Czeslaw Milosz erzählt die Geschichte der baltischen Völker im 20. Jh.

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1952 – Unerklärter Kriegszustand – Natürlich wurde die „internationale Zeitschrift“  DER MONAT vom CIA mitfinanziert, so wie „Encounter“ und „Épreuves“ . Natürlich ‚dienten’ Milosz und sein Essay im Kalten Krieg auf amerikanischer Seite und wurden von ihren gebildeten Lesern im Westen entsprechend einäugig gelesen, aber deren Bild von den baltischen Völkern konnte ein paar Retouchen brauchen. – Wir Deutschen des Jahres 2024 tun auch gut daran, uns diese Erfahrungen zu vergegenwärtigen, nicht allein, um die Haltung der baltischen Völker und der Polen besser zu verstehen, sondern vor allem um uns vor Augen zu führen, dass die  Hassfigur “Putin” ein in der langen Zarenzeit entwickeltes repressives System verkörpert, das im zwanzigsten Jahrhundert als ‘Bolschewismus’ den Staatsterror perfektioniert hat, noch vor dem Maoismus in China.

Dieser Tage veröffentlicht die NZZ die Erfahrungen einer polnischen Intellektuellen im ‘Gulag’ 1944 bis 1954, deren Buch erst jetzt auf Deutsch erschienen ist. (Barbara Skarga: Nach der Befreiung. Aufzeichnungen aus dem Gulag 1944–1956. Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2024. Rezension von Gabriele Lesser in: NZZ vom 18.08.2024. Sie betont: “Seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine am 24. Februar 2022 sind Skargas Erinnerungen wieder hochaktuell. Sie zeigen auf, was den Ukrainerinnen und Ukrainern «nach der Befreiung vom Faschismus» drohen würde.” Die Rezension zeichnet auch die abenteuerliche Publikationsgeschichte seit 1985 nach.

Manches hat sich seit den Fünfziger Jahren in Russland geändert – geschichtsphilophischer Optimismus und Elan sind verschwunden – aber nicht Propaganda und Staatsterror gegenüber Bevölkerungsgruppen, deren Status realistisch als “Menschenmaterial” zu bezeichnen wäre. Die Ukrainer beurteilte Milosz damals als fortgeschritten kolonisiert ( 461),

Biografie   (1911 – 2004): Link (de.wikipedia)                      Gv 21.8.2024

 

 

„ Czeslaw Milosz Die baltischen Völker“

Der Monat Heft 41, Februar 1952   S.451 – 466  (Ab S.456 nur ausgewählte Absätze!)

(….) 452 Die baltischen Länder – Estland, Lettland und Litauen – liegen bekanntlich am Rande des großen kontinentalen Massivs, deshalb man auch von den ,,Randstaaten” spricht. Ein Meerbusen trennt sie von Finnland, die Ostsee (das ,,Baltische Meer”) von Schweden. Ihre Einwohner sind keine Slawen. Die estnische Sprache ist mit dem Finnischen verwandt. Die wiederum untereinander verwandten Sprachen der Litauer und Letten sind für die Gelehrten bis heute ein Rätsel: kein Mensch weiß, woher diese Stämme kommen und wann sie sich an den Unterläufen des Njemen und der Dwina niedergelassen haben. Man weiß nur, dass die ausgerotteten Pruzzen eine ähnliche Sprache gesprochen haben. Von diesen drei Völkern ist es in der Vergangenheit nur den Litauern gelungen, einen großen Staat zu schaffen, der bis zum Dnjepr reichte, und ihn einige Jahrhunderte lang zu behaupten. Der dünn besiedelte Raum der drei Länder erlebte vom Augenblick der Christianisierung an eine starke Kolonisation, hauptsächlich durch deutsche und polnische Siedler, deren Folge die Zweisprachigkeit seiner 453 Bevölkerung war: die eigentlichen Herren des Landes – d. h. die Grundbesitzer – sprachen deutsch (in Estland und Lettland) und polnisch (in Litauen), während das einfache Volk seiner eigenen uralten Sprache und Kultur treu blieb. Nach dem ersten Weltkrieg hörten die drei Länder auf, Provinzen des russischen Reiches zu sein (die sie im Laufe der vorhergehenden Jahrhunderte geworden waren), und erlangten ihre staatliche Unabhängigkeit. Eine radikale Agrarreform beseitigte die Vorherrschaft der Grundbesitzer. Die Nationalsprachen wurden zu offiziellen Landessprachen, und Literatur und Schulwesen knüpften an die heimischen Traditionen an.

