Diskriminierungsfrei und gesetzestreu

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Voreiliges Pamphlet anlÀsslich meiner Pensionierung im Mai 2009

Hochgeladen 19.6.2021

26.5.09 „Pensionierung“

Ich komme direkt aus drei Jahren „Vorruhestand“ an die Altkönigschule gefahren, um bei dem mir unbekannten Schulleiter meine Urkunde abzuholen. Habe viele Kollegen getroffen. Die erinnern mich an die „Titanic, die unter Dampf unterging“ oder eher noch an eine „unsinkbare Titanic“. Die alten Kollegen wĂŒrde ich allesamt in Pension schicken, sie tun mir einfach leid. Der „Altbau“ sieht aus wie die Bronx, das dĂŒrfte nicht hingenommen werden. Johnny Kumar („möeh“- Redakteur) ist mir sympathisch.

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„Diskriminierungsfreiheit“ und „Gesetzestreue“ sind Eckwerte des Systems, weil Erfolgsvoraussetzung fĂŒr die Durchsetzung des glĂ€sernen Menschen. Sie werden in der westlichen Welt momentan durchgesetzt, als ob ein Plan dahinter wĂ€re.

Dabei ist es bloß systemische PlanmĂ€ĂŸigkeit. Viele dezentrale KrĂ€fte der wissenschaftlichen Zivilisation kommen aus den verschiedensten Richtungen diversen Interessengruppen entgegen, jede will Systemfehler beseitigen, die RationalitĂ€t im System, die KompatibilitĂ€t erweitern, Energien freisetzen, auch solche, die von Blockierungen gebunden werden.

Ging Diskriminierung frĂŒher von intellektuellen und wissenschaftlichen AutoritĂ€ten aus, die Hierarchien, stabile Normen und spĂ€ter vermeintliche Kausalketten verteidigten, so erweist sich die ganze Denkrichtung als nicht mehr zeitgemĂ€ĂŸ. 1989 schlug jeder Art von -zentrismus die Totenglocke. So etwas war nur noch fĂŒr Sonntagsschule und Sonntagsreden, fĂŒr politische und soziale Folklore jeder Art erlaubt. Wirtschaft, social engineering, Wissenschaften und Technologien wurden regelrecht umgepolt, anfangs von den Akademikern alten Schlages bekĂ€mpft, aber meist unterschĂ€tzt.

Wenn dieses alte Denken nicht mehr praktiziert wird, sondern je nach Anwendung„schöpferische Zerstörung“, „anything goes“, „Pluralismus“, „Spezialisierung“ und „InterdisziplinaritĂ€t“, alles mit der Perspektive eines sich stetig vervollkommnenden Systems betrieben wird, das aus jeder Krise gestĂ€rkt hervorgehen und bald schon einen Grad von Durchblick und Wissen erlangen kann, dem kein einzelner Mensch mehr folgen könnte, dann sehen wir auch in undurchdringlicher KomplexitĂ€t keine Bedrohung mehr. Ted K. hat das wie mancher andere prognostiziert. Ordnungswissen verliert seine Substanz, wird rein funktional (nach Wert und Zweck) und trĂ€gt ein verkĂŒrztes Verfallsdatum.

Mach mit !

Warum erkenne ich in so vielen neuen Entwicklungen die alten VerhĂ€ltnisse in der DDR? Weil der Kommunismus (Stalinismus, Maoismus, SED) zur Modernisierung Ideen der Umerziehung und PerfektibilitĂ€t des Menschen beisteuerte, nachdem die Industrialisierung Bauern bereits zu Rekruten gemacht hatte, und weil er die Außenlenkung in Konkurrenz zu Amerikas geschmeidigeren Methoden in großen Maßstab ausprobierte.

FĂŒr die Menschen heißt das, allzeit bereit zu sein und keine unmöglichen (V.Flusser: unwissenschaftlichen) Fragen zu stellen oder doch nur den dafĂŒr eingerichteten „Notrufen“  und auf „Ideologie“ und „Desinformation“ spezialisierten Agenturen: also Call-Centern, Schulen, Kirchen, Therapeuten, Medien, Sachbuchverlagen u.s.w., damit sie den neuen AutoritĂ€tsdarstellern in den Chefetagen nicht lĂ€stig fallen, die solche Fragen doch nur an entsprechende Sachbearbeiter weitergeben, weil sie wissen, dass sie nicht wissen.

Wie selbstverstĂ€ndlich verlangte heute im dlf ein Anrufer nach „Ethikkommissionen“ in jeder Klinik, damit man wisse, was an Behandlung man Hilfesuchenden geben mĂŒsse und wolle.

Gesetzestreu !

Aber bitte auf aktuellem Stand und ohne zu fragen. Wer darf von sich annehmen, den aktuellen Stand an „Gemeinwohl“ oder „Recht“ ….. zu reprĂ€sentieren? „Michael Kohlhaas“ oder einen „Luther“ („Hier stehe ich…“) kann das System sich nicht leisten. „WiderstandskĂ€mpfer“  gehören in die Gedenktagfolklore der Abteilung Legitime Abstammung speziell fĂŒr die Ewiggestrigen – Linke und Liberale, Wertkonservative von der „Zeit“ – jedenfalls der Ă€lteren Generation, die sich zwar auch vom globalen Konsumismus haben einfangen lassen, aber meinen, noch „Werte“ zu haben.

Grenzwerte, Verkehrsregeln, …. alles hat bereits seine konsensuelle Basis in den jeweiligen zur Kompetenz erhobenen Clearing-Gremien, so klein sie auch sein und verborgen sie auch wirken mögen. DafĂŒr hat auch der linke Akademiker Habermas seinen Segen gegeben. Er soll keine Schutzbehauptungen aufstellen.

„ProfessionalitĂ€t“ trifft sich mit „formaler Kompetenz“ (also die ideale konfuzianische Kombination von Stellung und BefĂ€higung) zu Festlegungen eines politischen „Willens“, eigentlich „Kompromissen“, deren detaillierte Herleitung kaum rekonstruierbar wĂ€re.

Man sollte auch nicht vergessen, dass schon die klassischen Ingredenzien der parlamentarischen Demokratie, Debatte und Diskussion (vgl. Sennett) mit harten Konventionen verknĂŒpft waren.

Die „Freiheit der Wissenschaft“ ist heute immer mehr an einen Jargon und die Konventionen angelsĂ€chsischer Publikation geknĂŒpft. Schon die akademischen Lehrlinge konsultieren Ă€ngstlich die einschlĂ€gigen akademischen Benimmregeln betr. Terminologie, Zitierweise, Abstract, Literaturverzeichnis – und lassen ĂŒber das Ganze das aktuelle Korrekturprogramm laufen.

Es gibt manche Verhaltensweisen, die fĂŒr sich genommen menschlich verstĂ€ndlich und geradezu sympathisch sind, aber in Funktionsstellen – und das sind alle Leitungsstellen heute – kontraproduktiv sind. Sie können durch Überwachung entdeckt werden und fĂŒhren dann zur Sanktionierung. Eine Entlassung – sie kann ohnehin unversehens passieren – heißt oft einen existenziellen Absturz aus der immer nur leihweise ĂŒberlassenen Bedeutungszuschreibung. Von abgewĂ€hlten Politikern weiß man, dass sie daran am meisten leiden, dass sie aus dem exklusiven Informations- und Kommunikationszirkel herausfallen und mit einem Mal nicht mehr gefragt sind, da einflusslos und uninformiert. Talkshow-Auftritte und der kurze Rummel um das eigene Buch schaffen in den wenigsten FĂ€llen befriedigenden Ersatz. NatĂŒrlich wurde solcherlei vom kommunistischen FunktionĂ€r schon in Zeiten des Kalten Kriegs erzĂ€hlt, mit geheucheltem MitgefĂŒhl und klammheimlicher Freude: Er hĂ€tte das wissen mĂŒssen, die Revolution frisst ihre Kinder.

Die Professorenschaft hat sich bisher mit der Emeritierung eine ganz sachte Rampe in die Bedeutungslosigkeit erhalten können, wovon andere BerufstÀtige nur trÀumen können.

 Immer noch : Gesetzestreu

„KorruptionsbekĂ€mpfung“ ist heute zum ersten Mal in der Geschichte glaubwĂŒrdig auf Erfolg bedacht, erstens weil „Korruption“ konservativ wirkt, zugunsten bestehender Privilegien, weil es damit zugunsten der UntĂŒchtigen wirkt, die damit ihr Überlebenschancen mit unfairen Mitteln zu verbessern hoffen. Zweitens sind die tonangebenden Kreise auf solches Lavieren selten angewiesen, da sie sich gesetzestreu und kompetent ĂŒber exklusive legale Wege beraten lassen, oder die haben einbauen lassen (Stichwort Lobbyismus). Einfallsreiche neue Wege der Korruption werden auch nicht bestraft, sondern belohnt. Das waren immer schon „die Großen“, die man „laufen lĂ€sst“. Entsprechendes gilt fĂŒr „Doping“.

FrĂŒher krempelte man die Ärmel hoch, zeigte die FĂ€uste, dopte, schloss beide Augen und drohte auch schon mal Gewalt an. Fans, Hooligans werden neuerdings den Clubs ziemlich lĂ€stig. Heute ist jede Rohheit und Tumbheit (Dummheit) verpönt, es sei denn in abgegrenzten Feldern.

