Verfasst 29.6./5.9./ 10.10./17.10. 2018
Literatur
-
Thoralf Klein: Die Basler Mission in Guangdong (SĂŒdchina) 1859-1931, ERGA Bd.3, iudicium MĂŒnchen 2002, 48 âŹ
-
Josef Franz Thiel: Jahre im Kongo – Missionar und Ethnologe bei den Bayansi, Otto Lembeck Frankfurt/M 2001 (augenblicklich um 100âŹ)
-
Johannes Harnischfeger: Demokratisierung und islamisches Recht – Der Scharia-Konflikt in Nigeria, Studien HSFK Band 51, Campus Frankfurt/Main 2006
âIn den Bergen Indiens, wo das Schilf wĂ€chst, lebt ein Volk von etwa dreiĂigtausend Seelen. Frauen gebĂ€ren nur einmal in ihrem Leben und ihre Kinder kommen mit weiĂen Haaren auf die Welt. Sie behalten diese Farbe bis zum dreiĂigsten Lebensjahr, dann werden sie nach und nach dunkler, so dass Bart und Haare mit sechzig Jahren so schwarz wie Ebenholz sind. Diese Leute haben acht Finger pro Hand und acht Zehen pro FuĂ. Ihre Ohren sind so lang, dass sie sich berĂŒhren und ihre RĂŒcken und Arme an den Ellenbogen bedecken.â(Photios) (Link)
Die PanotÀer, ein sagenhaftes Volk in der Antike. Wie gut, dass niemand daran dachte, sie zu missionieren. Aber wozu diente ihre Abbildung im 12. Jahrhundert in der Basilika von Vézélay ?
DIALOGÂ Â Â Â Â Â Â Â (frei und frei nach Diderot)
-
Du machst auf mich einen nachgerade niedergeschlagenen Eindruck. Was ist? Hat die christliche Mission denn den Menschen in den Kolonien nicht geholfen?
-
War denen denn noch zu helfen? Ich sehe bloĂ, dass Missionare die Probleme der Leute nur komplizierter machten, weil sie unnötigerweise fremde Normen in gewachsene Sozialbeziehungen einfĂŒhrten. Die Vorschriften der schwĂ€bischen Pietisten in China bedrohten sogar die verwandtschaftlichen Beziehungen und damit materielle Basis der dörflichen Hakka-Familien, die sich dem Christentum zuwandten.
-
Geschah das nicht in der erklĂ€rten Absicht, einen âGewissenskonfliktâ daraus zu machen?  Aber die konnten doch nicht anders, das waren etwa bei der Basler Mission so etwas wie Parteisoldaten mit geringer Bildung und beschrĂ€nktem Horizont.
-
Joseph Franz Thiel berichtet, dass an seinem Missionsseminar St.Gabriel bei Wien nur ein einziger Lehrer je in Afrika gewesen war und dass italienische Nonnen im Kongo ein Abendmahl nur mit importiertem Wein akzeptierten. Undsoweiter. Eine ‚Afrikanisierung des Christentums in Ritus, WortverkĂŒndigung und Kunst‘ (Klappentext) konnte man von einer solchen Truppe nicht erwarten.
-
Wenn man ihnen ja noch persönlich VorwĂŒrfe machen könnte! Aber im Grunde waren es ja tragische Gestalten, sogar im antiken VerstĂ€ndnis, die blind fĂŒr die Anzeichen ihres Scheiterns waren, was sich viele bis heute nicht eingestehen. ‚The Game must go on.‘
-
Thiel sprach nur davon, dass er allmÀhlich vom Missionsauftrag wegdriftete, der sich als nicht reformierbar erwies, bis er kein Missionar mehr sein wollte.
-
Warum haben sichÂ ĂŒberhaupt Proselyten am Kongo und in Fukien gefunden?
-
Die Erinnerungen Josef Franz Thiels und die Studie von A. Klein beschreiben unter beiden Gruppen vergleichbare Hilfserwartungen an die neue Gemeinschaft wie an deren Gott und dazu dieselben Ausweichstrategien gegenĂŒber unerfĂŒllbaren Forderungen der Kirchenoberen. Wenn aber einzelne Missionare vor Ort Konsequenzen ziehen wollten, wenn sie Aspekte der Gemeindearbeit und ‚der christlichen‘ Alltagsmoral âafrikanisierenâ oder ’sinifizieren‘ wollten, wurde ihnen das von der Hierarchie verboten.
