……denn «nicht die Taliban, sondern wir haben den afghanischen Staat zerstört»
Vorbemerkung (Admin.)
NZZ-Interviews sind knapp komponiert. Das GesprĂ€ch entwickelt Eigendynamik. Dabei ruft Gilles Dorronsoro in den vergangenen zwanzig Jahren hĂ€ufig wiederholte Kritiken ins GedĂ€chtnis. Wegen der komplexen ZusammenhĂ€nge empfehle ich dringend, den Link zum âGesprĂ€châ zu nutzen und beschrĂ€nke meine Zitate auf Dorronsoros EinschĂ€tzung der Taliban.
Mit denen sind auch die Perspektiven der zurĂŒck bleibenden âOrtskrĂ€fteâ westlicher Regierungen, Armeen und NGOs untrennbar verkĂŒpft, welche momentan die Schlagzeilen beherrschen :
Interview von Ulrich von Schwerin mit dem Afghanistan-Experten Gilles Dorronsoro :
 «Nicht die Taliban, sondern wir haben den afghanischen Staat zerstört» (LINK)
ZITAT
( ) Sie sagen, der Westen habe den afghanischen Staat zerstört. Aber gab es denn staatliche Strukturen in Afghanistan vor 2001?
Ja, die Taliban hatten den Staat wieder aufgebaut. Er blieb extrem fragil, weil er keine Ressourcen hatte, aber es war ein echter Staat mit einer Justiz und einer Polizei. Die Taliban kontrollierten 85 Prozent des Territoriums, und die Tatsache, dass sie den Opiumanbau ausmerzen konnten, hat gezeigt, dass dies eine effektive Kontrolle war.
( ) Nach 2001 sind verschiedene Institutionen unter internationaler Kontrolle aufgebaut worden ohne wirkliche Autonomie. Die Gesamtheit dieser Institutionen bildete jedoch keinen Staat, sondern lediglich eine transnationale Regierung.
Die NGO haben einen parallelen Arbeitsmarkt geschaffen und einen grossen Teil der qualifizierten ArbeitskrĂ€fte absorbiert. Sie haben die öffentliche Politik ( ) zu grossen Teilen definiert. () Es waren immer dieselben grossen Unternehmen, die die AuftrĂ€ge erhielten und das Geld dann in mehreren Stufen bis zu den kleinen afghanischen Unternehmen weiter verteilten. Das alles hat den Steuerzahler enorm viel Geld gekostet. Afghanistan war eine riesige Maschine, um öffentliche Gelder in private Profite umzuwandeln. ( ) Ein Grossteil der Milliarden, die die USA fĂŒr Afghanistan ausgegeben haben, ist auf die Bankkonten westlicher Unternehmen, NGO und ĂŒberbezahlter Experten zurĂŒckgeflossen.
( ) Werden die Menschen in den GrossstĂ€dten bereit sein, unter das Joch der Taliban zurĂŒckzukehren? Es gab schon Proteste.
Die Menschen haben nicht die Wahl, ob sie die Taliban akzeptieren oder nicht. Das militĂ€rische KrĂ€fteverhĂ€ltnis ist klar. Die Regierung ist gestĂŒrzt, ein neues Regime ist an der Macht. Es gibt Vorbehalte gegen die Taliban in Kabul und anderen GrossstĂ€dten. (…) Ich sehe nicht, dass solche Proteste das neue Regime destabilisieren könnten.
Der Erfolg der Taliban ist auch auf ihren RĂŒckhalt in der Bevölkerung zurĂŒckzufĂŒhren. Woher kommt diese PopularitĂ€t?
 Die PopularitĂ€t der Taliban ist schwer zu messen. Aber zum Teil ist sie darin begrĂŒndet, dass die Taliban die Frage des Staates ernst genommen haben. Sie haben ein Rechtssystem geschaffen, sie haben Gesetze erlassen und gegen die Korruption gekĂ€mpft. Sie haben eine etatistische Politik verfolgt. Es gab in der Bevölkerung ein BedĂŒrfnis nach einer RĂŒckkehr des Staates, und die Taliban haben dieses BedĂŒrfnis ernst genommen.
Wie wichtig ist der Islam fĂŒr die LegitimitĂ€t der Taliban?