Im Jahre 1939 zählte die Bevölkerung der drei Länder zusammen ungefähr sechs Millionen, d. h. etwas mehr als die Bevölkerung Chiles, etwas weniger als die Bevölkerung Schwedens. Es waren Agrarländer, deren wirtschaftliche Stabilität auf einem gut organisierten Export von Schinken, Eiern, Butter, Getreide und Geflügel nach Westeuropa beruhte. In dieser wie auch in anderer Hinsicht hatten sie Ähnlichkeit mit Dänemark: wer den bäuerlichen Lebensstil kennt, kann sich leicht ein Bild vom Leben in diesen drei Ländern machen. Ein gut entwickeltes Genossenschaftswesen erleichterte dem Landwirt den Verkauf seiner Produkte. Der Lebensstandard war, nach dem Aussehen der Bewohner, ihren Häusern, ihrer Ernährung zu schließen, höher als in anderen Staaten Osteuropas, ausgenommen vielleicht der Tschechoslowakei. Die Esten und Letten waren in der überwiegenden Mehrheit protestantisch, die Litauer katholisch.

Das Schicksal der drei Länder entschied sich bei den Verhandlungen zwischen Molotow und Ribbentrop im August 1939. Im Herbst des gleichen Jahres schon verlangte Molotow militärische Basen auf dem Territorium der Randstaaten. Die einzelnen Regierungen beeilten sich, diesem Wunsche zu entsprechen; die Presse von Tallinn, Riga und Kowno widmete damals der festen, unverbrüchlichen Freundschaft mit dem mächtigen und wohlwollenden Nachbarn im Osten zahlreiche Artikel. Im Juni 1940 überschritt die Rote Armee unter dem Vorwand, die Regierungen der drei Länder gewährten für die in den Basen stationierten Sowjetsoldaten nicht genügend Sicherheit, die Grenzen Lettlands, Litauens und Estlands. Die NKWD übernahm die Macht, der bisherige Staatsapparat hörte auf zu bestehen.

 

Was ich hier berichte, stammt nicht aus Büchern oder Aktenpublikationen. Für mich waren das erste Licht, das ich in meinem Leben erblickt habe, der erste Du{t von Erde, der erste Baum – das Licht, der Duft, der Baum jener Landstriche, denn dort bin ich geboren worden, in einer polnisch sprechenden Familie Litauens, an den Ufern eines Flusses, der einen litauischen Namen trägt. Die Ereignisse der letzten Jahre kenne ich nicht nur aus trockenen Zeitungsmeldungen, sie sind für mich so lebendig wie das, was in den Gesichtern wohlvertrauter Menschen geschrieben steht.

Die Invasion der Spanier muss für die Azteken ein erschreckendes Erlebnis gewesen sein. Die Sitten der Eroberer, ihre religiösen Riten waren unbegreiflich, die Wege ihres Denkens dunkel und unerforschlich. Der Einfall der Roten Armee war für die Esten, Letten und Litauer keine geringere Erschütterung. Die älteren Leute erinnerten sich zwar noch an die nicht gerade rosigen Zeiten der Zarenherrschaft, dies aber hatte damit nichts mehr zu tun, es war hundertmal schlimmer. Während der Jahre, die seit dem Sturz des Zarentums vergangen waren, hatte sich Russland von Europa abgewandt und eine Europa fremde und unbekannte Gesellschaftsordnung errichtet. Die Gedanken und Reaktionen der Eroberer waren für die Eroberten ebenso fremdartig, wie die katholische Theologie und der kastilische Ehrbegriff es für die Azteken gewesen sein müssen.

