Flusser als Kunsttheoretiker ….

|

Rezension von: Marcel René Marburgers Kölner Dissertation über „Flusser und die Kunst” Edition _ I/f/u/S, Köln 2011, ISBN 978-3-9814246-0-7, 214 Seiten, 24 €

Marcel Marburger formuliert zupackend. Mit großem Elan und trockenem Witz sind Vorwort und Einleitung verfasst.Flussers Biografie und Rezeptionsgeschichte sind selten so prägnant dargestellt worden. Die Sekundärliteratur und Editionspraxis werden nicht ohne boshafte Spitzen präsentiert. Seine präzisen Hinweise zu vielen im Archiv versteckten Texten machen Spaß und wecken den Wunsch, ihnen selber nachzugehen. Das Fundament seiner Darstellung bilden nicht etwa längst bekannte Werktitel, sondern die in Berlin archivierten fast zweieinhalbtausend publiziertenund unpublizierten Texte Flussers, was er eigens hervorhebt. Marburger hat an einer maximalen Deutlichkeit und Klarheit der Darstellung gearbeitet. Er benennt auch Brüche und andere Schwächen in den referierten beziehungsweise rekonstruierten Argumentationslinien.

Theoretiker

Flusser und die Kunst – Das Thema weckte bei mir unbestimmte Neugier und Hoffnung auf eine weiten Ausblick, worin sich womöglich auch gelegentlicher Ärger über Flusser – anlässlich von Einzelstudien – in Wohlgefallen auflösen würde. Solche Erwartungen an das einbezogene Archivmaterial werden enttäuscht. Dabei war eigentlich klar, dass Flusser sich nur am Rande theoretisch mit Kunst beschäftigt hat. Marburger zählt „etwa 70 kunstrelevante Texte“ (154) unter den fast zweieinhalbtausend Dokumenten in Berlin, die meisten aufgrund des Umstandes, dass sie in Kunstzeitschriften erschienen sind – nach dem Erfolg Flussers 1983 mit dem schmalen Buch Für eine Philosophie der Fotografie. Marburger spricht von „einem Klima, in dem der Kunstdiskurs sukzessive um medientheoretische Themenfelder erweitert“ wurde. Dieser Umstand habe Flusser späten Ruhm und „seine Reputation als Kunsttheoretiker“(158) eingebracht. Er werde heute „als ein Theoretiker wahrgenommen, der sich an der Schnittstelle zwischen Medien- und Kunsttheorie bewegt hat.“ (9)

Diese Reputation ist wohl nicht unbestritten. Marburger beklagt bereits im Vorwort (10) einen geringen Nachhall Flussers „in der akademischen Welt“. Zwar fänden seine Publikationen in Kunst- und Designhochschulen zunehmend Beachtung. „In der geisteswissenschaftlichen, universitär geprägten Lehre“ werde er jedoch kaum behandelt. Es ist schade, dass die Arbeit ihr Gegenüber nicht konkreter benennt, dem Leser nicht einmal die flüchtigste Skizze möglicher Schnittstellen zur aktuellen Kunsttheorie – wie auch der Kunstpraxis – bietet. Zumindest für den Uneingeweihten steht sie damit irgendwie im leeren Raum. Zudem gibt es eine auch Menge vitaler Künste außerhalb des von Flussers favorisierten apparat-kritischen Horizonts: etwa Theater, Tanz, Musik, Poesie und deren mannigfache oft performative Verbindungen, sowie eine unverdrossen lebendige Literatur. Zum Schreiben hätte Flusser eine Menge zu sagen.

