Ihr Publikum ist im Durchschnitt so um die Sechzig. Beide sind in ihrem Leben sehr verschiedene Wege gegangen, der Frankfurter Jazz-Saxophonist und der Erbe des Lehrstuhls von Teddy Adorno. Ich begegne ihnen innerhalb weniger Tage, am 13. und 15. Januar 2011.
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Sauer versprach ein total freies Konzert und gab mir aus nächster Nähe die Anschauung spirituellen, manchmal verzückten Stammelns, vom jungen und verrückten Pianisten angetrieben, oft gar zu weit vom Ufer verständlicher musikalischer Idiome. Seine Erscheinung eines alten verschmitzten Jungen mit aufregenden Sportschuhen war das Gegenteil vom altväterlichen Auftritt des beleibten Schmidt, der noch immer die Elvis-Locke trug. Leider hatte ich während des Vortrags keine Gelegenheit, mich daran satt zu sehen. Man hatte versäumt, dem Redner ein Podium zu bieten.
Der Grund für mich, den Vergleich zu unternehmen, ist jedoch nicht Schmidts Karikatur des Bourgeois, sondern seine Redeweise: Kein Stocken, keine Unsicherheit, dafür glatte Satzschlangen, druckreif wie die seines Ziehvaters Adorno. Es strengt ganz schön an, ständig ein neues komplexes Satzgefüge im Kopf zu behalten. Zur Unterstützung akzentuiert er – wie bei einem Diktat – die tragenden Elemente des Satzes. Es ist reiner Schreibstil. Auch die Wortwahl ist preziös, wie eine Karikatur des elaborated code. Nie hat Schmidt Probleme beim Zugriff auf ein passendes Lexem. Die Redegeschwindigkeit ist darauf perfekt eingeregelt. Seine sonore Stimme bietet den vertrauten einlullenden Singsang, den Eindruck ewiger Jugend, aber einer vergangenen Jugend.
Floskeln mit Wiedererkennungswert – „Die Welt an und für sich ist schlecht“, „der idealistischen Philosophie absagen“, „gegen das Bestehende“ und „er ging seiner Klasse nicht auf den Leim“ (Ich habe nur wenige Beispiele notiert) – versetzen mich in den Hörsaal VI und eine andere Zeit. Es ist die Art, wie Adorno dem Volk aufs Maul zu schauen pflegte, stilvoll eingesetzte Derbheiten direkt neben feinsinnigen Euphemismen. Ob Alfred Schmidt im Hörsaal auch ständig hin- und her ging? Hat er zu viel von der „Frankfurter Schule“ ediert? Oder hatten sich die beiden darin bereits vor fünfzig Jahren gefunden? Ich erinnere mich: Das Adornieren war ansteckend.
Ich beobachte auch ein name-dropping vom Feinsten: Platon, Kant, Hegel, Marx, Freud … und natürlich die Ismen Materialismus und Idealismus. Sie werden verbunden durch Metaphern und geschmeidige Verben zu Sätzen wie: „Die Abschaffung des falschen Weltzustands ist für ihn Thema“ (War das nun zu Schopenhauer oder Marx?). Der Erzähler schwelgt in den vermeintlichen Berührungen großer Geister. Und wie bei einem Rhapsoden habe ich den Eindruck, er habe sie auch die vergangenen vierzig Jahre nur wiederholt.
Der Gesprächsleiter ist nicht zu beneiden, Schmidt schaut ihn zwar auch an, doch nur, um auf seiner Stirn Zustimmung abzulesen. In seinem beherzten Bemühen, Schmidt zu unterbrechen, ist er drei, viermal erfolgreich, und gibt dann dem Publikum in bodenständiger Sprache Informationen zu Schopenhauers Leben und Wirken. Das sind Erholungspausen. Die Rückwendung zu Alfred Schmidt löst dann neue Monologe aus. Der wäre in Washington D.C. ein begnadeter Philibuster. Ein Name, ein Motiv, ein Zitat geben das andere. Die Frage blitzt mir auf, in welchem Hirnareal dieses monologische Theater wohl aufgeführt wird, jedenfalls nicht in dem für Problemlösung und Dialog. Ich denke, man könnte mit beruhigender Wirkung Alfred Schmidt in öffentlichen Gebäuden tönen lassen. Wohingegen Wolfgang Sauer immer wieder nie Gespieltes, Unerhörtes erjagen will mit seinem verhauchten Tenorsax, auch er ist damit eine tragikkomische Figur.
Sind das die beiden Alternativen des Alters: Unverständlich werden mit Gebrummel und Gestammel, oder als sinnentleertes unpersönliches akustisches Endlos-Band ins Nirwana übergehen?
16.1.2011
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