Nach der Invasion wurden unverzüglich Parlamentswahlen angeordnet. Diese Wahlen glichen aber in keiner Weise dem bisher unter diesem Namen bekannten Vorgang. Es gab nur eine Kandidatenliste, die von der Regierung au{gestellt worden war. Warum  454  die Städte und Dörfer trotzdem mit einer wahren Flut von Propagandaschriften und Broschüren überschwemmt wurden, warum die Lautsprecher Tag und Nacht von Propagandareden erdröhnten, warum Lastwagen, mit den Porträts der Führer dekoriert, durch die Straßen fuhren, wozu in aller Welt die Versammlungen dienten, wenn es doch nur eine Liste und keine Wahl gab, das verstanden die Einheimischen nicht. Am Wahltag aber kamen sie in Scharen zur Urne. Man musste hin: nach der Stimmabgabe erhielt man auf seinem Ausweis einen Stempel. Wenn der Stempel fehlte, lag klar zutage, dass der Inhaber des Ausweises ein Volksfeind war, der seinen schlechten Willen bekundet hatte, indem er nicht zur Abstimmung gegangen war. Einige versuchten zwar in ihrer Naivität, zerrissene oder beschmutzte Stimmzettel abzugeben, damit ihr Votum ungültig sei. Auch diese aber wurden als gültig anerkannt und den Ja-Stimmen zugerechnet. Das Ergebnis war überwältigend. Und der erste Akt der so gewählten Parlamente bestand in der formellen Bitte, dem Bund der Sowjetrepubliken angeschlossen zu werden. Dieser Bitte wurde entsprochen.

Einer der neugewählten Abgeordneten im litauischen Parlament war ein Freund aus meiner frühen Jugend. Wir hatten zusammen im Kanu viele Kilometer auf verschiedenen Flüssen Europas zurückgelegt, waren auf schwindelnden Pfaden durch die Berge gewandert, hatten gemeinsam in den Tälern des Schwarzwaldes und von den Burgen des Rheinlandes die aufgehende Sonne begrüßt. Einige Jahre vor dem zweiten Weltkrieg war er Stalinist geworden. Obwohl er aus Warschau stammte und sich zu Beginn des Krieges mehr oder weniger zufällig auf litauischem Boden aufhielt, wurde er als Kandidat aufgestellt (denn bei der verschwindend kleinen Zahl von Kommunisten war natürlich jeder willkommen); und da die Kandidatur ja der Wahl praktisch gleichkam, wurde er Abgeordneter. Es musste für ihn ein recht sonderbares Gefühl sein, für die Einverleibung eines Staates, mit dem er durch nichts verbunden war, in einen anderen Staat zu stimmen, den er nur aus der Propagandaliteratur und den offiziellen Statistiken kannte. Eine solche Kandidatur war ein Novum; indessen sollte man sich in Osteuropa bald daran gewöhnen, durch ausländische Abgeordnete vertreten zu werden, die notfalls einfach ihren Namen änderten.

 

So also wurden die Bewohner der Randstaaten zu Sowjetbürgern. Vom Standpunkt der neuen Herren stellten sie, deren Lebensstandard den der übrigen Sowjetmenschen weit in den Schatten stellte, ein geradezu skandalöses Überbleibsel aus vergangenen Zeiten dar. Sie mussten also erst einmal umerzogen werden. Die Gefängnisse füllten sich, und bald setzten die Massendeportationen gewisser Kategorien der Bevölkerung ein. Sie kamen in die Arbeitslager, Bergwerke und Kolchosen im Inneren der Sowjetunion, vorwiegend in der Polargegend. Im Jahre 1941 fiel das Baltikum in deutsche Hand, worauf nun wiederum die Ausrottung der den Nazis unerwünschten Bevölkerungsteile begann, d. h. aller Juden, ohne Rücksicht auf ihre Klassenzugehörigkeit, ihr Alter oder Geschlecht. Gleichzeitig verbrachte man Tausende von zwangsweise angeworbenen Arbeitskräften ins Reich. Erst im Jahre 1944 wurden die Baltischen Staaten von der Roten Armee zurück erobert, sodass der Kreml daran gehen konnte, sie den anderen Gebieten der Sowjetunion endgültig anzugleichen,

