Skandal um die Weihnachtsgeschichte

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Eine Weihnachtsgeschichte – Volker Erdelen / Paul Pfeffer

Literarischer Vandalismus – Halbstarke verprügeln wehrlose Weihnachtsgeschichte‘ – Bericht von einer Pressekonferenz

aus der Vordertaunuszeitung vom 7.1.2013 – de          

 

        Volker Erdelen/Paul Pfeffer :  Eine Weihnachtsgeschichte

Sie waren an Heiligabend auf der A4 unterwegs in Richtung Berlin, und zwar in Joes altem Ford, der zeitweise nur noch auf drei Zylindern lief, sich aber trotzdem noch bewegte. Joe war nur dabei, weil ohne ihn und seinen Ford gar nichts gelaufen wäre. Warum Paul nach Berlin wollte, war nicht so ganz klar, seine Familie lebte in Frankfurt, und er brauchte wohl dringend mal ein bisschen Abstand. Und Mirjam hatte festgestellt, dass ihre Asylberechtigung über Weihnachten ablaufen würde, sie brauchte dringend eine neue, und da die alte in Berlin ausgestellt worden war, war es doch praktisch, wenn sie mitkam.

Während Paul und Joe über den günstigsten Weg diskutierten, räkelte sich Mirjam auf der Rückbank. Es war erst kurz nach Mittag, trotzdem schien es schon wieder Nacht werden zu wollen, irgendwie wurde es sowieso nicht richtig hell. Dazu fragte sie sich, ob sie schwanger war – ihre Tage waren schon länger überfällig – und wenn ja, von wem und wieso… In ihrer Handtasche befanden sich zwei handliche kleine Cognacflaschen, die eine war halb voll, optimistisch gesehen, die andere dagegen praktisch leer, wie man´s auch drehte und wendete. Und sie war fest verkorkt, weil drinnen ein Eiliger Geist randalierte. Der war ihr noch kurz vor der Abfahrt erschienen und hatte sie mit irgendwelchen Infos belämmert, und weil keine Zeit war, um sich genauer mit ihm zu befassen, hatte sie ihn unter einem fadenscheinigen Vorwand in die Flasche gelockt und diese, als er drin war, kurzerhand mit einem alten Weinkorken verschlossen, obwohl sie bei der Gelegenheit feststellte, dass noch ein Rest Cognac am Boden schwappte, ein halbes Schnapsglas voll, vielleicht auch weniger.

Eigentlich hatte sie morgens um neun Uhr losfahren wollen und nicht erst gegen zwei, aber Joe hatte es einfach nicht gebacken gekriegt, den alten Ford reisefertig zu machen, seine Sachen zusammenzuklauben, zu tanken, den Müll rauszustellen und sich von seiner Susi loszueisen, die Mirjam insgeheim nur die Transusi nannte. Joe war in der Hinsicht nicht viel besser. Paul dagegen war gestiefelt und gespornt gewesen. Als sie ihn abholen kamen, war er praktisch ins fahrende Auto gesprungen, hatte gerufen: “Gib Gummi, Alter!” und sich erst mal einen Joint angezündet, wovon Mirjam neuerdings immer schlecht wurde. Sie überlegte sich noch, den beiden von dem Flaschengeist zu erzählen, der gut hörbar in ihrer Handtasche herumpolterte, aber in Joes Uralt-Ford in voller Fahrt fiel das nicht weiter auf, und dann hätte sie auch so laut schreien müssen. Sie öffnete das Fenster einen Spalt, hüllte sich in eine alte Pferdedecke, die auf dem Rücksitz rumlag, und war mir nichts dir nichts eingeschlafen.

Irgendwo im Nirgendwo hinter Herleshausen, an einer Autobahnraststätte wie jeder anderen, aßen sie ein Stück Käsekuchen und tranken Kaffee, und Paul wechselte Joe am Steuer ab. Der Verkehr war hektisch wie immer, wenn das Fest der Liebe nahte. Endlose Lichterketten in Weiß und Rot auf nassem Beton, keine Schneeflocke weit und breit, und der Stern von Bethlehem wäre mit Sicherheit, wenn er denn geschienen hätte, im bleigrauen Wolkenmeer abgesoffen. Die Fahrt zog sich. Gegen halb sieben erreichten sie die Stadtgrenze von Berlin, kurz vor halb acht waren sie an der Dankwartstraße vor dem Amt für Asylantragsgewährungsverlängerungen, das selbstverständlich schon seit einer ganzen Weile geschlossen war.