-
Katholizismus und evangelisches Freikirchentum gleichen sich mehr als man im ersten Moment denkt! Und sie scheitern beide in dem was sie fĂŒr ihr Kernanliegen halten. Wenn ich mich recht erinnere: Missionar Thiel konnte aus seinen Dörfern ĂŒber keine einzige glaubwĂŒrdige innere Zuwendung zur Botschaft des Evangeliums berichten.
-
Ich bin gespannt, wie die zweite und dritte Generation der Hakka-Christen der Studie von A. Klein im 20. Jahrhundert ihre MĂŒndigkeit erreichten und was sie daraus machten. Die sozialen Nachteile ihres Ăbertritts liegen auf der Hand. Wird sich eine Art âchristlicher Mehrwertâ aus der QuĂ€lerei und Zermarterung des Gewissens zeigen?
-
FĂŒr einen AuĂenstehenden war bereits âdie frohe Botschaftâ höchst zweifelhaft. Und SpiritualitĂ€t und Sozialmoral lassen sich doch nicht wirklich ‚exportieren‘.
- Ausgerechnet eine heillose Heilslehre, die allein mittels theologischer Akrobatik aus einem ĂŒberlieferten ‚Selbstopfer Gottes‘ die Rettung seiner AnhĂ€nger ableitet, wobei Zeitpunkt, Personenkreis und Bedingungen ewig strittig bleiben mĂŒssen?
-
Dem Konzept des ’sĂŒndigen‘ Menschen, sogar der ‚ErbsĂŒnde‘ könnte ich als Diagnose zustimmen, etwa im schopenhauerschen VerstĂ€ndnis, aber keineswegs der Reglementierung und Moralisierung durch christliche Kirchen.
-
FĂŒr einen Geist der AufklĂ€rung, der auf SelbstaufklĂ€rung und gesellige UnterstĂŒtzung – wegen des ‚Stolperns‘ (Kant) – zĂ€hlt, ist jede ‚Kirche‘ ein Ărgernis. Solange wir leben, sollten wir MĂŒndigkeit anstreben dĂŒrfen, ohne von VormĂŒndern daran gehindert zu werden.
-
ZurĂŒck zu den Hakka (Fukien) und Yanzi (Kongo): In ihrer traditionellen Umgebung gab es bereits sozialen Druck und AnlĂ€sse genug, sein eigenes Wollen und Tun zu verbergen, zu Heuchelei und zum scheelen Blick auf die AutoritĂ€ten. Ein schlechter Witz, wenn âdie frohe Botschaftâ dazu stĂ€ndig neue AnlĂ€sse schuf!
-
Wirklich niemand brauchte die Missionare in Afrika und China. Sie waren nicht gerufen worden. Sie sind ein Beispiel dafĂŒr, dass âdie Geschichte anders verlaufen‘ kann, aber darum nicht besser. Menschen â Individuen wie Gruppen – versuchen schlieĂlich aus jeder Situation fĂŒr sich das Beste herauszuholen. Und wir EuropĂ€er sind keineswegs fĂŒr jeden von ihnen verantwortlich. Du ahnst bereits, worauf ich hinaus will? Klar, auf die BootsflĂŒchtlinge und andere, die auf dem Landweg zu uns pilgern.
-
Heute mĂŒssen die MenschheitsbeglĂŒcker und Missionare nicht einmal mehr von zu Hause aufbrechen, sie können ganz bequem vom Fernsehsessel und BĂŒrostuhl aus ihre Ressourcen teilen und sich an der Akkulturation versuchen, damit die ‚Integrationâ gelingt‘, was immer das bedeuten mag.
-
Und die Idealisten unter ihnen? Ihre Absichten und Gesten zĂ€hlen, aber werden unweigerlich von anderen Akteuren ausgenutzt, âmissbrauchtâ pflegt man zu sagen.