Die wichtigste Voraussetzung hierfür war, die bisherige landwirtschaftliche Struktur zu zerstören. Eine Kollektivierung stieß jedoch auf ernstliche Hindernisse. Die Methode der ,,Vertiefung des Klassenkampfes auf dem Lande”, d. h. der Ausnützung des Gegensatzes zwischen armen und reichen Bauern, zeitigte nur magere Ergebnisse. Durch die großen Waffenbestände aus der Zeit des Krieges, durch ihre Erfahrungen aus dem Partisanenkrieg ermutigt, leisteten die Bauern tatkräftigen Widerstand. Wurden sie von der Verschleppung nach Sibirien bedroht, so flohen sie in die Wälder und bildeten dort bewaffnete Einheiten. Daraufhin umzingelten Strafexpeditionen die Dörfer und machten alle Zurückgebliebenen nieder; doch das stärkte 455 nur die Entschlossenheit der Widerständler, und zuweilen schlossen sich ganze Dörfer den Partisanen an. Die feindselige Einstellung der Bevölkerung veranlasste die Okkupanten zu radikalen Gegenmaßnahmen, d. h. zu Massenhinrichtungen und Deportationen. Jene Jahre, in denen Westeuropa sich eines zwar ungewissen und von Augenblicken der Panik unterbrochenen Friedens zu erfreuen begann, waren für die baltischen Völker keine Friedensjahre. Dörfer, deren Bewohner geflohen, niedergemetzelt oder deportiert worden waren, standen leer und ausgeplündert, der Wind pfiff durch die eingeschlagenen Fenster und aufgebrochenen Türen. ,,Die Hitler kommen und gehen, aber die Völker bleiben”, hatte Stalin gesagt, als er seines Sieges über Deutschland sicher war. Auf die kleineren Völker angewandt, müsste der Satz indessen etwas abgeändert werden: ,,Die Völker kommen und gehen, aber die Länder bleiben.” – „Es wird ein Litauen geben, aber keine Litauer”, erklärte mir einmal ein hoher Würdenträger der Zentrale.

Welche Menschenverluste diese Länder erlitten haben, bis ihre ökonomische Struktur vollkommen gleichgeschaltet war, d. h. bis zum Jahre 1950, das weiß ich nicht, und vermutlich gibt es überhaupt keine genaue Statistik. Einen Hinweis könnte unter Umständen die Zahl der Umsiedler geben, die aus dem Inneren der Sowjetunion in die baltischen Staaten abkommandiert wurden, um die deportierten Einwohner zu ersetzen. Doch ist diese Aktion noch nicht abgeschlossen. Die Dörfer werden mit Kolchosenarbeitern bevölkert, die Städte mit Verwaltungspersonal und dessen Familien. In den Städten hört man mehr Russisch als Estnisch, Lettisch oder Litauisch. Unter den Parteifunktionären herrschen russische Namen vor, und wenn sie einen einheimisch klingenden Namen tragen, dann ist dieser häufig nur angenommen. Die ganze Bevölkerung der Sowjetunion soll gieichsam durch den Wolf gedreht werden: nur wenn die einzelnen Nationalitäten sich ,,im russischen Meer” auflösen, ist das große Ziel zu erreichen: eine Kultur und eine Universalsprache. Ostpreußen ist mit kernrussischen Siedlern besetzt worden; Königsberg, wo Kant geboren wurde und sein ganzes Leben verbracht hat, ist in Kaliningrad umbenannt worden und unterscheidet sich heute kaum mehr von Städten wie Tula oder Kuibyschew. Auf den der estnischen Küste vorgelagerten Inseln gibt es keine estnischen Fischer mehr. Der Kessel, in dem die baltischen Völker bei kleinem Feuer verkocht werden, muss hermetisch verschlossen bleiben, wenn das fertige Gericht dem Gaumen Stalins munden soll. In Schulen und Universitäten bedient man sich natürlich noch der einheimischen Sprachen, Auch in den Büchern. Nicht die völlige Vernichtung der einzelnen Nationalitäten ist ja das Ziel, sondern die Vernichtung des KIassenfeindes. Wenn die Jugend in litauischer, lettischer oder estnischer Sprache gelernt hat, was sie als gute patriotische Jugend der Sowjetunion zu tun hat und wie sie alles schätzen muß, was aus Moskau kommt, dann wird sich die russische Sprache von selbst durchsetzen, und die neue Phase eines höheren Bewusstseins wird beginnen.

