âBenda Bililiâ (Link zu Wikipedia) noch einmal angesehen und die Untertitel zweier Liedtexte der Bettler-Band aus Kinshasa kopiert.
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Staff Benda Bilili. Papa Ricky ist der Vater der StraĂenkids….
 Einst schlief ich auf Kartons
Bingo, bald leistâ ich mir âne Matraze
Das kann auch dir passieren
Dir, ihm, euch
Ein Mann ist nie am ende
Das GlĂŒck kommt unverhofft
Es ist im Leben nie zu spÀt
Eines Tages werden wir es schaffen
Einst schlief ich auf Kartons ….
Niemandem steht es an andere zu verurteilen
Das Leben kommt und geht
Niemand steht es zu, ein StraĂenkind zu verurteilen
Niemand sucht sich sein Leben aus
Die Kinder vom Mandela-Kreisel sind groĂe Stars
Sie schlafen auf Kartons
Die Behinderten von Plateform sind groĂe Stars
Sie schlafen auf Kartons
Wir haben Kartons!
Es steht dir nicht zu, mich auszulachen :/
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Im Centre pour hébergement des handicapés physiques sinistrés in Kinshasa singt er:
Ich bin gesund geboren
Aber dann hat mich die Polio erwischt
Schau mich heute an, gefesselt an mein Dreirad
Ich laufe an KrĂŒcken
Bin zum Mann mit dem KrĂŒckstock geworden
Verfluchte KrĂŒcken
Welche Schinderei
Verantwortungsvolle MĂŒtter
Gehen ins Impfzentrum
Und lassen ihre Babys impfen gegen KinderlÀhmung
Hört ihr Eltern
VernachlÀssigt eure Kinder nicht mehr
Das an KinderlÀhmung leidet
Und das Unversehrte
Es besteht kein Unterschied zwischen beiden
Wer weiĂ, welches dir spĂ€ter hilft
Gott im Himmel
Ich erfinde nichts. Meine Lieder erzĂ€hlen von meinem Leben. (12â)
Poliomyelitis
Dann google ich âPolioâ und gehe auf die entsprechende UNICEF-Seite.
Ich schĂ€me mich â fĂŒr meine Unwissenheit und meine soziale HĂ€rte. Solche Schicksale lassen sich verhindern, ohne dass wir selber âblutenâ mĂŒssen! Ich habe ja Zweifel, ob âKinderlebenâ in solchen Milieus auf jeden Fall âgerettetâ werden âmĂŒssenâ, aber wenn das Kind ĂŒberlebt, sollen ihm auch funktionstĂŒchtige GliedmaĂen zur VerfĂŒgung stehen.
Ich bin an der CĂŽte dâIvoire solchen Bettlern begegnet. Sie haben mich schockiert. Mir tun auch ihre Ehefrauen leid und ihre Kinder, die sie immerhin ernĂ€hren können. Diese Ăkonomie empfinde ich spontan als pervers, obschon es eine eigene âHumanitĂ€tâ dieser Gesellschaften dokumentiert.
„ImpfaufklĂ€rung von TĂŒr zu TĂŒr“ UNICEF
Ich zitiere AuszĂŒge aus dem Bericht vom 13. Juli 2012 von Beatrix Hell âImpfaufklĂ€rung von TĂŒr zu TĂŒrâ – 2024 steht ein globaler UNICEF-Erfolgsbericht im Netz (LINK), der aber die Frage nach den „Hindernissen in der RDC“ nicht behandelt .
â Hindernisse bei Impfaktionen
Schon ein Blick auf die Landkarte verdeutlicht es mir: In einem Land, das sechs bis sieben Mal gröĂer ist als Deutschland, sind viele Regionen kaum zugĂ€nglich. (…) Jeder Medikamententransport ist aufwĂ€ndig und kostspielig. Dies gilt vor allem fuÌr den sehr Hitze empfindlichen oralen Polio-Impfstoff. Aufgrund der Abgeschiedenheit vieler Dörfer ist es zudem schwierig, alle Bewohner uÌber das medizinische Angebot zu informieren und zu Impfungen aufzurufen. Oft gibt es keine ElektrizitĂ€t, kein Fernsehen oder Radio. DarĂŒber hinaus darf man nicht vergessen, dass auch kongolesische Eltern Sorge wegen schĂ€dlicher Impf-Nebenwirkungen haben.