Die an der Philosophischen Fakultät der Universität Köln eingereichte Dissertation soll auf andere Weise die Situation verbessern: die bisher teilweise verborgenen „kunsttheoretischen Werkteile erstmalig erarbeiten und verständlich machen“ und zugleich „eine fundierte Einführung in sein Denken bereitstellen“ (12). Das ist zweifellos gelungen. Marburger komprimiert beispielsweise rund zweihundert Seiten der Kommunikologie auf sieben spannende Seiten. Wir begegnen zum einen Theoriekomponenten wieder, für die Flusser bekannt ist: der Kommunikationstheorie (II.1) und dem medienchronologischen Modell mit den Begriffen Nachgeschichte, Technobildern und Technoimagination (II.2). Im Abschnitt „Kunsttheorie“ steht die „neue Einbildungskraft“(IV.1) und Flussers kompliziertes Konzept von „Dialog“ (IV.2) im Zentrum. Marburgers Darstellung wird dabei durchgängig gesäumt von Floskeln, die eine gleichbleibend freundliche Distanz signalisieren – wie „laut Flusser“ oder „nach seiner Überzeugung“. Wenn er von Zeit zu Zeit eigene Fragen, Einwände oder Positionen markiert, dann eher knapp in gedrängten Sätzen, die in abschwächenden Manövern münden. Ich möchte nicht ins Anekdotische verfallen, aber an zwei Punkten näher hinschauen: Als Flusser im Kapitel „zeitbasierte Medien“ (III.2) den Generalverdacht gegen die Filmschaffenden erhebt, sie hätten das „Medium ungenügend verstanden und unzureichend eingesetzt“(97), nachdem er bereits das Kinopublikum als Kollaborateure eines Apparats beschimpft hat, „von dem sie wissen, dass er daran ist, sie in passive Empfänger, in ausgedehnte Sachen, in Masse zu verwandeln“, (97) vermutet Marburger lakonisch bei Flusser die „Unkenntnis der Werke etwa von Jean-Luc Godard oder Vertretern des künstlerischen Films“ (99). Im Kapitel über die Fotografie allerdings leiht er konkurrierenden Theorieansätzen (Susan Sontag, Roland Barthes, Edward Weston, Wilfred Wiegand) über mehrere Seiten seine Stimme.

Ist vielleicht bei der langen Front Flusserscher Argumentation in einem solchen Überblick gar nicht mehr an Diskussionsimpulsen unterzubringen?

FLUSSER STUDIES  S. 3

Apparatlose Bilder?

Mein spezielles Interesse wird geweckt, sobald in Flussers bekanntem Widerstandsszenario von „apparatlosen Bildern“ als „stillen Bildern“(IV.1-119) die Rede ist, zumal seine „einseitige Sicht auf die nicht-technischen Bilder “ (116) notorisch ist. „Tatsächlich gibt es für ihn (Flusser) nur zwei Möglichkeiten, sich in der durch die Apparate veränderten Welt künstlerisch auszudrücken: entweder schneller zu rudern als der Bilderstrom, was übersetzt bedeutet, mit den Apparaten zu arbeiten und dabei über deren Möglichkeiten hinauszugehen, oder aber seitwärts zu rudern, und so genannte stille Bilder herzustellen, welche hinterlistigerweise die bilderspeienden Apparate überlisten sollen.“ (119)

Malerei – selbstverständlich abstrakt – oder Zeichnung (vielleicht auch Skulptur?) sollen aber nur unter der Prämisse mitspielen dürfen, dass das „apparatlich Mögliche“ vorab gänzlich erkannt worden ist. […] Im Grunde muss sich also jegliches Kunstschaffen mit der Existenz der technischen Bilder auseinandersetzen und hat nur in Bezug auf diese eine Existenzberechtigung.“

(120) Auf den nächsten Seiten wird jedoch auch diese kleine Lizenz vom Tisch gewischt unter Hinweis auf den „geringen Einfluss“ stiller Bilder – eingesperrt in den „Ghettos der Kunstausstellungen“ und Galerien. (122) Massenwirksame technische Bilder seien ohnehin „die echte Kunst der Gegenwart, aber sie steht im Dienst der verwaltenden Apparate.“ (108)