“Wir hätten doch um neun losfahren sollen”, maulte Mirjam, der saukalt war, weil sie ihre Winterjacke in Frankfurt vergessen hatte und, da sie nicht in Joes Pferdedecke gewickelt auf dem Amt erscheinen wollte, in ihrem dünnen Pulli im Nieselregen stand und sich fragte, ob es wohl was nützen würde, die Amtstür einzutreten. Das entsprechende Schild legte das nahe – ‚Bitte einzeln eintreten’, stand da – aber sie ließ es trotzdem bleiben.

“Und nun?” fragte Paul, wie immer der praktischste von allen. “Also, ich könnt ja jetzt ’ne Currywurst vertragen und ein Bier oder zwei oder drei, keine Frage.”

Er zog Mirjam sanft von der Amtstür weg und ins Auto, bevor sie doch noch irgendwelchen Blödsinn anstellen konnte.

“Und wo sollen wir schlafen?” fragte Joe. “Jede Wette, dass alles ausgebucht ist.”

“Das ist Berlin, Mensch!” stellte Paul zufrieden fest, “hier brauchste nich schlafen, hier geht’s voll ab!”

Nichtsdestotrotz, so gegen vier Uhr morgens stellten sie einhellig fest, dass das Fassungsvermögen an Bier, Currywurst und Nachtleben erreicht war, und ein Schlafplatz war nicht in Aussicht. Ein völlig zugekiffter Punk erzählte ihnen in einem Jazzclub von der Wiese am Ende der Heinrich-Seidel-Straße, da gäbe es einen alten Kiosk, der wäre zwar von Zeit zu Zeit als Schafstall in Benutzung, von so einem Schwachkopf von Hobbyschäfer, aber trocken und ruhig wäre der, weil: besetzte Häuser, das wär alles nicht mehr so wie in den goldenen Achtzigern, und er erklärte ihnen den Weg dahin.

Es war zweifellos eine der dunkleren Ecken von Berlin, keine Straßenlampen, keine Häuser mit Weihnachtsbeleuchtung, nichts von alledem. Ziemlich trostlose Gegend. Und hätte Paul nicht im Jazzkeller eine der Tropfkerzen mitgehen lassen, dann hätten sie den Kiosk gar nicht gefunden. Sie kletterten über den Zaun und tasteten sich über die quatschnasse, von Schafen verschissene Wiese. Die Tür hing lose in den Angeln, und eine Wand fehlte teilweise, aber das Dach des Kiosks war noch dicht, und hinten lagen wahrhaftig ein paar Heuballen herum, auf denen man es sich bequem machen konnte.

Den ganzen Abend hatte sich Mirjam über die seltsamen krampfartigen Bauchschmerzen gewundert, hatte das aber auf die Berliner Currywurst geschoben, der sie sowieso nicht über den Weg traute. Aber jetzt wurde es heftig, gerade als man sich zur Ruhe begeben wollte. Kaum hatte sich Mirjam in Joes alte Pferdedecke gewickelt, da platzte auch schon die Fruchtblase, und es ging viel zu schnell, als dass man noch größer hätte wohin fahren können. Außerdem hatte keiner eine Ahnung, wo in der Gegend ein Krankenhaus war. Glücklicherweise hatte Paul im Sanitätskurs auch einen Lehrgang als Geburtshelfer absolviert, das kam jetzt praktisch, und Joe entdeckte im Kofferraum einen alten Campingkocher mit Gaskartusche, Kessel und allem, ein Fass mit Regenwasser stand neben dem Kiosk, und der Verbandskasten aus dem Ford lieferte die restlichen Zutaten, die man für eine erfolgreiche Geburt so braucht, namentlich Schere und Dreieckstücher.

Und so kam es zu der Geburt eines gesunden Jungen, der schon die Augen offen hatte, kaum dass er aus Mirjams Leib draußen war.

„Wir könnten ihn Jesus nennen“, meinte Paul.