 

Ist da ein Anlass zur Entrüstung? Die baltischen Länder bildeten eine kleine Welt für sich, wie wir sie etwa aus den ländlichen Idyllen Brueghels kennen: volle Humpen in derben Händen, breite, lachende, erhitzte Gesichter, bärenhaft plumpe Gutmütigkeit; Bauerntugenden wie Arbeitsamkeit, Sparsamkeit, Geschäftstüchtigkeit neben Bauernsünden wie Habsucht, Geiz und ständiger Sorge um die Zukunft. Ein Proletariat gab es kaum, die Industrie war schwach entwickelt, für die niedrige Bevölkerungszahl reichte das Land, das durch die Bodenreform unter die Bauern verteilt worden war. Warum aber sollte es so bleiben? Der unverzeihliche Anachronismus eines solchen Kulakentums musste ausgemerzt, der Lebensstandard auf den der übrigen Sowjetunion herabgesetzt werden. Was die drastischen Methoden betrifft, die man anwandte – schließlich muss jeder einmal sterben, nicht wahr? Stellen wir uns einfach vor, ein großer Prozentsatz der Bevölkerung sei durch die Pest und nicht durch Strafexpeditionen dahingerafft worden. 456  Sobald wir die historische Notwendigkeit als eine Art Pest betrachten, hören wir auf, über das Schicksal der Opfer Tränen zu vergießen. Eine Epidemie oder ein Erdbeben rufen im allgemeinen keine Entrüstung her-vor. Man nimmt von solchen Katastrophen Notiz, legt die Zeitung beiseite und widmet sich in Ruhe wieder seinem Frühstück. Empören kann man sich nur gegen eine Person, und hier war ja keine Person im Spiel. Die Beteiligten erledigten ihre Aufgabe in der vollen Überzeugung, eine historische Pflicht zu erfüllen.

 

Und dennoch schnitt mir der Brief, den ich in Händen hielt, ins Herz. Er stammte von einer Familie, die man im März 1949 aus einem der baltischen Staaten nach Sibirien deportiert hatte, und war an Verwandte in Polen adressiert. Die Familie bestand aus Mutter und zwei Töchtern. Der Brief beschrieb in knappen und trockenen Vorten die Arbeit, die sie in einer Kolchose hinter dem Ural zu leisten hatten. Die letzten Buchstaben der einzelnen Zellen waren ein wenig stärker nachgezogen, und wenn man sie von oben nach unten las, ergaben sie die Worte: ,,Sklaven auf immer.” Es war ein Zufall, dass dieser an einen anderen gerichtete Brief in meine Hände geraten war.  (…..) Es ist denkbar, daß sich weder die Mutter noch die Töchter durch besondere Vorzüge auszeichnen. Die Mutter ging vielleicht des Sonntags mit einem dicken Gesangbuch zur Kirche, um daheim doch eine Teufelin von krankhaftem Geiz zu sein. Die Töchter mögen nur Putz und Flitter und den Tanz am Samstagabend auf der Dorfwiese im Kopf gehabt haben. Vermutlich hatten sie kein einziges vernünftiges Buch gelesen, vermutlich waren ihnen die Namen Plato und Hegel, Marx und Darwin fremd. Sie wurden deportiert, weil sie Kulakinnen waren; ihr Hof hatte etwa 30 Hektar umfasst. Der Nutzen, den die Menschheit aus ihrem geruh- samen Dasein zog, war, abgesehen von den Butter- und Käsemengen, die sie produzierten, äußerst gering. Es erhebt sich nun die Frage, ob man drei solche Existenzen im Namen höherer Ziele vernichten dürfe. (….)