Kommissar und Kritiker

Die folgende kühle „Chronologie eines kuratorischen Scheiterns“( IV.3) ist bereits im den Flusser-Studies 13 veröffentlicht worden. Das kunstpolitische Projekt der Kunstbiennale in Sao Paulo 1973 schien Flusser die einmalige Chance zu eröffnen, die unter der Militärdiktatur kränkelnde Großveranstaltung für seine konzeptionellen Vorstellungen zu nutzen. Flusser zerstritt sich nicht bloß mit den Organisatoren, sondern brachte auch die Künstlerszene gegen sich auf. Neunzig Prozent der sich bewerbenden Künstler wies er zurück. Seine Beiträge zu Tagungen und Symposien in späteren Jahren zeigen ihn desinteressiert an abweichenden Perspektiven und Argumenten seiner Gegenüber. Marburger beschreibt eine Begegnung mit Fotografen 1981 (76-78), an der übrigens Flusser und Müller-Pohle sich trafen. Im von Marburger zusammengestellten Konvolut der etwa 70 „kunstrelevanten Texte“ befinden sich lediglich „dreizehn Essays, die sich zu konkreten Kunstwerken oder Ausstellungen äußern“(161). Man wünschte sich wenigstens die unpublizierten Texte im Anhang dokumentiert oder eingehender vorgestellt und erörtert! Doch nach Marburgers Feststellungen behandeln auch FLUSSER STUDIES /S.4/ Flussers Kunstkritiken im engeren Sinne fast ausschließlich seine gerade aktuellen allgemeinen Themen. Er lässt sich ohnehin nicht auf die in Werken zum Ausdruck kommenden spezifischen Strategien oder Ausdrucksformen der Künstler ein, ihn interessiert „nur das erzielte Ergebnis“(183). Marburger illustriert dies an Fontcuberta (161) und Andy Warhol (162f.).

Müller-Pohle kann mit der hier vorgestellten Fotoserie Transformance (1983) nicht wirklich als Ausnahme gelten, wenn er als Musterfall für eine „apparatkritische Haltung“ (92) vorgeführt wird. Dass der Fotograf die korrekte Haltung „ohne durch den Sucher zu blicken und ohne scharf zu stellen“ (ebd.) erreicht hat, entbehrt nicht der Komik. Ebenso passen die beiden geschilderten, aus heutiger Sicht naiven Videoprojekte seines Freundes Fred Forest (106f.) Flusser haargenau ins Programm.

Der Anwalt Flussers in Bedrängnis

Während er sich zu Beginn als Vermittler zwischen der akademischen Welt und dem enfant terrible gibt, scheint Marburger immer mehr in die unkomfortable Rolle des Anwalts eines störrischen Klienten zu geraten. Vielleicht bedauert er längst, insgesamt „eine Herangehensweise gewählt zu haben, die auch Flussers eigenen Vorstellungen entspricht“ (12) und Flusser nicht einer ihm fremden Argumentationsstruktur unterworfen zu haben. Im Schlusswort formuliert er ein klares und desillusionierendes Urteil über Flussers kunstkritische und kunsttheoretische Praxis, nebenbei auch über die von ihm praktizierte Phänomenologie: „Obwohl Flusser den häufigen Standpunktwechsel propagiert, kehrt er in den Kunstkritiken fast immer zu einer bestimmten, nämlich kommunikationswissenschaftlichen Sichtweise zurück, während er nur selten andere Theorieansätze verwendet oder – was in diesem Zusammenhang nahe läge – etwa auf kunstwissenschaftliche Denkansätze oder Methoden verweisen würde. Findet kunsttheoretisches Gedankengut dennoch Erwähnung, ist es entweder antiquiert oder so oberflächlich eingebunden, dass es der jeweiligen Analyse kaum förderlich ist. […] In jedem Fall scheint ein Bemühen erkennbar, die Überlegenheit des von ihm bevorzugten Theoriegebäudes zu betonen […] Eine wirkliche Diskussion dieses Sachverhaltes findet allerdings nicht statt, wie auch eine intensive Beschäftigung mit den jeweiligen Werken vermieden wird. Unabhängig davon, wie unterhaltsam und vielleicht auch erhellend Flussers Kritiken im Einzelfall darstellen mögen, drängt sich doch allzu oft der Eindruck auf, dass er weder den ästhetischen Wissenschaften, noch den konkreten künstlerischen Positionen gerecht wird.“ (163f.) Und: „Kunstwissenschaftliche Methoden und Ergebnisse anderer Theoretiker (finden) keine Berücksichtigung.“ (184)  /FLUSSER STUDIES S. 5/   Als ob es noch nötig wäre, Flusser als Kunsttheoretiker zu demontieren, sieht Marburger sich dazu gezwungen, immer wieder einmal auch dessen bekannt „unsystematische und explizit unakademische Art des Denkens“ (11) zur Sprache zu bringen. Gerade sein unablässiges Bemühen, beide Stile auf wissenschaftlicher Ebene zu versöhnen, lässt Flussers Eigensinn umso schroffer hervortreten, deutlicher etwa als essayistische Studien, die Flusser nachsichtig oder ehrerbietig in die Mitte nehmen und so den Leser beflügeln und ablenken.

