Sun Longji : Das ummauerte Ich – Die Tiefenstruktur der chinesischen Mentalität, Kiepenheuer Leipzig 1994
Ein anstrengendes Buch, denn “Tiefenstruktur” bedeutet hier erdschweren Akademismus mit eiserner Zitierpraxis, obwohl der Autor in den USA lehrt.
Ein klassischer Fall von Nestbeschmutzung! Peinliche Dinge veröffentlichen, Tabus respektlos ans Licht zerren; Familie und Sexualität demontieren, aber auch Herrschaftspraxis und ethische Normen. Sun Longji ist nichts heilig.
Ein Buch, das sich angeblich an die eigenen Leute richtet, aber bloß, um sie aufzuwecken, zum Ungehorsam, und zugleich an die fremden adressiert ist, geschrieben von einem, der abgehauen ist, also einem “Verräter”!
Verlegerisch haben sich Buch wie Autor wissenschaftlich aus Taiwan in die VR China eingeschlichen. Und das fehlende Selbstbewußtsein – freilich im westlichen Sinn “unterentwickelter Individualität” – bekommt einen weiteren Schlag ab. Diese Chinesen sehen nicht mehr gut aus, wer möchte sich in sie verlieben? Sie können einem nur leid tun.
Diese VR China mußte dieses Buch einfach verbieten bei der nächstbesten einschlägigen Kampagne, und hat damit den Autor einmal mehr bestätigt. Es ist ein rebellisches Buch, Frontalangriff auf das Vaterland, im Westen aber ist es ein Angriff auf liebgewordene Vorstellungen. Nicht einmal Laozi wird geschont.
Wir selber trafen 1988 mit unseren Reiseberichten aus dem Landesinnern auf peinlich berührtes Unverständnis. Die Legenden erstehen mit jedem Reisekatalog neu. Tourismus beutet zwar Strukturen der Gastfreundschaft aus, aber “China” erwartet gar nichts Besseres, wünscht jedenfalls nicht die Demontage seines “Gesichts” durch “wildes Reden ” und “wildes sich Bewegen” (90) von Ausländern und ungezogenen Nestflüchtern.
Die freudianisch kategorisierte Psychologie im Text irritiert mich unwillkürlich, aber der Autor formuliert vorsichtig und läßt die Kontrastierungsfunktion der Kategorien erkennen. Woran sich denn auch festhalten, wenn man sich aus dem Sumpf herausziehen will? Wenn Sun westliche Verhältnisse charakterisiert, hält er sich in der Mitte zwischen idealisierender Übervereinfachung und der Aufnahmefähigkeit chinesischer Leser. Er hat in seiner intellektuellen Biografie einen riesigen Schritt gemacht, über manchen im Westen adoptierten “Vermittler” hinweg: Laozi, Sun Yat-sen, Chiang Kai-shek,…
Auffälligerweise strahlt Lu Xun´s Bild ganz hell. Und damit wird auch deutlich, wie radikal die 19. Mai-Bewegung ihre Epoche überstieg!
Suns Darstellung relativiert noch die größten Extrempositionen in der chinesischen Geschichte, wie mörderisch, totalitär oder auch weltabgewandt sie waren.
Es muss in China heute wahrlich eine gigantische Revolution stattfinden! Für mich erscheint der Text typisch für die achtziger Jahre, aber die Gegenwartsprobleme sind in verschärfter Form noch dieselben (2001).
ES FOLGT DIE REZENSION IN DER FAZ VON 1995, WELCHE DEM BUCH GAR NICHTS ABGEWINNEN KANN. ICH KOMMENTIERE SIE BEI GELEGENHEIT: