Systematische Verdummung oder effektiveres Lernen dank Corona ?

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Wachsende Formalisierung der Online-Ausbildung ( Peter Serdyukov)

Originaltitel:  “ACADEMIA Letters : A Growing Formalization of Contemporary Online Education”

Meine Quelle:  Academia Letters, August 2021 ©2021 by the author — Open Access — Distributed under CC BY 4.0   Citation: Serdyukov, P. (2021). A Growing Formalization of Contemporary Online Education. Academia Letters, Article 2601. https://doi.org/10.20935/AL2601.  Download meiner Vorlage:   A_Growing_Formalization_of_Contemporary (pdf mit References)

 

Kurzkommentar Admin.

Mit Multiple Choice fing das formalisierte Lernen an. Wenn ich mich recht erinnere,  zuerst beim Führerschein. Ich ackerte damals wohl zehnmal einen Musterfragebogen durch und bestand folglich glatt “die Theorie” beim ersten Versuch. Wir Gymnasial-Pädagogen haben das ‘dumme’ Multiple Choice-Verfahren lange verächtlich belächelt, beim Vordringen in die Mediziner-Ausbildung wurde uns schon mulmig, aber generell haben wir das asoziale Potential unterschätzt. In den vergangenen zwei von Lock-Down geprägten Jahren boten die geschlossenen Schul- und Universitätsgebäude einen traurigen Anblick. Schüler und Studenten, denen man begegnete, klagten, aber immer wieder argumentierten in den Medien Teile des akademischen Personals für eine Verlängerung des angeblich notwendigen “Distanzunterrichts” – für die gewerkschaftlich vertretenen Lehrerkollegen schäme ich mich heute noch – oder schlugen sogar eine Verstetigung des angeblich überlegenen “Fernunterrichts” vor. Ignorante (oder Lobbyisten-affine) Politiker forderten bekanntlich im Chor, endlich die “Digitalisierungsoffensive” zum Sieg zu führen. Der vom Autor Serdyukov an zentraler Stelle  benutzte Ausdruck “convenience” wird übrigens auch in “convenience food” (Fertiggerichte) verwendet! 

Der Schluss enttäuscht mich, aber wer will (und kann) sich schon dem Silicon Valley in den Weg stellen. Ich bin erfreut, wir klar der kalifornische Universitätsdidaktiker auf der Plattform academia.edu seine Erfahrungen mit E-Learning zusammenfasst. Die “correct citation” seines originalen Essays lautet jedoch, wie er mir am 14.8. schreibt: Serdyukov, P. (2021), “Formalism in online education”, Journal of Research in Innovative Teaching & Learning, Vol. 14 No. 2, pp. 118-132. https://doi.org/10.1108/JRIT-02-2021-0010

Auszüge in deutscher Übersetzung

                                                                             ( ) = Kürzungen

“Online Learning (OL) oder E-Learning hat in den letzten 25 Jahren stetig zugenommen. Aber die beispiellose globale Coronavirus-Pandemie hat das größte Fernlernexperiment der Geschichte ausgelöst. Seit 2020 verbreitet sich E-Learning wie ein Buschfeuer über alle Arten und Ebenen der Bildung.  ( ) 

Unter den tatsächlichen und potenziellen Risiken für die Bildung gibt es eine, der nur wenige von uns jemals Aufmerksamkeit geschenkt haben – ein wachsender formalistischer Trend, der die gesamte Bildung durchdringt. ( ) Formalismus hat die Eigenschaft, „ein übermäßiges Festhalten an vorgeschriebenen Formen“ zu entwickeln (Oxford Dictionary, 2021). Die Formalisierung des Online-Ökosystems schafft eine künstliche Umgebung, die die Entwicklung und Ergebnisse der Lernenden sowie ihre Kognition und ihr Verhalten beeinflusst.

Wir unterscheiden zwischen formaler, institutionalisierter Bildung und einer formalisierten oder formalistischen Bildung, ( ) und gehen hier auf letztere ein. Während organisatorische Formalisierung ein unvermeidbares Übel ist, gelten unsere Sorgen einem  unverhältnismäßigen Formalismus beim Lernen, sowohl im Prozess als auch im Ergebnis.

