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Alexandra David-Néel: Heilige und Hexer (Tibet 1911-25)
Das Narrative überwältigt, Geschichten, die eine Pointe haben, die Bibliotheken überflüssig machen. Alexandra ist für mich überhaupt nicht ‚historisch’. Sie war eine eine emanzipierte Frau, eine ‚Intellektuelle’, die mit 43 Jahren (1911) im Land selbst das Studium des lamaistischen Buddhismus aufnahm und die selbstbewusst und mit Lebenserfahrung den Kontext ihrer Beobachtungen und Ergebnisse darstellte. Ihr trockener Humor gewinnt sofort mein Vertrauen. Sie verallgemeinert nicht, aber sie erlaubt die Verallgemeinerung. Ihr gebührt ein Ehrendoktor der Ethnologie. Aber eine ‚Heilige‘? Warum nicht? Die stehen doch stets im Verdacht, Agnostiker zu sein.
Wenn ich ‚die Mönchlein’ in meinem Regal betrachte, denke ich an die in ihrem Buch. Wenn sie die geistigen Winkelzüge tibetischer ‚Dorfpfarrer’ – ein Ausdruck Paul Feyerabends – referiert, wird mir die Distanz der ‚Heiligen’ oder nur ‚Geistesführer’ zu den ‚Gläubigen’ wieder deutlich, ob das nun kongolesische ‚Heiler’ sind oder ‚Marabouts’. So schwingen für mich im Hintergrund die unscheinbaren Objekte (und die damit verknüpften absurden Prozeduren) Afrikas und Nepals mit, die mir der Flohmarkt in die Hände spült.
Donnerstag findet wieder der ‚Jour Fixe’ in der Schopenhauer-Gesellschaft statt. Ich lese das von Th. Regehly angegebene Kapitel § 68 am Ende im 4. Buch über ‚Bejahung und Verneinung des Willens’ im 1.Teil von Arthurs Hauptwerk, worin der Philosoph in jugendlich hoch gestimmtem Ton den Wasserträger der heiligen Asketen jeder Couleur gibt. Wasserträger? – Was kann er ihnen denn anbieten, der nur zur Theorie Begabte? Fromme Bauern in Tibet oder anderswo ernähren schließlich die Asketen. Hätten die sich für seinen altdeutschen Hymnus interessiert?
Die ersten zehn Seiten lese ich noch mit gesteigertem Interesse, von Alexandras Zeugenberichten beflügelt, dann ermüden wieder Arthurs inbrünstig wiederholte Anläufe, dieses Auf- und Ab zwischen Verheißung und Warnung, ja Widerruf. War das bereits als stilisierte Nachahmung asketischen Lebens gedacht? Immerhin ermöglicht die Lektüre eine interessante Perspektive auf beide Autoren.
Alexandra hat keine persönlichen Probleme mit der praktischen Seite der Askese, anders als der – als verkörperter ‚Wille’ – ansehnliche und ehrgeizige Arthur. Als Gesprächspartner wählt sie sich ‚Heilige, Hexer’ und gewöhnliche Sterbliche, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten, auf jeden Fall keine philosophische Fakultät in Deutschland. Was sie an Aussagen und Praktiken sammelt, findet sich auch in Arthurs Abhandlung, aber ohne die Kniffe des dramatisch begabten Philosophen aus dem 19. Jahrhundert. Rein theoretisch hätte sie übrigens seine Enkelin sein können.
Über ihre eigenen (mangels eines besseren Wortes) spirituellen Erfahrungen ist sie in diesem Buch jedenfalls äußerst diskret. An manchen Stellen frage ich mich, was sie denn an den kolportierten Kruditäten des Lebens und Mittelmäßigkeiten wirklich interessierte. Da kam wohl neben ihrem ‚positivistischen‘ Ethos ein staubtrockener, ein voltairescher Esprit ins Spiel. Oder war das bereits die gutmütige Gelassenheit einer ‚Lebensverneinung’ (Arthur)? Worauf ihre immer wieder bewiesene Askese wirklich zielte, wage ich nicht zu beurteilen, das soll sogar in Tibet Privatsache jeder der Heiligkeit verdächtigen Person sein. War sie vielleicht bloß unbändig neugierig, extrem nüchtern und im Alter von über vierzig Jahren erfahren genug, um zu wissen, dass sie als Frau und Ausländerin nur so diese Neugierde stillen konnte? War das etwa auch bei ihr vor allem die ethnologische Technik der teilnehmenden Beobachtung, die bekanntlich die Beobachter nicht unbeeinflusst lässt?
Arthur hätte sie gewiss in seinem Hauptwerk als Informantin respektiert und als Informationsquelle zitiert, doch auch beargwöhnt als Karikaturistin so manches ‚edlen Charakters’ (Haffmans-Ausgabe Bd.1, 509). Scheint er doch selbst ‚schlecht geschriebenen’ (ebd. 494) Hagiographien den Vorzug gegeben zu haben, aus erzieherischen Gründen.
Alexandra vermittelt aus dieser abgeschiedenen Region im Himalaya einen großen Reichtum an Handlungen, Haltungen und einen oft dissonanten Chor von Erklärungen. Da finden sich egoistische Schlauheit, aber auch kasuistische Umständlichkeit – und unvermutet eine spekulative Eleganz, auf die sich der urdeutsche Philosoph wohl nicht mehr eingelassen hätte.
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Empfehlung: Diverse deutsche Ausgaben von ‚Heilige und Hexer‘ aus dem Brockhaus Verlag zwischen 1936 und 1995 sind im Netz ab etwa 12€ zu finden.
25.11./25.12.2014