Der Widerstand gegen eine Impfung basiert in manchen Regionen aber vor allem auf kulturellen und religiösen Vorbehalten. So predigt Marco Kiabuta, ein religiöser FuÌhrer in einem Dorf in Nord-Katanga: âWir brauchen keine Impfung, weil wir nur einen Doktor haben und das ist Gott.â
Um die Impfbereitschaft zu erhöhen, setzen UNICEF und seine Partner verstĂ€rkt auf AufklĂ€rung. DafĂŒr arbeitet UNICEF mit Hilfsorganisationen, lokalen Initiativen und Gemeinden zusammen und bietet Schulungen an. Auch traditionelle und religiöse FĂŒhrer wie Dorfchefs und Priester werden zur Mitarbeit gewonnen. Denn gerade sie haben aufgrund ihrer Anerkennung als AutoritĂ€t einen leichteren Zugang zur Bevölkerung. Ihren Worten wird Glauben geschenkt. Am wirkungsvollsten hat sich die Kommunikation im persönlichen Kontakt bewiesen. Geschulte Gemeindemitarbeiter, Gesundheits- und Impfhelfer gehen als so genannte âMobilizerâ von TĂŒÌr zu TĂŒÌr, von Familie zu Familie und klĂ€ren ĂŒber die Gefahr und den Schutz vor KinderlĂ€hmung auf….
Die Darstellung klingt – auf jeden Fall im Original – konventionell. Vor allem politische und soziale Probleme werden nach Art von Hilfswerken eben nur angedeutet.
In die Welt solcher Krankheitsdarstellungen
Die Frage nach der möglichen Verwendung lÀsst mich nicht los. Der VerkÀufer winkt ab. Die Figur ist durch zu viele HÀnde gegangen.
Ich stelle mir vor: Wenn Gesundheitshelfer durch die Dörfer gehen, wie UNICEF berichtet, könnte eine solche Figur sie unterstĂŒtzt haben.
Der âtraditionelleâ afrikanische Deutungshorizont
Ich lese bei Herreman: To Cure and Protect, p.19 âMany objects which show disease are used to caution against anti-social behavior. … representations of the negative forces or malevolent spirits that are activated when moral values are transgressed.â
(âViele Objekte, die Krankheiten darstellen, werden benutzt, um vor unsozialem Verhalten zu warnen. Es handelt sich um Darstellungen der negativen MĂ€chte oder hasserfĂŒllten/bösen Geister, die vom VerstoĂ gegen moralische Werte aktiviert werden.â)
Also wĂ€ren die Opfer selber verantwortlich fĂŒr die schwere Krankheit, die sie geschlagen hat. Ist das vielleicht ein Motiv dafĂŒr, dass sich Ălteste gegen Impfungen wehren, eine Drohung aus der Hand zu geben.
Eine Anekdote
18.August
TelefongesprĂ€ch mit Joseph Thiel, dem frĂŒheren Direktor des Weltkulturenmuseums in Frankfurt. Er ist wieder einmal von sagenhafter Ausgeglichenheit.
Er sagt, die Schlafkrankheit stehe im Vordergrund des Interesses der Leute. Er erzÀhlt von den medizinischen Trupps, die kommen, um Schwellungen an den Ganglien zu entdecken. Auf dieser 1.Stufe ist die Schlafkrankheit noch mit Spritzen zu behandeln. Doch seit der UnabhÀngigkeit gibt es kaum noch Stationen und erst recht keine Medikamente.