Probleme und offene Fragen

Die Form dieser wissenschaftlichen Abhandlung selbst scheint mir für die Rezeption Flussers zum Problem zu werden. Flussers Radikalität und die forcierten Einseitigkeiten seiner oft nur versuchsweise eingenommenen Positionen – nehmen in der wissenschaftlichen Rekonstruktion und Zusammenballung einen neuen, aggressiven Aggregatszustand an, erstarren zu einer Doktrin unter anderen. Aus seinen essayistischen Denkbewegungen werden problematische Festlegungen und Begriffsspiele, die in ihren Unzulänglichkeiten den Interpreten Marburger immer wieder Verlegenheit bringen und unter allen möglichen Aspekten zu harten Feststellungen zwingen. Die bei Flusser gewohnte rhetorische Brillanz, seine Selbstironie und sein Schalk sind allenfalls in Spuren wahrnehmbar. Es gibt nichts zu lachen, doch auch keine existentiell interessanten Einsichten – und das beim Thema Kunst – da die hier auftretenden theoretischen Begriffe sämtlich entleert oder umgestülpt erscheinen, so der „Dialog“ – trotz Beschwörung Martin Bubers oder des talmudischen „Pilpul“ – und die „Kreativität“. Diese wird zu einer quantitativ messbaren und vergleichbaren Angelegenheit: „Telefon“ übertrifft „Picasso“ (137). In den Abschnitten IV.1 und 2 zur Kunsttheorie stehen Formulierungen, die sich der Logik des von Flusser perhorreszierten Apparats bedenklich nähern. Ionescos „Die Nashörner“ nicken zustimmend. Wenn ich aber an seine Originalschriften denke, weiß ich, dass das so nicht stimmt. Und er hat bekanntlich den „Funktionär“ als inhumanen Zeitgenossen beschrieben. Doch warum hat er dann ausgerechnet „die künstlerische Äußerung nicht als individuellen Akt, sondern als unspezifischen Bestandteil der Kultur“ (183) konzipiert, nur um in der Manier eines Feldherren mit der künstlerischen Vorgehensweise „in kommunikative Strukturen einzugreifen“ (ebd.)? Der Versucher, der Teufel, mit dem er schon in Brasilien kokettierte, übte eine unwiderstehliche Faszination auf ihn aus. Anders kann ich es mir nicht erklären, dass er ausgerechnet die Kunst und die daran engagierten Künstler zum Schauplatz und Personal seines fiktiven Großen Strategischen Plans degradierte.

FLUSSER STUDIES S. 6

Marburger bietet hier eine Erklärung für das Desaster bei der Kunstbiennale in Sao Paulo: Für Flusser waren bei der Auswahl der künstlerischen Positionen „nicht die Werke selbst, lediglich ihr Nutzen in seinem konzeptuellen Gesamtgefüge relevant“ (183). Bedenklich finde ich daran nicht die Programmatik einer Menschheitsbeglückung, sondern die Rolle der Künstler als abhängige Zuarbeiter diktatorischer Kuratoren und ihrer konzeptionellen Beraterstäbe. – Was unterscheidet ihre Situation eigentlich von den kreativen Menschen im Bauch der großen Konzerne? Der moderne Kunstbetrieb praktiziert Flussers Muster, mit dem Unterschied, dass Flusser als Großkurator scheiterte und zeitlebens nur wenige Mitstreiter in der Kunst fand, mit denen er in der Regel auch befreundet war.

Marcel Marburgers Studie hinterlässt bei mir letztlich einen zwiespältigen Eindruck. Sie stellt ihr Thema reflektiert und konturiert dar, aber hat sich gleichsam in Vilem Flussers Archiv eingesperrt. Ist es also ihm „lediglich darum (gegangen), Flussers vorhandenes Theoriegebäude in Bezug auf eine erweiternde Ästhetik darzustellen“? (180) Auch im vorletzten Kapitel, den Vorüberlegungen „Für eine phänomenologische Kunstkritik“ (V.), macht Marburger keinen erkennbaren Schritt auf die Kunstwissenschaften zu. Dem „kunsthistorischen Wissen“ wird ein abgegrenzter Bereich unter Auflagen eingeräumt – schon wegen seiner „die Erkenntnismöglichkeiten einschränken(den)“ wissenschaftlichen Methoden (177).

