H.-G. Gadamer im Dritten Reich

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„Ihr habt, scheint mir, zweimal versagt, nicht nur unter Hitler, sondern vor allem danach.“ (Hannah Arendt 1965 an Benno von Wiese)

„Platonische Gewalt – Gadamers politische Hermeneutik der NS-Zeit“ von Teresa Orosco (Argument Verlag 1995).

Hans-Georg Gadamer und die Stauungen des Unbewussten

Es war einmal ein sympathischer Hundertjähriger, der bedächtig in Interviews wenige, aber hochkonzentrierte Sätze formulierte. Zu deren Verständnis musste man sein Werk gar nicht kennen. Das war mein Bild des Menschen und Philosophen Hans-Georg Gadamer, bis ich im Juli 2010 in einem Berner Antiquariat auf ein schmales Buch stieß: „Platonische Gewalt – Gadamers politische Hermeneutik der NS-Zeit“ von Teresa Orosco (Argument Verlag 1995). Ich war schockiert, ja, es verdarb mir die Ferienstimmung. Meine Frau hätte es bald am liebsten versteckt. Ich schrieb dann Frau Orosco einen aufgeregten Brief, so etwas zwischen einem Dankesbrief und einem Kommentar zur Studie. Nur eine Frau, schien mir, konnte das für diese Studie nötige Maß an Takt und Geduld, Scharfsinn und Umsicht aufbringen! Sie hat nicht geantwortet. Ich recherchierte, dass sie längst das Arbeitsgebiet Philosophie gegen das der Iberoamerikanistik eingetauscht hatte, dass das Buch kaum Reaktionen auslöste und kaum noch irgendwo zu erwerben war.

Das sollte alles gewesen sein, eine Fußnote ‚Orosco’ in einer endlosen Sekundärliteratur zu Füßen der etablierten Geistesgröße? Frau Orozco hatte sich angesichts Gadamers „Wirkungsgeschichte“ vorsorglich bereits im Buch für ihr Unterfangen entschuldigt. ‚Captatio benevolentia’ nennt man das wohl, aber Wohlwollen konnte sie nicht erwarten.

Etwas hindert mich bisher daran, meinen Text von 2010 in den Blog aufzunehmen, der Mangel an Belegen für den eiligen Leser. Ich ziehe also Oroscos Taschenbuch wieder zwischen den angestaubten Büchern von Gadamer heraus und suche nach Zitaten. Doch Tereza Orosco argumentiert feinmaschig in fachphilosophischem Kontext. Das alles zu berücksichtigen, übersteigt meine Möglichkeiten. Mit Gadamers Originalschriften will ich mich jetzt nicht beschäftigen, mich nicht seinem ‚konzilianten Denken’ (Zitat Henning Ritter in der Einleitung auf S.12) aussetzen, nicht mit seiner Akzentverschiebung von der Doktrin zwangsläufigen Irrtums von Individuen „auf einen umfassenderen Begriff von ‚Vorverständnis’, das jedem Verstehensakt voraus liege“ herumschlagen, auch nicht mit heutigen „selektiven, zuweilen auch kritischen Lektüren“ (S.13).

Also gebe ich nun doch meine Eindrücke von 2010 wieder, in sehr gestraffter Form.

Semur en Auxois, 20.8.14

  

 Ich war geschickter. Die anderen haben, weil sie anders nicht durchkamen, Konzessionen machen müssen. Ich hab’s nicht machen müssen. die Geschicklichkeit bestand darin, daß man diejenigen, die Nazis waren, aber echte, vernünftige Wissenschaftler, weiter als Kollegen ernst nahm, unter Vermeidung politischer Gespräche natürlich. (Gadamer, Gespräch 1999, Argument 182,552, zitiert S.91, Anm.2) Er übernahm aber 1935 als Privatdozent nacheinander die ‚Vertretung‘ zweier ‚entjudeter‘ Lehrstühle. Ob politische ‚Konzessionen‘ nötig waren, war auch eine Frage der Auffassungen, die man vertrat. Gadamer hat rechtzeitig  eine passende Plato-Interpretation entwickelt – die Bücherverbrennungen 1933 eingeschlossen. Auch am Bild Johann Gottfried Herders im Sinne des siegreichen (1940) völkischen Führerstaats hat er gearbeitet. Eine Sentenz kommt mir in den Sinn (von wem eigentlich?): ‚Der Intellektuelle ist der Bruder des Tyrannen’. Die sogenannten Konservativen stehen den ‚Linken’ darin in nichts nach. In die Nachkriegszeit rettete er, wie Orosco schreibt, einen ‚deutschnationalen’ Blick, etwa im Ressentiment gegen „Psychologisierung“ und andere Aspekte der Modernisierung, als Schritte zum berüchtigten „Verlust der Mitte“ (Sedlmayr). Ein paar Korrekturen der Schriften der Jahre nach 1933 mussten in späteren Auflagen allerdings schon sein.

So also hat sich der listige Gadamer durch den Nationalsozialismus geschlängelt und in Position gebracht! Ich bin leider jedes Mal wieder überrascht und empört, wenn ich von der intimen Beziehung zwischen Gelehrsamkeit und primitiver Anwendung erfahre, und von der Verführbarkeit von Philosophen, welche ihre Wahrheitsliebe in Form von Karrieren privatisieren und kapitalisieren.Was unterscheidet eigentlich Hans-Georg Gadamer von Josef Neckermann, der „unbedingt ein Kaufhaus führen wollte“ (Originalzitat aus einem späten Interview)?  Sympathisch sind beide Profiteure – im fortgeschrittenen Alter.