(Ich beschreibe die Figur.) Ja Pende, das ist typisch fĂŒr sie. Sie zeigen die Krankheiten â die andere verstecken â weil sie das alltĂ€gliche Leben ganz konkret darstellen. Er kommt auf stark verzerrte Krankheitsmasken zu sprechen. Sie tanzen sie.
Ich: aber was ist mit Figuren?
Er weià es nicht genau: tanzen oder aufstellen zu bestimmten Zeiten. Von der Verwendung durch Heiler hat er noch nichts gehört. Kommt auf die Literatur zu sprechen, erinnert sich an eine Abbildung, kann sie aber nicht wiederfinden.
Ich sage: die Figur ist solide, ich schÀtze sie ein halbes Jahrhundert alt.
Er: Es kann auch ein ganzes sein.
Sein VerhÀltnis zur Welt der Geister, Masken und Figuren ist entspannt.
Als er 1971 das letzte Mal im Kongo war, in den Dörfern âseinerâ Yanzi, entfernten Nachbarn der Pende flussabwĂ€rts in der Provinz Bandundu, saĂ er abends mit den Alten zusammen, als eine junge, ehemals schöne Frau herein gekrochen kam. NatĂŒrlich nach Ansicht der Leute verhext und von bösen Geistern befallen.
Er erfuhr bei der Gelegenheit, dass sie auch noch von einem verheiraten Mann geschwÀngert worden sei.
Er zeigte sich zumindest ĂŒberrascht: Das geht doch nicht, sie kann sich so doch gar nicht um das Kleine kĂŒmmern, das muss dann die GroĂmutter machen!
Antwort der Alten: Man kann doch einen fruchtbaren Acker nicht brach liegen lassen.
9. September
âDer fruchtbare SchoĂâ
 Dem Argument des âfruchtbaren Ackersâ begegne ich â ohne die Metapher â in der Einleitung von ZoĂ© Strother âInventing Masksâ (1998,1999, p.3) wieder. Sie berichtet ein Vorkommnis aus den Jahren 1963-65, als auf eine eng begrenzte Rebellion von Pende gegen das neue Regime in Kinshasa als Repressalie Soldaten zahlreiche Dörfer im Pendeland plĂŒnderten und in Brand steckten. Damals entledigte sich eine junge Mutter auf der Flucht in höchster BedrĂ€ngnis ihres kleines Sohns und entkam den Soldaten. Den Bub konnte sie danach unverletzt auflesen und zur Familie zurĂŒckkehren. SpĂ€ter musste sie sich öffentlich vor den Ăltesten rechtfertigen und brachte ungewöhnlich selbstbewusst zu ihrer Verteidigung vor:
âHĂ€tte ich als fruchtbare Frau mein Leben riskieren sollen, um einen kleinen Jungen zu verteidigen … einen Jungen, der nie auch nur eine Person zu dieser Familie hinzufĂŒgen wird?â (lineage) Die Pende sind mutterrechtlich organisiert, und Frauen werfen es ihren EhemĂ€nnern manchmal vor, wenn sie nur Söhne und keine Töchter gebĂ€ren.
Unser Thema ist aber nur: Die Fruchtbarkeit von Frauen bedeutet sozial selbstredend GebĂ€rzwang. Der steht natĂŒrlich im engen Zusammenhang mit Pflichten einer ‚Mutter‘, wie sie mir bereits aus dem Buch „Catastrophe and Creation“ von Kejsa Ekholm Friedman her bekannt sind (Link auf: „Weiterleben am Kongo…„, dort der Abschnitt: ‚Pflichten einer Frau‘). Daher war das Dorf ĂŒber die Antwort der jungen Frau natĂŒrlich hoch empört. Doch gegen ihr Argument kamen auch die Ăltesten nicht an.
„Sie benutzen uns wie Bruthennen …“
taz 4.4.2012 Reportage aus dem Nordostkongo, Distrikt Dungu, im Rebellengebiet (von Joseph Kony und seiner LRA.