Den Künstlern werden Versprechungen gemacht, die auf das Gegenteil von Flussers bekannter Praxis hinauslaufen. Versprochen wird die kunstkritische Auseinandersetzung „in einer pendelnden Bewegung zwischen kritischer Distanz und möglichster Nähe“ und „möglichst vielen Arbeitsgängen“ (178f.). Der Entwurf einer „auf Flusser basierenden phänomenologisch motivierten Kunstkritik“ (177) trägt sichtlich schwer an der Hypothek, „in seinem (Flussers) Werk nur angelegt“(180) zu sein. Mein Vertrauen hat er nicht. Es bleibt zudem die Frage offen, ob über „Flusser und die Kunst“ nun wirklich alles Nötige gesagt ist. Für die Zeit nach 1972 – also von der Kunstbiennale an – möchte ich am Ergebnis nicht rütteln, so ernüchternd ich es finde. Was immer Flusser im Jahrzehnt zuvor in Sao Paulo zur Kunst geschrieben hat, er hat es nicht in sein persönliches Archiv, das schließlich nach Berlin gelangt ist, einbringen können oder wollen.

Ricardo Mendes gab 2006 auf der Tagung in Germersheim – „Das Dritte Ufer“ – eine vorläufige Antwort aus brasilianischer Perspektive: Flusser habe selbst bisweilen daran erinnert, dass er eigentlich kein Kunstkritiker war. Er habe zwar in den 1960er Jahren regelmäßig Essayszur Kunst publiziert, doch „standen sie letztlich hinter anderen Themen zurück.“ (Das Dritte Ufer: 160) Auch sein Kontakt zu Kunstkreisen sei eher auf passive Weise durch Künstler in seinem Freundeskreis zustande gekommen. „Im übrigen schrieb Flusser auch über Kino und Theater, doch blieb dies ein episodischer, nebensächlicher Gestus.“ (ebd.)

FLUSSER STUDIES  S.7

Ein nebensächlicher Gestus? – Brasilianische Archive können helfen, die Frage zu beantworten. Vielleicht kehrt sich damit die übliche Betrachtungsweise um, die das Spätere immer für das Reifere halten möchte. Vielleicht auch nicht.

Künstlerfreund

Mendes nennt als brasilianische Künstler und Freunde Flussers ausdrücklich Samson Flexor und Mira Schendel, von der er sagt, dass Flusser mit ihr seinen wichtigsten konzeptionellen Dialog pflegte. Werfen wir einen raschen Blick in Flussers literarische Autobiografie „Bodenlos“. Er porträtiert darin Mira Schendel mit ungewohnter Sensibilität. Flusser spricht hier von einer Geduld, die er sonst eigentlich nicht habe (197). „Der Dialog mit ihr verläuft in einer Fieberkurve – sowohl hinsichtlich seiner Intensität als auch seiner emotionalen Ladung“ (197) Er schreibt dies einzig „Miras Charakter“ zu. Für Mira sei er „ein echter Kritiker“ gewesen, er habe ihr Werk beeinflusst. Sie teilen die Überzeugung einer „Durchsichtigkeit“ und „Gegenstandslosigkeit der Welt“ (199). Mira Schendel – eine Entwurzelte wie Flusser – arbeitet konzeptionell wie ästhetisch mit der Faszination der Buchstaben angesichts einer „letzten Bedeutungslosigkeit“ der Welt (201). Er formuliert ihr künstlerisches Programm: „Ein Aspekt der Welt der Gedanken ist heute, dass sie unvorstellbar wurde. […] Eine neue Art von Vorstellungskraft ist dazu nötig, und diese neue Art will Mira für uns mobilisieren.“ (205) Flusser beschreibt im Manuskript sogar zwei konkrete Werke und seine Reaktion darauf. Es sind Geschenke Miras an ihn, und er lebt mitihnen in seiner Wohnung, mit Werken einer „plastischen“ Künstlerin (200), auch wenn das erste in zwei Acrylplatten mit eingelegten beschriebenem Papier besteht, das zweite in „Heften“ aus „Ölpapier, das taktil an Cellophan erinnert“ (202). Er erlebt deren Aura – „Man hat das Gefühl (und das ist wahrscheinlich ein Symptom für echte Kunst) vor etwas sehr Einfachem und dabei Geheimnisvollen zu stehen.“ (203) Flusser beschreibt seine Erfahrungen mit den Acrylplatten sehr subtil: „ Der Text besteht aus mindestens vier verschiedenen Arten von Zeichen: Druckbuchstaben, lateinischen Schrift-Buchstaben, Zahlen und kalligraphischen Schriftzügen. Diese Zeichen bilden Gestalten, je nach der Blickrichtung des Beschauers […] Manche dieser Gestalten ergeben Worte und Sätze verschiedener Sprachen, wobei man allerdings den Eindruck hat, diese Worte und Sätze irgendwie selbst gebildet zu haben. […] Und bei all dem hat das Werk eine deutliche ästhetische Wirkung: Es fasziniert und fordert heraus, immer wieder entziffert zu werden, von seiner dekorativen Wirkung im Raum ganz zu schweigen.“ (201). Das „Heft“ erlebt Flusser beim Umblättern und Drehen sogar mit dem Tastsinn, „an den Fingerspitzen“, von denen er  – FLUSSER STUDIES   S. 8 –  später – im Essay „Unding 1“ – schreiben wird: sie werden die wichtigsten Organe des neuen Menschen und dabei an etwas wie Touchscreens denkt.

