Zuerst: 5.März 2019 Neubearbeitung 10.Nov.2019
Zwillingskult
Weit weniger bekannt als der Kult der Ibedji bei den Yoruba, ist dieser Kult weit verbreitet im Umkreis der zentralafrikanischen Seenplatte, im Kongo, Tanzania und Zambia. Hier wie dort geht es um die Beschwichtigung verstorbener Zwillinge, die wie die eigenen Ahnen, aber in noch stärkeren Maße, Hoffnungen und Befürchtungen auf sich ziehen. Schon die Geburt von Zwillingen ist eigentlich wunderbar, aber bedeutet zugleich ein hohes Risiko für Mutter und Kinder. An der Sorge für den überlebenden Zwilling kann das verstorbene Kind genau ermessen, was ihm selber zusteht, in Gestalt einer kleinen Holzfigur herumgetragen zu werden, oder ersatzweise in einem eigenen kleinen Schrein verwahrt zu werden, angesprochen und gefüttert zu werden. Sonst gerät das überlebende Kind in Todesgefahr. (frei nach A.F. Roberts 2008)
Literatur
- E.M. Maurer/A.F. Roberts 1985: Tabwa – A Century of Tabwa Art
- Felix 1987: 100 Peoples…. p.170-171 no.3
- Africa Museum & Horstmann Collection 1995: Dolls for play and ritual p.17/18*
- E. Cameron UCLA 1996: Isn’t S/he A Doll? p.82ff.*
- Van Dyke 2008: African Art from the Menil Collection (A.F.Roberts) no.112
- GalerieBruno Mignot (F 67610 La Wantzenau, LINK) : diverse Tabwa und Mambwe
- S. Paul Berlin 1970: Afrikanische Puppen (zitiert in Africa Museum) – noch nicht konsultiert!
Mein Katalog
Provenienz: collection Wardin Wamba (<wardinms@yahoo.ca>)
Paare:
(1) Rechteckig schmal (16 cm), (2) Rechteckig breit (15,5 cm), (3) Behütetes Paar (20,5/19 cm), (4) Luba mit rundem Hütchen (12 cm), (5) Abstrakt rund mit Ösen (19 cm)
Single: (6) abstrakt, größer
Situation
Diese Figuren sind offensichtlich ein Randthema mit dünner Quellenlage, wenig Objekten (Museum, Sammlung) und knappen Informationen, entweder im Kontext einer Bestandsaufnahme materieller Kunst einer Region (‚Tabwa’ 1985), in Broschüren über Puppen oder bloss vermeintliche Puppen aus dem ganzen Kontinent (1995, 1996) oder als Beitrag zu einer Sammlungsmonografie. Von dem Beitrag zur Menil-Sammlung (2008) des Mitautors von 1985 hatte ich mehr erwartet. Dieser Figurentyp war und ist wohl noch verbreitet. Mein erfahrener Händler hat in den vergangenen Jahren zumindest meine fünf Paare in der Gegend erworben.
Recherchen am Detail
1985 schrieb Maurer (p.151 unter ‚EMM‘):
„Zwillingsfiguren gehören zu den häufigsten vorhandenen Tabwa-Objekten. Als Form repräsentieren sie eine Vielfalt kreativer Lösungen für eine konventionalisierte Form, deren beständigstes Merkmal ein zylindrischer Torso ist, der über runde Andeutungen von Brustwarzen und Nabel verfügt, und eine einzelne senkrechte Narbenlinie. Meist fehlt die Andeutung des Geschlechts und der Torso endet in einer runden Basis gerade unterhalb des Nabels. Der (realistische) Kopf hat große mandelförmige Augen, eine volle runde Stirn und ein ovales Gesicht. Die Frisur ist im Kappenstil der Frauen geschnitzt“ (übersetzt)
Der Idealtyp wäre die unter No. 47 abgebildete Figur, an der Maurer den fein geschnitzten Kopf betont, der dem Bildnis eines bestimmten Häuptlings gleichen soll. An dieser Figur registriert er aber „kleine Brüste (breasts), durch einen Nabel gleicher Größe ausbalanciert“ – vgl. (5) und ein Narbenmuster von zwei Diamanten (153)
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Mein ‚behütetes‘ Paar (3) ist gedrungener, handfester, zieht den Blick des Betrachters auf den üppigen Kopfputz, die kleinen herzförmigen Gesichter, die unten in winzige runde Mundöffnungen münden. Die kleine Frau trägt schwere Brüste, auch der Nabel hat Volumen. Der kleine Mann ist taillierter als die Frau. Das weibliche Narbenmuster deutet Rhomben an, das männliche besteht aus geraden Strichen, senkrecht und waagrecht. Die Form der Torsi ist blattförmig. Die Wirbelsäule könnte damit angedeutet sein. Tabwa oder nicht? Was sonst?
(August: nicht mehr in meinem Besitz)
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Die Nos. 48 und 49 (wie 203 und 204) hat der deutsche Leutnant Glauning 1900 in Moliro am südlichen Ende des Tanganyika-Sees gesammelt. Sie bestehen jeweils aus einer dreistufigen abstrakten Säule, sind schlank beziehungsweise gedrungen und zeigen Andeutungen von Brüsten, Nabel und ein erweitertes geometrisches Muster. Zwei kleine Einkerbungen auf dem mittleren Kegel bezeichnen einen Mund.
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Die Karte S. 51 nennt direkt gegenüber auf anderen Seeseite die Mambwe als Nachbarn und ordnen ihr die Zeichnung einer Zwillingsfigur von rechteckigem Grundriss zu.
Der Katalog der Menil-Collection no.112 stellt genau diesen Typ vor mit der Besonderheit, dass an der obersten Stufe eine hinreißende Frisur aus Wollfäden (fiber coiffure) befestigt ist. Ich denke an die Frisuren von Puppen und Mädchen der Bagirmi am Chad-See. „Dolls for play …“ zeigt p.30 eine solche Puppe mit geschnitzter Frisur, aber auch ‚Puppen’ mit angebundener Frisur: Mwila aus Angola (p.16), Ntwana aus Angola (p.34) und weitere!
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Der Schmuck wäre auch für drei meiner Zwillingspaare denkbar, wenn sie dafür nicht zu klein sind – im Verhältnis zu den 23 cm von (no.112). Überdies haben die größeren Figuren (6) unten an der Basis eine Öse.
Bleibt die Frage nach der Herkunft beziehungsweise dem Stil!
Die Grundfläche von (6) kann noch als ‚rund’ durchgehen, aber (2) und (3) nähern sich trotz ihrer die Rundungen betonenden Körperlichkeit stark dem Rechteck an.
Wie schrieb Maurer: „Als Form repräsentieren sie eine Vielfalt kreativer Lösungen für eine konventionalisierte Form …“ An der Stelle hilft uns „Tabwa“ nicht weiter, auch nicht weitere Objekte im catalogue raisonné.
Indem sie an die Einleitung von „Tabwa“ (1985, pp.5-8) erinnert, kommt uns Liz Cameron zur Hilfe: „Der Stil dieser Figuren variieren stark bei den als Tabwa und Luba bekannten Völkern, irreführend monolithischen ethnischen Begriffen, die viele Völker mit unterschiedlichen künstlerischen Traditionen umfassen.“ (1996, p.82, übersetzt)
Sie verweist auf Narbenmuster an Luba-Zwillingsfiguren, die solchen der Tabwa gleichen. Diese finden sich nicht bei meinen Figuren, wohl aber die pilzförmigen Kopfbedeckungen und ihre nach außen gebogenen vier Stützen, die den Oberteilen des Paares no. (5) gleichen.
Schauen wir diese kleinsten meiner Zwillinge genauer an. Auf kreisförmiger Grundfläche ist die Kegelform der Torsi durch männliche bzw. weibliche Ausstattung extrem körperlich.
Wenn die geschnitzten Pilzköpfe aus dem Bereich der Luba eine bestimmte Frisur bedeuten, so sind sie zweifellos auch phallisch. Die angedeuteten Frisuren auf der männlichen wie der weiblichen Halbkugel lassen sich als Anspielungen auf Eichel und Klitoris lesen.
Mit dem Phänomen der gekrümmten vier Beinchen und den Zwischenräumen, an der Stelle, wo man ein Gesicht, einen Kopf erwartet, konnte ich nichts anfangen. Etwas Insektenhaftes haftete ihm an.
Wenn wir an die Beine energiegeladener afrikanischer Skulpturen denken, so sind sie sprungbereit oder auf dem Sprung. Lässt sich dieses Element übertragen?
Wie war das noch mit den Querverbindungen und Gemeinsamkeiten zwischen Tabwa, Luba und Mambwe?