 

Der Terror und die Dichter

(….)  458  Die Wirklichkeit ist der Prüfstein, aller Literatur. (….). Ich kenne einen Dichter 459 , der sich nach dem Molotow-Ribbentrop-Pakt und dem Ausbruch des zweiten Weltkrieges in einer von der Roten Armee besetzten Stadt befand. Er lebte in großer Furcht, denn in der Stadt wurden zahlreiche Verhaftungen vorgenommen, und fast täglich verschwand jemand von seinen Freunden und Bekannten von der Biidflache. In seiner Panik setzte er sich an den Schreibtisch und produzierte freundliche Gedichte, in denen die Segnungen des Friedens und des Sozialismus geleiert wurden. Ich entsinne mich noch eines Poems, in dem er die ,,glücklichen, reichen Kolchosen” der Sowjetukraine pries. Einige Monate später begrüßte dann die Bevölkerung dieser,,glücklichen, reichen Kolchosen” die Deutschen als Befreier. Daß sie sich damit in einem grausamen Irrtum befanden, ist wieder eine andere Geschichte. Die Doppelzüngigkeit, (…. ) muss jeder anständigen Literatur den Todesstoß versetzen.  (….)

 

Die Nationalitätenfrage  (….) 461 Weil aber  das russische Volk die Revolution vollzogen und die erste sozialistische Kultur geschaffen hat, kann man den Nationalismus auch als anti-russische Ideologie bezeichnen. Kleinere antirussische Volksgruppen lassen sich in ihrer Gesamtheit liquidieren (wie z. B. die Krim-Tataren); handelt es sich jedoch um größere Völker, dann wird der Kamp{ gegen den Nationalismus in Etappen geführt werden müssen. In der Ukraine sind schon bedeutende Erfolge festzustellen. Die Bevölkerung der größeren Städte spricht mehr russisch als ukrainisch und liest russische Zeitungen. Immer mehr ukrainische Schriftsteller lassen sich in Moskau nieder und schreiben russisch. Die ukrainischen Dichter und Kritiker, die eine selbständige ukrainische Literatur begründen wollten, Ieben nicht mehr. Tot sind auch die Schauspieler, die ein nationales Theater hatten aufrechterhalten wollen und die sich etwas zu hohe Ziele gesteckt hatten, als sie mit dem russischen Theater in Wettbewerb treten wollten. In den baltischen Staaten lassen sich die Dinge, nachdem die Koliektivierung durchgeführt und die Verwaltung mit Russen besetzt worden ist, nicht minder gut an. Was die Volksdemokratien betrifft, so müssen sie im Lichte früherer Erfahrungen mit etwas größerer Geduld behandelt werden.

 

(….) Die Völker Mittel- und Osteuropas waren nationalistisch bis zum Wahnwitz.
462 Sie hätten sich gegenseitig hingemetzelt, nur um dem Nachbarn ein Stück Boden zu entreißen. Heute sehen sie ihre Unvernunft ein (was sie aber nicht hindern würde,einander wieder an die Kehle zu springen, sobald die feste Hand der Zentrale fehlte). Unter der Obhut der Zentrale sind sie zu gegenseitigen Konzessionen bereit: die Polen haben ihre östlichen Territorien abgetreten, die Deutschen haben die Oder-Neiße-Linie akzeptiert, die Tschechen und Ungarn erheben keinen Anspruch mehr auf die Karpato-Ukraine. In der Sowjetunion selbst spielt das Problem der Minderheiten eine immer untergeordnetere Rolle: sie alle beziehen ihr Wirtschafts- und Kulturprogramm aus der Zentrale, und der einzige Unterschied, der sie noch trennt, ist die Sprache. Man kann dem großen Plan die Folgerichtigkeit nicht absprechen.