Anfängliches (gemischtes) E-Learning kombinierte synchrone, asynchrone und Live-Interaktionen mit dem Dozenten und Kollegen. Asynchrones Lernen ist überwiegend eigenständiges Lernen unter der Moderation des Dozenten. Präzisionslernen ist eine Vorstufe zu einem vollautomatischen Lernen, das ständige, zielgerichtete Bewertung benutzt,  um ein effektives Lernen zu gewährleisten. Automatisiertes Lernen macht den Ausbilder überflüssig. Ein Online-Kurs basiert in der Regel auf einem Learning Management System (LMS) und hat eine formale Struktur, die den Lernprozess der Studierenden prägt und regelt. Dieses Verfahren ist formal: Die Studierenden führen nur die Aktionen aus, die im Kursrahmen verfügbar sind, der eine festgelegte Anzahl möglicher Routen und Ergebnisse beinhaltet. Die Kursinhalte basieren auf strukturierten, vorprogrammierten Lernmaterialien und werden in einer gut organisierten, oft angepassten und leicht verdaulichen Form angeboten. Der Kurs hat eine klare, geradlinige Struktur, die eine mühelose Navigation, eindeutige Anweisungen und Aufgaben, transparente Erwartungen, Maßstäbe und Richtlinien sowie klar definierte Bewertungskriterien (z. B. in Rubriken) gewährleistet.

Die Leistungsroutine der Schüler wird  durch einen starren Verlauf, Verhaltensmuster und feste Aufgaben gesteuert, trägt zur Formalisierung des Wissens und der Erfahrungen, der Reaktionen auf Aufforderungen und der Performance bei und prägen (preset) die Lernergebnisse. Schüler werden von E-Learning  hauptsächlich durch seine Bequemlichkeit angezogen (Christensen, Eyring, 2011; Cole, Shelley & Swartz, 2014).  Clicker- oder Push-Button-Lernen in „click-based“ oder „keyboard-based“ Institutionen ist eine Metapher für “Convenience Education”

Colleges, insbesondere gewinnorientierte und sogar nicht gewinnorientierte, verschlimmern die Situation weiter. Sie alle wollen ihre Programme „studentenfreundlich“ und anpassungsfähig gestalten, um die Einschreibungen zu erhöhen und die Fluktuation zu reduzieren. Eine wachsende Tendenz zur Asynchronität des Online-Lernens, die von vielen privaten und sogar nicht gewinnorientierten Einrichtungen getrieben wird, ist weitgehend auf geschäftliche Erwägungen zurückzuführen – steigende Einschreibungen, indem E-Learning  zugänglicher und bequemer gemacht wird. Eine bemerkenswert hohe Fluktuationsrate in Online-Einrichtungen weist jedoch darauf hin, dass viele Studierende für diese Art des Lernens nicht bereit sind.

Die naheliegendste Begründung liegt, neben persönlichen Gründen, in einer ungenügenden Vorbildung, einem Mangel an Lerntechniken, grundlegendem Wissen und wünschenswerte Einstellungen (Dynarski, 2018). ( )  Mangels Vorbereitung haben viele Studenten ( ) Schwierigkeiten, in einer formalisierten Lernumgebung, in der sie nur begrenzte Möglichkeiten für informelles, kreatives und gemeinsames  Arbeiten und persönliche Kommunikation haben und die sozio-emotionalen Vorteile des synchronen und Live-Lernens vermissen. Online-Lehrer und die Gesellschaft erwarten unabhängige, autonome, selbstgesteuerte, autarke, kreative und hochmotivierte Schüler. Viele von denen verlassen sich aber lieber auf  direkte Führung, starke Unterstützung und sogar auf den Druck des Dozenten.

( ) Die Automatisierung der Bildung ist ein wachsender Trend (Hitchcock, 2019; Bennett, 2020), der in Robotisierung übergeht. Es wird erwartet, dass KI-basierte Lernsysteme Live-Lehrer ersetzen werden (Grace, Salvatier, et al., 2018). Die Formalisierung ist somit eine Voraussetzung für die Automatisierung des Lernprozesses, da der Computer nur mit formalen Objekten über Algorithmen arbeiten kann. ( )

Wir sehen mindestens fünf Hauptgründe, sich über eine übermäßige Formalisierung des Lernens auf der Grundlage digitaler Technologien Sorgen zu machen:

  • Trennung vom wirklichen Leben
  • unzureichende Lernergebnisse
  • soziale Deprivation
  • Gesundheits-, Kognitions- und Identitätsrisiken
  • Konditionierung von Schülern und andere soziale Gefahren. Wissen wir, was mit dem menschlichen Gehirn in einer formalisierten Umgebung passiert?

Basierend auf der Aktivitätstheorie wissen wir, dass Bewusstsein ( ) auch von den Aktivitäten des Lernenden geprägt wird (Leontiev, 1978; Bedny & Meister, 1997; Rubinstein, 2002). Wir können darum mit Sicherheit davon ausgehen, dass Lernende in einer formalisierten Online-Umgebung ein anderes Bewusstsein, eine andere Wahrnehmung, Weltanschauung und andere Eigenschaften entwickeln als in einer traditionellen, sozialisierten, nicht computerisierten Schulumgebung.