„Keine dumme Idee“, sagte Joe, „immerhin haben wir Heiligabend.“

„Ihr habt wohl ein Rad ab“, beendete die frisch gebackene Mutter die Namensdiskussion und griff sich immer noch erschöpft und leicht schockiert ihre Handtasche. Ein Schlückchen Cognac würde ihr helfen, wieder auf die Beine zu kommen, aber in ihrem Tran erwischte sie die falsche Flasche, und unter den ohnehin schon fassungslosen Blicken von Joe, Paul und dem Kindlein zischte der Eilige Geist ächzend und nach Alkohol stinkend ins Freie, fluchte erst mal ausgiebig und schimpfte dann auf Mirjam ein:

“Da hast du den Salat! Ich hab’s gewusst, ich wollte dich vorwarnen, aber man kommt ja nicht zu Wort hier… und das mit dem Kindlein hast du ja inzwischen selbst gemerkt, also, was red´ ich…” Sprach`s, zischte himmelwärts und ward nicht mehr gesehen.

In diesem Moment schwang die rostige Tür auf, und der Hobbyschäfer stand vor ihnen mit zwei Kumpeln und schätzungsweise einem Dutzend Schafen. Die Hirten hatten sich zu Weihnachten gepflegt volllaufen lassen, und unter dem Eindruck des ganzen Weihnachtstrubels und der städtischen Straßenbeleuchtungen war ihnen die Idee gekommen, doch mal am Schafstall vorbeizuschauen, wo es immer recht schummrig und besinnlich zuging, und als sie im milden Licht der geklauten Tropfkerze die Heilige Familie erblickten, da wurde ihnen so sonderbar zumute, dass sie zurück in die Stadt rannten und allen, die sie trafen, davon erzählten, worauf die Leute ihnen empfahlen, künftig nicht mehr so viel zu saufen.

Später fuhren Joe, Paul und Mirjam dann doch noch bei einem lokalen Krankenhaus vorbei, wegen Nachuntersuchung und Geburtsurkunde und so, und dann kam extra jemand vom Amt vorbei und verlängerte Mirjams Asylberechtigung, was vielleicht das größte Wunder von allen war. Aber weil Weihnachten war und wegen der drei netten Reporter von der Bild-Zeitung, vom Spiegel und von der Berliner Zeitung ging das alles ganz locker vom Hocker. Noch im selben Jahr heiratete Mirjam den Joe und hatte ein Verhältnis mit Paul – oder umgekehrt – und das Kindlein wuchs und gedieh und kam später ganz groß raus, aber das ist eine andere Geschichte.

 

 

                         Literarischer Vandalismus

Bericht von einer Pressekonferenz – Aus der Vordertaunuszeitung vom 7.1.2013 – de

Die Täter gehören der Kelkheimer Autorengruppe an. Volker Erdelen, Jahrgang 1960, ist in Kelkheim inmitten von Streuobstwiesen aufgewachsen und lebt seit 2000 wieder in seiner Heimatstadt. Der Mann ist auch Biologe, Naturschützer, Obstanbauer, Vogelbeobachter, Reisender und Maler. Von ihm liegen überwiegend unveröffentlichte Geschichten, Gedichte und Romanfragmente vor. Der zweite Täter, P.P., hat Rechtsmittel zum Schutz seiner Privatsphäre eingelegt.

Der inkriminierte Text ist am 24. Dezember auf der Roten Couch im Kulturbahnhof Hofheim unter johlendem Beifall des überwiegend männlichen Publikums vorgetragen worden. Wie der Anwalt der Beschuldigten aus der angesehenen Enzyclopedia Wikipedia vortrug, handelt es sich um eine Travestie, also eine Form parodistischen Schreibens, bei welchem der Stoff eines Werkes beibehalten, der Stil aber verändert wird. So kann der Stil der Hochliteratur zu einem niederen Stil werden. Selbst wenn die Autoren eine kritische Absicht nicht nachweisen könnten, stünde ihre Aktion vor Weihnachten unter dem Schutz der Kunstfreiheit. In der improvisierten Pressekonferenz am Landgericht Frankfurt war bei diesem Satz ein Zwischenruf zu hören: „frei von jeder Kunst“. Auch das, konterte der Anwalt, sei Kunst.

Schwerer als solche Erwägungen wiegt der Vorwurf der Blasphemie oder Gotteslästerung, den die Staatsanwaltschaft erläuterte. Darunter wird unter anderem das Verneinen, Verhöhnen oder Verfluchen bestimmter Glaubensinhalte einer Religion verstanden, und zwar nicht bloß von islamischen oder jüdischen Traditionen. Der Rechtsfrieden sei in Deutschland schließlich ohne Ansehen der Person und ihrer Überzeugungen oder sexueller Orientierung gegen geistigen Vandalismus zu schützen. Die besondere Verwerflichkeit der Tat begründet die Staatsanwältin folgendermaßen: Man prügelt brutal und sinnlos auf ein Stück Tradition ein, das bereits hilflos am Boden liegt, wohin es ein maßloser Kommerz und die Intoleranz fanatischer Gruppierungen befördert haben.