Künstler und Literat

Marcel Marburger beendet sein „Schlusswort“ (VI.) mit einem überraschenden Satz: „Dem Selbstverständnis von Künstlerinnen und Künstlern ähnlich, die ihre Werke herstellen und ausstellen, um innere Vorgänge im Außen zu erfahren und für andere Menschen erfahrbar zu machen, schrieb und sprach Flusser, um seine Gedankenwelt in allgemein zugängliche Gespräche zu überführen. Nicht nur in dieser Hinsicht kann Flussers Werk selbst als schöpferischer Weltentwurf begriffen und er selbst weniger als Wissenschaftler denn als Künstler von uns gelesen und erinnert werden.“ (186) Paul Feyerabend hat in seinen Zürcher Vorlesungen 1982 – „Wissenschaft als Kunst“ – aufgezeigt, wie viel Kunst in jeder normalen wissenschaftlichen Arbeit steckt. Da übertreiben meiner Ansicht nach Flusser und Marburger in ihrer anti-akademischen Attitüde. Seine Kunst des essayistischen Schreibens hat Flusser nie verleugnet, wenn er sich auch mit dem Ausspruch – in seinen Bochumer Vorlesungen – zitieren lässt, es sei heutzutage „geradezu vertrottelt, ein Autor sein zu wollen, also in seinem eigenen Innern die gespeicherten Informationen zu kombinieren, um daraus neue zu machen.“ (128) Für Flussers Situation als Theorie-Architekt und „innovativer Methodiker“(185) ist mir irgendwann das Bild des greisen Antoni Gaudí inmitten seiner Kathedrale Sagrada Familia eingefallen, den erst der Tod aus seiner gigantischen Baustelle erlöst hat.

Witold Gombrowicz, ein Meister des essayistischen Schreibens und übrigens ebenso lange Exilant wider Willen in einem peripheren Land Südamerikas wie Flusser, hat „Kunst“ im „Tagebuch“ so definiert: Sie sei die Erhebung der privaten, besonderen, lokalen, sogar hinterwäldlerischen Konkretheit zu den Höhen des Alls zur kosmischen Dimension. Unter diesem Schirm könnte der bodenlos heimatlose Vilem Flusser ganz sicher Aufnahme, Anerkennung und Ruhe finden. Er wäre dabei in guter Gesellschaft anderer Outlaws des Akademismus. Das Archiv der ungehobenen Schätze Vilem Flussers werde ich nach dieser Erfahrung mit einem geschärften Sinn für die literarische, also künstlerische Qualität des konkreten Textes betreten.

Und ich beginne schon wieder mit Vergnügen in den alten Editionen zu schmökern.

detlev@graeve.org

Der Text erschien als PDF in  den Flusser Studies unter der Rubrik Reviews:  vongraeve-marcel-marburger

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert