Billy Wilder baut eine Brücke – „Das Appartment“ (1960)

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Eine Anthropologin schrieb mir dieser Tage: „Sie sprechen düster über Fortschritt. Ich wurde 1960 geboren und bin im Glauben an sozialen Fortschritt aufgewachsen, nicht nur an medizinischen Fortschritt. Es war schwierig, mit der Korruption der menschlichen Natur umzugehen. Die Religionen haben Recht – es ist ein unendlicher Kampf mit Narzissmus, Gier und dem Wunsch zu dominieren. Die Antwort der Pende (R.D.Congo) darauf ist, dass wir alle umkommen werden, wenn wir nicht durch Liebe vom Abgrund zurückgehalten werden. Es ist keineswegs so, dass die Menschen ihre Ältesten von Natur aus respektieren, sie haben nur Angst vor dem, was sie tun werden, wenn sie nicht respektiert werden und Zuneigung gezeigt bekommen.

Es gibt definitiv viele Ähnlichkeiten mit den 60ern-70ern … und auch den 90ern. Aber als Frau muss ich sagen, dass es VIELE Fortschritte gegeben hat. Schon seit meiner Zeit als Assistenzprofessorin ist es für Frauen viel besser. Im Moment wird viel kosmetisch gearbeitet. Wer glaubt, Identitätspolitik werde alles lösen, treibe die Gesellschaft dazu an, muss sich nur den Obersten Gerichtshof der USA ansehen. Wie Sie sehen, kann ich die Hoffnung auf eine bessere Gesellschaft nicht ganz aufgeben. (….) Ich werde ermutigt, wenn ich mit Studenten in meinen Kursen spreche. Das war nicht immer so, aber irgendwie sind sie bei Zoom ernst und kämpfen wirklich drum, die Dinge zu durchschauen. Sie werden nicht wie früher von einem ausgedehnten sozialen Leben abgelenkt.“ (Übersetzung)

Ich finde wie zufällig gerade einen Zeitungsausschnitt in meinen Papieren, den Bericht von Andreas Eckert in der FAZ vom 10. Januar 2018 über den Skandal um den Politologen Bruce Gilley (LINK): „Kolonisierer gesucht! – Eklat um einen Aufsatz” (Link zum PDF) . Thema: Entwicklung durch Rekolonialisierung?

Eckert erinnert daran: “Jüngere Darstellungen entwerfen eine Geschichte ebenso vielfältiger wie widersprüchlicher Kooperationen und Auseinandersetzungen. Kolonisierte suchten, wie viele Studien hervorheben, alle nur verfügbaren Ressourcen zu nutzen, welche die Präsenz der Europäer bot. (….) Rassismus, Demütigungen und Gewalt gegenüber Einheimischen waren jedoch immer Teil der kolonialen Ordnung.

Diese Sätze formulieren nur unmissverständlich, was ich seit langem weiß, bauen mir aber jetzt eine Brücke zu gewissen sozialen Bewegungen, deren unangenehme Begleiterscheinungen mir auf den Wecker gehen. Ich hatte sie im Hinterkopf, als ich über die Feiertage einen alten Hollywoodfilm von 1960 anschaute: „The Appartment“.

1960 war ich sechzehn und pubertär. Ich bekomme den Verdacht, dass damals auch die erwachsenen Filmkritiker ihre Probleme damit hatten, ihre Unfreiheit in der ‚Freiheit des Westens‘ wahrzunehmen. Wenn ich mich recht erinnere, waren die Zeitungskritiken kühl, oberflächlich und spielten mit den Motiven ‚Satire’ und ‚Opportunist’, gemünzt auf den männlichen Protagonisten.

Jetzt wird auf dem Bildschirm das gigantische Großraumbüro zur ‚Legebatterie’, zu einer modernen Stallhaltung, die die Menschen herabwürdigt , geleitet von einem skrupellosen Quintett auf dem – sexualökonomisch betrachtet – absteigenden Ast, herausgehoben gegenüber der Masse, abgeschirmt in gläsernen Einzelbüros und exklusiven Einrichtungen für körperliche Funktionen wie Essen oder Toilettengang. Nur der Fahrstuhl erscheint egalitär, aber ist ebenso Teil ihres Jagdreviers.

Wilders Drehbuch blendet die Fortsetzung der Hierarchie nach oben genial aus, um eine kaschierte Despotie zu enttarnen. Je höher unser „Opportunist“ Baxter –  kaum erträglich verkörpert durch Jack Lemmon – aufsteigt, desto tiefer wird er fallen. Seine Privatsphäre im gemieteten Appartment ist durch die übergriffigen Vorgesetzten nur scheinbar weniger radikal beschädigt als die von der körperlichen Integrität nicht ablösbare Selbstbestimmung der Frauen.

Und damit sind wir beim Kolonialismus und der Einsicht: Kolonisierte suchten, wie viele Studien hervorheben, alle nur verfügbaren Ressourcen zu nutzen, welche die Präsenz der Europäer bot. Shirley MacLaine idealisiert ihre Figur keineswegs.

Ist das nicht eine tragfähige Brücke von #ME TOO zum ‚Antikolonialismus’? Der zitierte Brief spricht von „Fortschritten“ und momentan im Gange befindlichen „kosmetischen Arbeiten“.  Was immer ich allgemein von „Identitätspolitik “ halte – Sollte ich sie vielleicht mit größerer Gelassenheit betrachten!

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