Ich meine inzwischen sogar, den hochbetagten Gadamer im Buch von Tereza Orosco wiederzuerkennen: Er konnte wohl schon damals Menschen für sich gewinnen und überzeugen. Doch dass er im Nationalsozialismus so scharf auf eine Ordentliche Professur war, heißt, dass sich sein ästhetisches und moralisches Sensorium nicht gut ausgebildet war. Im Anblick Hitlers und seiner Horden konnte er sich eine „Zukunft“ vorstellen? Sie waren ihm nur eklig oder unangenehm, bei der persönlichen Begegnung Hitler vielleicht gar eine Enttäuschung. Er lebte wie die sprichwörtliche Made im Speck. Von der Welt draußen nahm er wahr, was seinem Dünkel, den Karriereplänen und professoraler Standespolitik bedrohlich oder nützlich sein konnte. Orosco zeigt Gadamer in dreist fordernder Haltung noch in den schwierigsten Situationen. Hat er sich in Wirklichkeit nicht tiefer mit dem Regime eingelassen als Heidegger, der geniale Junge aus dem Schwarzwald? Und weil er politisch ‚unbescholten’ war, blieb er unbehelligt.

Das 7. Kapitel zeigt Gadamer nach Kriegsende während einer kurzen Episode an der Universität in Leipzig unter der sowjetischen Besatzungsmacht, und zwar bei einem Vortrag in der Pose eines guten Hirten, eines  intellektuellen Seelenführers vor verunsicherten Zuhörern. Solche Menschen sind mir 1990 in Ballenstedt und Quedlinburg begegnet, als sie uns Lehrerkollegen aus dem Westen wie Beichtväter behandelten. Gadamer verhöhnte zugleich jene, die dem Nationalsozialismus widerstanden und deshalb gelitten hatten. Sie waren einfach dumm gewesen, anstatt sich wie der Meister dem kollektiven „Wahn“ zu ergeben und sich danach von einflussreichen ‚unbelasteten’ Freunden ‚entlasten’ zu lassen.

Was Gadamer Jahrzehnte später, in komfortabler Lage als berühmter Mann zu seiner NS-Zeit von sich gab, war entsprechend. Er hat – verglichen etwa mit dem zögerlichen, Peinlichkeiten produzierenden Günter Grass – sein biografisches Problem moralischer Integrität elegant gelöst und vorausschauend späteren Generationen eine leicht verdauliche Version angeboten. So entdeckte er für sich die ‚hermeneutische’ Exkulpation im „Drängen und Stauungen des Unbewussten“ (219), seines Unbewussten auf jeden Fall! Und aus der Erfahrung peinlicher Irrtümer und Schwächen zimmerte er noch eine theoretische Stütze für die Hermeneutik: Die „Wahrheit“ sei zusammen mit der „Vernunft“ „in solchen Graden von unseren geschichtlichen Bedingungen abhängig, dass sie sich nicht selbst zu zeitigen vermögen.“ (ebd.) Das opportune  „Vorurteil“ wird zur theoretischen Kategorie mit höheren Weihen, speziell zur Anwendung für entgleiste Intellektuelle geeignet.

Bei alledem verfolgt mich das wohlgenährte und entspannte Gesicht des Mittsechzigers, das einem mittelalterlichen Bischof gehören könnte oder einem altchinesischen Mandarin, gleichmütig und unempfindlich. ‚Unter den Talaren, der Muff von tausend Jahren’! Ja, eingerichtet hat Gadamer sich im nationalsozialistischen Deutschland wie in einem tausendjährigen Reich.  In der BRD der fünfziger Jahre war Gadamer gut vernetzt und eine Galionsfigur westdeutscher Amtsphilosophie.

Eine persönliche Frage lässt mich die ganze Zeit nicht los: War die Bildung durch Altgriechisch, die mir entging, der ‚Schmalspur’ des ‚Realgymnasiums’ mit Latein und Englisch wirklich vorzuziehen? Altrömische Tugend langweilte doch bloß. Die demagogische Potenz römischer Rhetorik war jedenfalls schwach. Der biedere Oberstudienrat Bernbeck hatte bei ‚altrömischer Gesittung’ zudem seine Afghanen vor Augen, die er bei einem Auslandsschuldienst in Kabul kennenlernte. Was mich hingegen an den Griechen intellektuell fasziniert – ihre spezifische Mischung von Barbarei und Zivilisation – ergibt einen brisanten Cocktail. Wer hat sich daran nicht alles schon besoffen (oder so getan, als ob)?

2 Gedanken zu „H.-G. Gadamer im Dritten Reich

  1. Pingback: Die Philosophie und der Nationalsozialismus (Sonderausgabe philosophie Magazin) | Denkstil

    1. dvg Beitragsautor

      Danke. Ich freue mich über Ihre Erwähnung und Ihren Link. Wieder ein kritischer Beitrag mehr! Ich habe nur Theresa Orosco’s Recherchen in „Platonische Gewalt“ (1995, 2006 erschien eine Neuauflage!) resümiert. Interessierte können das Original lesen. So soll Google funktionieren.

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