WOCHEN SPĂTER (OKTOBER)
-
Soll etwa der Islam ungeschoren bleiben? Das fragte ich mich wĂ€hrend der LektĂŒre der Studie von Johannes Harnischfeger ĂŒber Nigeria.
-
Was hat denn das mit uns zu tun? Immer ‚Afrika‘!  Wenn du fĂŒr Europa, Deutschland relevant sein willst, ist doch Der Scharia-Konflikt in Nigeria gar zu abseitig.
-
Der Afrikanist kennt Nigeria und seine politischen Akteure seit Jahrzehnten aus eigener Anschauung, er erzĂ€hlt, dokumentiert und reflektiert den Konflikt auf mehreren Ebenen, sodass das Konfliktpotential zur Ăbertragung auf andere Regionen anregt, sogar auf Deutschland. Harnischfeger ist zu frĂŒh verstorben. Ich hĂ€tte ihn gern selbst dazu gefragt.
-
LĂ€sst sich etwa auch Boku Haram mit uns in Verbindung bringen?
-
Irgendwann dachte ich beim Lesen auch an Boku Haram. Die Miliz gab es damals noch nicht. Prompt finde ich im Netz Harnischfegers Fortsetzung der Geschichte : „RivalitĂ€t unter Eliten“ (Link zum pdf!). Ja, Boku Haram ist aus dem Zerfallsprozess in Nigeria entstanden! Am 2o.11. (2018) wird sogar ARTE wieder ein realistisches Feature von 2016 dazu senden! (Informationen ĂŒber die Dokumentation von Xavier Muntz und Bruno Fay)
-
Wollen wir nicht lieber auf das Thema der islamischen Heidenmission zurĂŒckkommen?
-
Ja, der islamische Dschihad war wie die christliche Mission durch AusĂŒbung von Gewalt und Macht, durch Eroberung und Kolonisierung erfolgreich. Seine BedrĂŒckung und Versklavung kleiner ‚heidnischer‘ Völker sind ja bekannt, aber auch ein Ăbertritt zum Islam brachte nicht die sprichwörtliche ‚BrĂŒderlichkeit‘ aller Muslime. Die bestehenden ‚ethnischen‘ RivalitĂ€ten in der Region wurden nur komplizierter. Neue Konflikte entstanden, zum Beispiel soziale durch Vertreter eines radikalen Monotheismus. Der war und ist den traditionellen afrikanischen Denkweisen, BrĂ€uchen und Strukturen fremd. Doch auch ethnische Konflikte verschĂ€rften sich durch Bedrohung traditioneller BĂŒndnisse und historisch gewordener IdentitĂ€ten, durch die nun eine ‚religiöse‘ Frontlinie verlief, etwa bei den Yoruba.
-
Aber entstand am SĂŒdrand der Sahara nicht ein lokaler’synchretistischer‘ Islam?
- Bei den islamisierten Eliten wurde fromme Heuchelei NormalitĂ€t und im Volk Doppelmoral und die stillschweigende Umgehung islamischer Vorschriften, sobald diese ĂŒbergeordnete Pflichten (etwa Ahnenkult) störten oder einfach zu lĂ€stig waren. Die Herrschenden wechselten und wechseln bis heute ohnehin nach ihrer Interessenlage zwischen ‚feudaler‘ und ‚religiöser‘ Legitimation.
- Ein ‚reiner‘ fundamentalistischer Islam aber erweist sich vor allem in jĂŒngerer Zeit als gesellschaftlicher und politischer Sprengstoff. Viele Nigerianer im SĂŒden fĂŒrchteten ohnehin seit der UnabhĂ€ngigkeit Nigerias eine schleichende Islamisierung des Landes.