 Der Islam spielt weiterhin eine wichtige Rolle in der afghanischen Politik. Religiöser Fundamentalismus ist eine Tatsache â auch innerhalb der bisherigen Regierung. Die Taliban werden auch deshalb als legitime Bewegung wahrgenommen, weil ihre AnfĂŒhrer islamische Geistliche sind. Was die Taliban als Gesellschaftsmodell vorschlagen, mag uns missfallen, aber es entspricht den Forderungen eines wichtigen Teils der afghanischen Gesellschaft. (….) (D)as nach 2001 begrĂŒndete System hatte einen islamischen Anstrich, und einige Politiker haben einen islamistischen Diskurs gepflegt. Aber da diese Politiker gleichzeitig Milliarden veruntreut haben, war das nicht sehr ĂŒberzeugend. Es war ein völlig korruptes System, dessen StreitkrĂ€fte unter der FĂŒhrung der Amerikaner kĂ€mpften. Das hat die LegitimitĂ€t dieses Systems untergraben und zur LegitimitĂ€t der Taliban beigetragen, die nicht korrupt waren und gegen die auslĂ€ndischen Besatzungstruppen kĂ€mpften.
Haben sich die Taliban seit ihrem Sturz im Jahr 2001 verÀndert?
 Ihr Verhalten wird nicht unabhĂ€ngig von dem sein, was wir tun. Wenn wir uns weigern, mit den Taliban ĂŒber Themen wie Migration, Drogenhandel und Terrorismus zu sprechen, bei denen wir gemeinsame Interessen haben, wird das ihre Politik beeinflussen. Wenn wir uns dagegen mit wirtschaftlicher Hilfe engagieren, wird sich das ebenfalls auswirken. Meiner Meinung nach wĂ€re es gefĂ€hrlich, zu versuchen, sie so weit wie möglich zu isolieren. Es ist besser, zu versuchen, mit ihnen Vereinbarungen zu finden.
Sind die Taliban darauf vorbereitet, das Land zu regieren?
Sie kontrollieren das Land, aber sie haben nicht die Mittel, um das Land zu regieren. Das vorangehende Regime hat leere Kassen zurĂŒckgelassen. In Afghanistan gibt es kein Geld mehr. Der IMF hat die 400 Millionen Dollar blockiert, die in diesem Jahr fĂŒr Hilfsmassnahmen geplant waren, und die Amerikaner haben die Mittel der Zentralbank gesperrt. Afghanistan ist heute ein Land, das völlig ruiniert ist und das mitten in einer DĂŒrre steckt. Die Taliban werden Zeit brauchen, um die Verwaltung wieder aufzubauen.
( ) Sind State-Building-Projekte wie in Afghanistan grundsÀtzlich zum Scheitern verurteilt?
 Im Jahr 2001 war ein Erfolg angesichts des Zustands der politischen Klasse in den USA, angesichts der Tendenz zur Privatisierung des Krieges und angesichts der verzerrten Wahrnehmung der nichtwestlichen Gesellschaften unwahrscheinlich. Das lag nicht an den Besonderheiten der afghanischen Gesellschaft, es lag an uns. Heute ist die Situation noch schlimmer. Das Niveau der Expertise ist gesunken, die Privatisierung des Krieges ist weiter fortgeschritten, und unsere Haltung zum Islam ist von einer Mischung aus Abneigung und Faszination geprĂ€gt, was unsere Beziehung zu den muslimischen Gesellschaften erschwert. All das macht mich sehr pessimistisch, was zukĂŒnftige Interventionen betrifft.
Warum haben die westlichen Regierungen dem Rat von Experten wie Ihnen nicht mehr Aufmerksamkeit geschenkt?
Nach 2001 hat sich in den Think-Tanks und UniversitÀten eine veritable Expertenindustrie entwickelt, die viel Geld gekostet hat. Aber viele dieser Experten hatten keine Erfahrung vor Ort oder waren in wirtschaftlichen ZwÀngen gefangen, die sie daran hinderten, die Politik zu kritisieren. ( )
Zur Person
Der Professor fĂŒr Politikwissenschaft an der Pariser UniversitĂ€t PanthĂ©on-Sorbonne war 1988 erstmals zur Feldforschung in Afghanistan und ist seitdem regelmĂ€ssig an den Hindukusch zurĂŒckgekehrt. Schon unmittelbar nach der Intervention 2001 hat der Konfliktforscher davor gewarnt, dass die militĂ€rische Strategie und das politische Vorgehen des Westens zum Scheitern verurteilt seien.
Ausser zu Afghanistan hat Dorronsoro auch ausfĂŒhrlich zum Kurdenkonflikt in der TĂŒrkei und im Irak sowie zum BĂŒrgerkrieg in Syrien geforscht. (NZZ)