ZunĂ€chst fĂ€llt mir dieses Foto ins Auge. In höchster BedrĂ€ngnis lieĂ die Familie den gelĂ€hmten Jungen im Dorf zurĂŒck. Auch er wurde wie der Pende-Knabe. spĂ€ter – das beweist das Foto – unverletzt gefunden
Was das Bild wohl an Gedanken und Emotionen bei den europÀischen Betrachter ausgelöst hat?
Schlimmer erging es der jungen Mutter, von der am Ende der Reportage die Rede ist. Sie wurde 2012 von der Reporterin Simone Schlindwein in einem Lager der UNHCR interviewt . 2008 war sie mit hunderten von Klassenkameradinnen aus ihrer Schule entfĂŒhrt und versklavt worden. „Sie haben uns wie Sklaven an einem Seil aneinander gebunden und in den Busch gezerrt.“ Die geschlechtsreifen MĂ€dchen wurden den KĂ€mpfern als Frauen gegeben. Sie wurde einem ugandischen KĂ€mpfer zugeteilt und gebar zehn Monate spĂ€ter ihren Sohn. „Sie benutzen uns wie Bruthennen, um ihre Kinder zu gebĂ€ren“.
2. November
âDas Lied der Antoinette Bukibiâ
Endlich kommen ich dazu, das Buch von Josef Franz Thiel zu lesen:
âJahre im Kongo â Missionar und Ethnologe bei den Bayansiâ, 58 Fotos, 2 Karten, Frankfurt am Main 2001. Vergriffen. Wenige Angebote im Netz zwischen 165 und 3 Euro (1.11.17)
Ein einzigartiges Buch: EinfĂŒhrung in ethnologisches Denken, Feldstudie und Forschungsbericht (zwischen 1961 und 1971), TĂ€tigkeitsbericht, Analyse des institutionellen Rahmens katholischer Heidenmission im 20. Jahrhundert, Autobiografie â unprĂ€tentiös und ĂŒber weite Strecken unterhaltsam wie ein Schmöker. (Ich sage so etwas ganz selten!)
FĂŒr meine Webseite kann es wichtig werden als Folie, die alle möglichen Aspekte der Gesellschaft und des Denkens der Völker Zentralafrikas verbindet.
Im Kapitel âLiteratur ohne Schriftâ auf den Seiten 100 bis 103 begegnet uns die verkrĂŒppelte Frau Antoinette Bukibi, die in einer geselligen dörflichen Runde ihr Lied in traditionellem Stil vortrĂ€gt. Sie erregt als SĂ€ngerin bei den Anwesenden Erstaunen. Der Autor transkribiert, ĂŒbersetzt und interpretiert den Text in den nĂ€chsten Tagen mit der Hilfe seines lokalen Assistenten. Dabei kommt nicht nur die Poetik der Bayansi zur Sprache und ihre Umformung alltĂ€glicher RealitĂ€ten, auch steht Antoinette Bukibi in ihrem Leid und ihrem Stolz unverkĂŒrzt vor uns.
Das verbindet sie mit Papa Ricky von Staff Benda Bilili, hebt aber ihre Dichtung in meinen AugenÂ ĂŒber das Lied des StraĂensĂ€ngers in Kinshasa hinaus.
Die Auffassungen der Yansi zum Leben im Allgemeinen und zu Frauen im Besonderen kommen auch nicht mehr so holzschnitthaft und skandalös daher wie in der mĂŒndlichen Mitteilung. Wir werden uns ihnen behutsamer nĂ€hern mĂŒssen. Menschlichkeit tritt auf der BĂŒhne der Geschichte in den kuriosesten Verkleidungen auf. Schauen wir nur einmal auf die eigene Umgebung.
P.S.
Auch ĂŒber den Kontext der Figur könnte in der nĂ€chsten Zeit noch etwas mehr zu sagen sein, doch wegen der Ăbersichtlichkeit lieber in einem eigenen Beitrag