 

 

Die baltische Tragödie als Probefall

463 Die Einverleibung der Randstaaten in die Sowjetunion muß den Bewohnern von Chile oder Mexiko als ein bedeutungsloser Zwischenfall erscheinen. Anders aber den vielen Millionen von Menschen in den Volksdemokratien. Seit Jahren schon gibt ihnen diese immerhin ungewöhnliche Handlungsweise des großen Nachbarn zu denken, die bisher nur in der Kolonialpolitik ihre Parallelen hat. Wenn die große Sowjetunion eine Föderation ist und eine beliebige Zahl von Republiken aufsaugen kann, dann muß die Reihe eires Tages auch an andere Länder kommen. Wenn das, was dort nach der Annexion geschah, das Kommende vorweg- nimmt, dann sind auch hier Massendeportationen und die Neubesiedlung von Städten und Dörfern mit Einwanderern aus dem Inneren des eurasischen Kontinents zu gewärtigen. Eine solche Aussicht stellt sich dem Bewusstsein der Bedrohten, deren Staaten von der Propaganda so gern als souverän bezeichnet werden, wie eine Art Jüngstes Gericht dar. So ist die Einverleibung der baltischen Staaten zu einem nicht zu unterschätzenden psychologischen Faktor geworden: bei seiner täglichen Gewissenserforschung wägt der Bewohner eines der bedrohten Länder seine Worte und Taten nicht so sehr nach ihrem augenblicklichen Nutzen ab, als danach, wie sie ihm in der Zukunft angerechnet werden könnten. (….)

 

464  Der Literat Czeslaw Milosz erinnert sich an eine Bahnhofsszene 1939

Ich besaß alle Faustpfänder eines neuen Glücks. Ich hatte am Wiederaufbau Warschaus mitarbeiten können, im Einklang mit den Gesetzen der Geschichte, mit dem Blick in eine ferne Zukunft. Ich hätte Shakespeare übersetzen können – welche Lust, den Widerstand der Sprache zu brechen und ebenso bündige Formulierungen zu finden wie die des Originalsl Ich hätte vielleicht nach marxistischer Methode die englische Geschichte des 16. Jahrhunderts erforscht. Bald wäre ich sicher Universitätsprofessor geworden. Von Zeit zu Zeit hätte ich Gedichte veröffentlicht, die von meiner Loyalität gegenüber der Revolution und ihren Schöpfern Zeugnis ablegten. Dialektischen Studien mich widmend und im Kreise der Philosophen weilend, hätte ich auf die Bemühungen der Literaten, Musiker und Maler hinabschauen können, durch ein höheres Wissen gewappnet, dass die von ihnen geschaffene Kunst schlecht sei. Ich hätte Bach gehört und Swift oder Flaubert gelesen.

Dennoch habe ich meinen Freund enttäuschen müssen. Was mich dazu bewegt hat, kann,ich selbst nicht genau definieren. (…). Ich glaube, meine Motive reichen weit in die Vergangenheit zurück, bis zu einem Ereignis, das ich hier kurz erzählen möchte.