-
Mitten im gesellschaftlichen Zerfall (Link zu „Vigilant Things„) um 2002 entstand aus lĂ€cherlich banalem Anlass ein neuer Riss durch die nigerianische Gesellschaft, von der populistischen Taktik eines Kandidaten verursacht, mit dem Versprechen der EinfĂŒhrung der Scharia den Gouverneursposten in seinem Bundesstaat zu erringen. Andere Bundesstaaten zogen nach. Mit der Scharia, dem traditionellen islamischen Familien- und Strafrecht, verbanden sich bei den anvisierten enttĂ€uschten WĂ€hlern unrealistische TrĂ€ume von einer moralischen Erneuerung des Nordens und schlieĂlich des ganzen Landes. Der SĂŒden war alarmiert. Pogrome und Morde an Zuwanderern aus der jeweils anderen Region fanden statt …. Die politischen Verwicklungen und AbgrĂŒnde Nigerias sind ein eigenes Kapitel, von Harnischfeger virtuos zerlegt und ausgebreitet.
-
Aber die Scharia, das göttliche unverĂ€nderliche Gesetz, erfĂŒllte diese Scharia wenigstens die Erwartungen?
-
Nein, das konnte sie – eine juristische Konstruktion aus dem arabischen Mittelalter – auch gar nicht. Aber lies doch selber mal das entsprechende Kapitel aus der Studie.
*
Kommentar per eMail 6.11.2018 von GMZ:
- Ich habe die letzten Ihrer Blogs gelesen, man ahnt, dass Sie viel wissen und auch gesehen haben, aber es scheint mir, als gĂ€be es in Deutschland (die Amerikaner sind da anders, EnglĂ€nder auch) gewisse Vorbehalte, die Strukturen des Denkens in Afrika ausser im Rahmen der Ăkonomie sehen zu wollen â vielleicht ist da doch deutsches Denken inzwischen kulturell eng und karg geworden, trotz der scheinbar so groĂen Freiheit, die unsere Kultur bietet. Ich hatte frĂŒher mal einen hervorragenden Beitrag in Lettre ĂŒber Magie und Familienbeziehungen in Afrika gelesen, nur, es war ein Franzose, der ihn geschrieben hatte.
- Ich denke, wenn Sie ĂŒber Mission schreiben, dass lange â wie in Europa bis in das 20.Jahrhundert auch â Schichten des Denkens nebeneinander existiert haben. Kennen sie Ursprung und Gegenwart von Jean Gebser?
-   Ich lese zu Zeit ein Buch von Navid Kermani ĂŒber den Koran, dessen These ist, auf Arabisch sei der Koran als rezitierter Text so schön, dass er alles andere ĂŒbertreffe. Nur findet das merkwĂŒrdigerweise in die jetzige Diskussion keinen Eingang, ebensowenig wie die ĂŒberwĂ€ltigende Schönheit mancher islamischen Architektur, es ist, als wĂ€re ein Geheimnis, das Geheimnis, ausgeklammert.
Da ich auch gerade ĂŒber eine Abhandlung ĂŒber Initiationsriten in Zentralafrika auf Josef f. Thiel gestoĂen bin, erfreut es mich, hier diese Auseinandersetzung zu lesen. 1. War mir Thiel halt bisher kein Begriff und 2. sind die Auseinandersetzungen mit Harnischfeger und Klein nicht weniger interessant.
Die persönliche Zusammenfassung aus dem „Dialog“: Erkunden, was ist das „schopenhauersche VerstĂ€ndnis vom sĂŒndigen Menschen“? Dann: Auf ins Frankfurter Weltkulturenmuseum!
Weiterhin einen schönen Herbst!
Was ich hier unter „sĂŒndig“ oder gar „ErbsĂŒnde“ verstehe? Ich denke an
„Die Wahrheit ist: wir sollen elend sein; und sind’s. Dabei ist die Hauptquelle der ernstlichsten Ăbel, die den Menschen treffen, der Mensch selbst: homo hominis lupus /der Mensch ist dem Menschen ein Wolf/. Wer dies Letztere recht ins Auge fasst, erblickt die Welt als eine Hölle, welche die des Dante dadurch ĂŒbertrifft, daĂ einer der Teufel des andern sein muss“ … oder „Der QuĂ€ler und der GequĂ€lte sind eins“. Er spricht an anderer Stelle auch von „SĂŒndhaftigkeit“ im Kursivdruck.
(Die Welt als Wille und Vorstellung Bd.2 u.1 nach A. & A.HĂŒbscher: Arthur Schopenhauer – ein Lesebuch, Wiesbaden 1980, S.184,78, 47 )