Entlastende Argumente in der Person der Täter sieht die Staatsanwaltschaft nicht: Die Täter sind aus dem Alter dummer Streiche längst heraus, Erdelen zudem Naturschützer. Als versierte Literaten sollten beide sich über die Wirkung stilistischer Mittel im klaren sein. Die Taktik des in Kelkheim beheimateten P. P., die Verantwortung auf den Kumpel abzuschieben, werde scheitern. Habe er in der Figur des „Paul“ doch sein stadtbekanntes Alter-Ego eingebracht.

Die Anklagebehörde stützt sich auf die folgenden Punkte: Die christliche Weihnachtsgeschichte sei völlig entkernt worden und löse sich in eine Szenenfolge von geradezu obszöner Banalität auf.

Der anonyme Erzähler gebe vor, hinter die Stirn der Protagonistin blicken zu können. Er klaube sich seine Erzählung wahllos aus Versatzstücken zusammen, schmücke sie mit der üblichen Saisondekoration im vorweihnachtlichen Deutschland aus, reichere sie an mit Berlin-Klischees und Spuren des bürokratischen Sozialstaats sowie den – und das allein wäre strafrechtlich relevant – gängigen Motiven der Weihnachtslegende, wie der unklaren Empfängnis, dem Verkündigungsengel, dem Stern von Bethlehem (als etwas gewaltsam eingebautes Zitat), dem Fluchtmotiv (in verkehrter Reihenfolge), der fehlenden und dann behelfsmäßigen Unterkunft in einem Stall, der Sturzgeburt, zweifelhaften Hirten, den Königen aus dem Morgenland (in Gestalt von Medienvertretern) und schließlich der Bestimmung des Jesuskindes, die hier auf Talmi-Prominenz zusammenschrumpft.

Die auftretenden Figuren hätten bis auf ein oder zwei Attribute, die sie zu lächerlichen Zerrbildern der Originale machten, nichts mit der ehrwürdigen Legende zu tun: Da sei Joe, dem in Gestalt von Paul ein richtiger Mann zur Seite gestellt werden solle und Mirjam, eine schlampige Person, die einen längst überfälligen Kontakt zu Meldebehörden in Berlin und vor allem ihre Schwangerschaft verschlafen haben wolle. Sie sei schwere Alkoholikerin. Man sei zu Dritt mit einem klapprigen Auto unterwegs in die fremde Hauptstadt, man improvisiere, von der Situation heillos überfordert, aber dieser Typ Mensch falle ja immer auf die Füße.

Als ob die Verunglimpfung des irdischen Personals nicht ausreiche, werde der Heilige Geist, also der Gott der Christen selbst, von Mirjam in einer halbvollen Cognac-Flasche eingesperrt, damit zum lärmenden Flaschengeist mit ordinärer Sprache travestiert und quälend lange mit achtundreißig prozentigem Alkohol kontaminiert, also verunreinigt. – Eine klassische Form der Verhöhnung, aus antisemitischen Machwerken bestens bekannt.

Der zufällig anwesende Stadtpfarrer von Kelkheim, Franz Streuobst, meinte dazu nach der Pressekonferenz: Schlechtes Kabarett. Man desavouiere die kritische Satire, verunglimpfe jede Spiritualität. Man habe wohl ganz abgebrüht sein wollen und stehe jetzt mit offenem Hosenlatz da.

Nach Ansicht eines eigens angereisten Literaturwissenschaftlers der Universität Bethlehem wäre es für die Literaten und Künstler endlich Zeit, den typisch deutschen Reflex zu überdenken, die Mehrheitsgesellschaft und ihre Werte gedankenlos anzupinkeln. Er rechnet mit einem Urteil, das Zeichen setzt. Jeder Verweis auf Pussy Riot  verbiete sich von selbst.

Der Prozessbeginn ist auf Mitte Juni angesetzt und bereits auf drei Termine angelegt. Es sollen einige Zeugen gehört werden, darunter wenn möglich auch Mirjam, Joe und Paul.

 

 

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