An (1) und (2) sind die abstrakten Grundformen ebenso üppig mit Sexualorganen – drei Venusberge, ein Phallus – ausgestattet wie die Luba mit dem Pilzkopf, dazu noch mit schwangeren Bäuchen. Eine Figur (1 weiblich) endet unten in eingeschnittener Klitoris und trägt drei durch Kerben gebildete Schmucknarben.
Der Händler hat sie immer als ‚Luba’ ausgegeben! Vielleicht haben ihre aufeinander stehenden kurzen Zylinder und Kegel ebenso wie die bei „Menil“ aufgesteckte geflochtene Halbkugeln getragen?
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Die Paare (1) und 2) waren erfolgreich bei allen Bekannten und Freunden, denen ich sie zeigte, als formal überraschende, weil spannungsreiche, und perfekt patinierte Handschmeichler. Wir haben darüber spekuliert, was die Form wohl bedeute. Wir kamen auf die Generationen, die aus einander hervorgehen.
Kommen wir zurück zu Allen F. Roberts’ Gastbeitrag für die Menil Collection. Ist das ‚Stand der Forschung‘ fünfundzwanzig Jahre später?
Zu „Luba twin figures“ schreibt er 2008: „Very few of the latter are known“. Er erwähnt dann eine belgische Privatsammlung, das British Museum und Berlin. Er nimmt sich die Monographie von 1985 noch einmal vor und vergleicht no. 207 und 208 mit dem Objekt in „Menil“, um festzustellen: „sehr ähnlich“, „Ursprung bei den Mambwe wahrscheinlich“. (112)
An der Ikonographie des Objekts sieht er eine Ungereimtheit: „Tabwa und andere Zwillingsfiguren aus der Region besitzen betonte Nabel, um die Verbindung zur Mutter und zur mutterrechtlichen Abstammungsgruppe (matrilineage) zu unterstreichen, aber das Menil Beispiel zeigt einen Bruchnabel, wie man ihn an unterernährten Kindern sieht.“ (Übersetzung)
Ich frage mich: Warum will oder kann er nicht davon abstrahieren im Namen der künstlerischen Freiheit zur Übertreibung? Oder übersehe ich darin etwa eine Botschaft?
Im Narbenmuster erkennt Roberts das von der „interethnischen Butwa Initiationsgesellschaft“ verwendete Muster wieder.
Er geht darauf (p. 224 zu cat. 114,115) bei zwei Ahnenfiguren ein. Butwa war bis anfang des 20. Jahrhundert einflussreich, und nach der philosophischen und künstlerischen Auffassung und den Methoden der Konfliktlösung vergleichbar mit der Bwami-Gesellschaft unter den Lega.
No. (6) soll Azande sein? Bis auf weiteres lieber ‚Luba’!
Ersteres behauptet der Händler und: „Fruchtbarkeitsfigur“, aber damit haben die Zwillinge auch zu tun.
Zum Luba-Typ passt der pfostenartige Aufbau aus abgeschnittenen Kegeln mit runder Basis.
Anstelle von aufgesetzten Körpermerkmalen ‚vermenschlichen’ nur zwei Perlenschnüren an ‚Fuß’ und ‚Taille’ den abstrakte, bereits im Torso zum quadratischen Grundriss tendierenden Bau.
Das beim Luba-Typen (5) vorkommende Oberteil unterscheidet sich durch seine vorspringende Grundplatte, dicke und kurze gebeugte Beine und die Kristallform des Daches.
Diese Unterschiede lassen sich allein aus dem höheren Grad an Abstraktion herleiten, können also ikonographisch unerheblich sein. Ich bleibe bei Luba.
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Wie offen die Deutung selbst einer standardmäßigen ‚Tabwa’-Pfahlfigur bleiben muss, zeigt die von Felix („100 Peoples…“) gebotene Erklärung: „doll figures (3), used by a female initiation society“.
Woher hat er die Erklärung denn? Und ausgerechnet für das Modell der „Zwillingsfigur“, zu der ich mir alles so schön zurecht gelegt habe?
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Die Abbildungen auf Bruno Mignots Webseite (LINK oben) sind geeignet zur Erweiterung des Horizonts nach Osten, besonders seine ‚tansanische’ Stuhlfigur:
Und B. Jägers ‚Mambwe‘ öffnet mit ihrer Größe und ungeschlachten Kraft eine weitere Dimension.
Link zu einem Figurenpaar der Banda, das in der ersten Fassung diskutiert wurde, aber nicht Zwillinge, sondern den Naturgeist Ngakola mit seiner Frau darstellt.