Hingegen erobert ausgewiesener Schwachsinn die Gesellschaft: zuerst als einmal bodenloses GeschwĂ€tz, das die unzĂ€hligen neuen MedienkanĂ€le fĂŒllt – trash und spam – dann in Form von Film, Theater, Musik, Soaps, Reportagen und Spielen. Mich erstaunt immer noch spontan der Anblick intelligent wirkender Menschen bei solchen Darbietungen und Themen. Doch da beginnt auch schon der Trug. Wojtek K. klagte ĂŒber die Unbildung, den geringen Horizont seiner kanadischen Kollegen. Campus und Karriere (dlf) scherzte heute, dass Humboldt und Einstein alle zehntausend Master-StudiengĂ€nge belegt hĂ€tten, aus Angst, die Hochschule ungebildet zu verlassen. Der ernste Kern: Die seit Jahrzehnten periodisch vorgetragenen Sorgen um „die Bildung“ oder „Allgemeinbildung“, auch um das „BildungsbĂŒrgertum“ kreisen um eine vertrocknete Mumie, deren Tod bereits in der Barbarei des Ersten Weltkriegs festgestellt werden konnte. Eine ideologische Schlangenhaut, irgendwann im 19. Jh. abgestreift und seither verschrumpelt.

Weder ideell noch materiell befĂ€higt „Bildung“ zur Teilhabe am modernen Konsum. Sie stört bei der notwendigen sensiblen Anpassung. Muss man wirklich auf einer Karte zeigen können, wo man seinen letzten Urlaub verbracht hat? Wieviel Leute auf der Welt mĂŒssen wirklich die Orientierungs-FĂ€higkeiten besitzen, an denen zum Beispiel in der ersten Pisa-Studie unsere jugendlichen Migranten scheiterten? Warum sollen nicht auch MĂ€nner formvollendete Hostessen sein? Die erweiterte Schulpflicht dient zu einem guten Teil als Verlegenheitslösung der ÜberbrĂŒckung einer vorzeitigen Arbeitslosigkeit, andernfalls wĂ€re sie wirklich noch fĂŒr das Lernen konzipiert. Die angemessenen Begriffe sind aber: Beschulung, Schulung, Anlernen, Training, Dressur, Briefing….

In Asien fand ich lange schon die Modelle fĂŒr hĂ€ssliche, vermeintlich systemwidrige – darin tĂ€uschte ich mich – Entwicklungen bei uns. Als skandalös empfand ich das Rattenrennen japanischer Kinder, um in die privilegierteste Institutionen zu gelangen, aus denen man dann in jungen Jahren von den Großkonzernen gepflĂŒckt wurde – sozusagen als intellektuelle Unschuld (wenn auch sonst verderbt). Oder das Knock-out-System nachkolonialer afrikanischer Schulen, das auf dem einzigen „gymnasialen“ Schulweg „Schulversager“ produziert und selbst den vermeintlich Erfolgreichen kaum Lebensperspektive anzubieten hat. Die Entwicklung in Deutschland lĂ€uft auf eine Kombination beider Modelle hinaus. Und ich bin ĂŒberzeugt: Sie sind lebensfĂ€hig.

Denen, die auf ZusammenbrĂŒche hoffen (‚UNA-Bomber’ Kaczynski), kann ich nicht folgen. Das wĂ€re zu schön. Das ist verkappte Revolutionsromantik. (LINK)

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Ich entdecke meine intellektuellen VersÀumnisse:

Die Alarmzeichen immer noch nicht deutlich genug erfasst zu haben. Es lag nicht allein an der schlechten Poesie der FlugblĂ€tter wie „Freiheit stirbt scheibchenweise“ oder an durchsichtigen Partikularinteressen. Das Leben ist zwar keine Dauerwurst, aber ich wollte die dunklen Wolken, die sich um uns zusammengezogen haben, nicht wirklich wahrhaben. Und so habe ich mir bis heute ein heiteres GemĂŒt bewahrt und einen guten Schlaf. Mich sperrt man nicht in erbĂ€rmliche Zellen.

Meinen Beruf hĂ€tte ich selbstverstĂ€ndlich nicht mehr ertragen, meine einzige bemerkenswerte Lebensleistung also nicht erbringen können. Ich habe zwar verschiedentlich von der Knarre getrĂ€umt, aber was sagt mir das Beispiel Kaczynskiy? – No way.

– „Deine Lebensleistung? Wie, du?“

– Nun, nicht die ertrĂ€umte „politische“, emanzipatorische! Aber die menschliche und zugleich (ungern gebe ich es zu) traditionsbewahrende, mit meinen bescheidenen KrĂ€ften.

Selbst wenn ich die wenigen Zeitfenster zu breiterem Einfluss in der Lehrerschaft (etwa in Lehrertfortbildung und Unesco-Gruppe) hĂ€tte nutzen können, es wĂ€re auch auf dieser Ebene nicht anders gewesen. „Wage zu denken…“ – also nicht weltbewegend.

 

 

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