Auf meinen lrrfahrten zu Beginn des zweiten Weltkrieges kam ich, wenn auch nur für kurze Zeit, in die Sowjetunion. Einmal wartete ich auf dem Bahnhof einer großen Stadt in der Ukraine auf den Zug. Es war ein riesiges Gebäude. Die Wände waren mit Porträts und Transparenten von unsäglicher Häßlichkeit bedeckt. Eine dichtgedrängte Menge in Pelzen, Uniformen, mit Ohrenschützern und wollenen Kopftüchern füllte die Bahnhofshallen bis in den letzten Winkel. Der mit Fliesen ausgelegte Boden hatte sich unter den vielen tausend Stiefeln in einen einzigen Morast von schmutzigem tauenden Schnee verwandelt. Auf der Marmortreppe lagerten schlafende Elendsgestalten. Nackte Beine sahen unter den Lumpen hervor. 465 Über ihnen brüllten Lautsprecher Propagandalosungen. Als ich an diesen Menschen vorüberging, blieb ich plötzlich stehen. Etwas hatte mich angerührt. Dort an der Wand hatte sich eine Bauernfamilie niedergelassen: ein Mann, seine Frau und zwei Kinder. Sie saßen auf Körben und Bündeln. Die Frau stillte das jüngere Kind, der Mann – er hatte ein dunkles, von tiefen Falten durchfurchtes Gesicht und einen großen schwarzen Schnauzbart – schenkte eben aus einer’ Teekanne einen Becher voll und reichte ihn dem älteren Sohn. Sie sprachen mit gedämpften Stimmen, auf polnisch. Ich schaute ihnen lange zu und fühlte plötzlich, daß mir Tränen über die Wangen rannen. Wie seltsam, daß ich mitten in der Menge gerade auf sie aufmerksam geworden war! Was mich so heftig ergriffen hatte, war die Art, in der sie sich so völlig von ihrer Umgebung unterschieden. Es war eine menschliche Familie, eine Insel inmitten der dem gewöhnlichen kleinen Mensch-Sein so gänzlich entfremdeten Masse. Die Art, wie die Hand den Tee einschenkte, wie sie aufmerksam und zart dem Kind den Becher reichte, die besorgten Worte, die Besonderheit, die ganz persönliche private Isoliertheit dieser Menschen in der Menge – das hatte mich erschüttert. Und ich verstand für eine Sekunde, was mir sofort wieder entschwand.    Diese polnischen Bauern waren sicherlich alles andere als ,,kultiviert”. Vielleicht konnte das Paar, das ich gesehen hatte, nicht einmal lesen und schreiben.  (….)

466 Jetzt bin ich heimatlos. Eine wohlverdiente Strafe. Aber vielleicht bin ich geboren, damit durch meinen Mund jene ,,Sklaven auf immer” sprechen? Warum sollte ich mich allzu sehr schonen, warum sollte ich um den Preis, in den Anthologien des Staatsverlages einen Platz zu erhalten, auf das verzichten, was vielleicht die einzige Berufung des Dichters ist? Mein Freund akzeptiert die nackte Gewalt, der er verschiedene Namen beilegt. Wir haben uns getrennt. Es kümmert mich nicht, ob ich mich auf seiten der künftigen Sieger oder Besiegten befinde. (….)

Milosz bittet stellvertretend als osteuropäischer Dichter Pablo Neruda in Lateinamerika ironisch um Nachsicht

Mag der große Dichter Lateinamerikas Pablo Neruda getrost für sein Volk kämpfen. Es wäre aber schlimm um ihn besteilt. wenn er alle Stimmen, die ihn aus Mittel- und Osteuropa erreichen, für Manifestationen eines überholten Nationalismus und für das Wehgeschrei einer grollenden Reaktion halten wollte. Augen, die gesehen haben, dürfen sich nicht verschließen; Hände, die berührt haben, dürfen nicht vergessen, wenn sie zur Feder greifen. Möge Neruda einigen Schriftstellern Mittel- und, Osteuropas verzeihen, wenn sie sich Fragen widmen, die mit seinen eigenen Anliegen scheinbar so wenig zu tun haben; denn da er ja an die Notwendigkeit glaubt, sollte ihm das Schicksal der auf dem Wege der Notwendigkeit so weit fortgeschrittenen Völker nicht völlig gleichgültig bleiben. (….)

Bonus: die Faksimiles der Seiten 451-55 , der Seiten 456 – 465 und Seite 466  als pdf

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