Formalistische, standardisierte maschinenbasierte Bildung legt bestimmte Normen und Lernroutinen fest, die das Bewusstsein für ein vorgegebenes Muster verändern und Schüler zu bestimmten Handlungen konditionieren können. Dadurch entsteht eine Kluft zwischen einem freien, aktiven, kreativen, forschenden Geist und einem passiven, abhängigen, ausgefüllten. Der Komiker und Star von Blackadder, Mr. Bean (RowanAtkinson), sagte in Bezug auf die zeitgenössische Kultur: „Das Problem, das wir online haben, ist, dass ein Algorithmus entscheidet, was wir sehen möchten, was letztendlich zu einer vereinfachten, binären Sicht der Gesellschaft führt.“ ( LLoid, 2021).

( ) Während wir technologischen Innovationen nicht im Wege stehen können und dürfen, müssen wir, die Menschen, den Prozess lenken und dürfen uns nicht der Bequemlichkeit, der Effektivität oder des Gewinns wegen den Maschinen unterordnen. Für das Bildungssystem, die Lehrenden und die Studierenden ist es von entscheidender Bedeutung, eine umfassende, pädagogisch-zentrierte Sicht auf die Hochschulbildung zu akzeptieren, nicht eine technikzentrierte. ( )  Wir müssen deutlich machen, wo und wann das E-Learning funktioniert und wo nicht. ( ) Online-Lehrkräfte sollten alle Anstrengungen unternehmen, um die Schüler in Kommunikation, Interaktion, Zusammenarbeit und Kooperation einzubeziehen; Untersuchungs-, Entdeckungs- und Problemlösungsansätze integrieren und sinnvolle Aufgaben anbieten; ermöglichen, selbstständige, kritisch denkende, kreative Persönlichkeiten zu werden. Technik soll die menschliche Kommunikation nicht ersetzen, sondern ergänzen. Echtes Lernen geschieht durch Suchen und Finden, Versuch und Irrtum, nicht nach einem formalen, vorgegebenen Weg. ( )”

 

 In meiner Email an Peter Serdyukov zitierte ich den Kybernetiker Heinz von Foerster (1911-2002; LINK)  (LINK   zum Beitrag von 2013) :

“Dear Peter, Ihre Arbeit ist gerade heute kostbar bei dem sich abzeichnenden Siegeszug völlig unpädagogischer Konzepte. Nur überlastete, unerfahrene, eingeschüchterte, resignierte, kontaktgestörte oder schlicht karrieristische Dozenten können sie gut finden, aber davon gibt es reichlich.

Der amerikanische Kybernetiker Heinz von Foerster übte 1972 bereits grundsätzliche Kritik am konventionellen Erziehungssystem:

“Der Großteil unserer institutionalisierten Erziehungsbemühungen hat zum Ziel, unsere Kinder zu trivialisieren. Ich verwende diesen Begriff so wie in der Automatentheorie. Dort ist eine triviale Maschine durch eine festgelegte Input-Output-Beziehung gekennzeichnet. Da unser Erziehungssystem darauf angelegt ist, berechenbare Staatsbürger zu erzeugen, besteht sein Zweck darin, alle jene ärgerlichen inneren Zustände auszuschalten, die Unberechenbarkeit und Kreativität ermöglichen.“ (Das Zweihirnproblem – Erziehung 170f.) Seine Kritik an ‚Prüfungen’ hat er in „Lethologie’ (1992, ebd.145) ausgeführt – Bilanz: Tests testen Tests. In diesem Sinn kritisiert er auch den Glauben an Intelligenztests (155) und natürlich auch Tests, ob Computer ‚denken’ können (KI – Künstliche Intelligenz). Der Glaube diene denjenigen als Notausgang, die ihre Freiheit der Wahl verschleiern möchten, um sich dadurch der Verantwortung ihrer Entscheidungen zu entziehen. (157)

Zitate aus der Anthologie in deutscher Übersetzung :”KybernEthik” Merve Verlag Berlin 1993 (ISBN 3-88396-111-6)”

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Ich experimentiere mit dem Format. ZITAT soll den Beitrag nicht überflüssig machen oder diskutieren. Wenn, dann mit einem passenden Beitrag verlinken.Die passende Kürze lässt sich auch nur durch wiederholte Kürzungen erreichen, ist vielleicht auch das Ergebnis genauerer Lektüre, da sie die Perspektive und Schwächen aufdecken kann.   16.8.21

 

 

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