Popper versus Wittgenstein Lektüre-Tagebuch

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Literatur:

David J.Edmonds/John W.Eidinow: „Wie Ludwig Wittgenstein Karl Popper mit dem Feuerhaken drohte – Eine Ermittlung“, DVA Stuttgart – München 2001

Matthias Kross: „Zwischen Logik und Existenzialismus. Flussers Wittgenstein“ in „Das Dritte Ufer“ (2009)           

 

Vorspiel:  Das Geheimnis der britischen Liberalität (23.12.12)


Das Geheimnis dieser bekannten Größe im Reich der nationalen Stereotypen verdankt sich wohl komplementärem Klassenbewusstsein, einem penetrant aristokratischen und einem ebenso penetrant proletarischen. Das aristokratische hat sich in der Geschichte als äußerst anpassungsfähig, aber dominant und einflussreich erwiesen. In der Konstellation Wittgenstein – Popper gab ersterer den spleenigen Aristokraten, letzterer als Charakter den nicht zu bremsenden Aufsteiger ab. Bryan Magee nannte ihn „Schweißbrenner“(165).

Beurteilt nach ihrem Auftreten und ihrer herrischen Ausstrahlung, können Köpfe wie Popper auch in den regulären Adel aufgenommen werden. Die Zöglinge der Eliten werden bis heute mit feudalem Sadismus geimpft. Auch der englische Spleen hat etwas von dieser speziellen Brutalität wie die Fuchsjagd.

Das rhetorische Duell Wittgensteins mit Popper – zweier Österreicher – beide mit unüberhörbarem Akzent – wirft Licht auf eine Geistesaristokratie nach dem Modell des englischen Landadels. So erzählte mir T. erst vor wenigen Jahren von seinen Erfahrungen an der London School  of Economics als störrisch anachronistischer akademischer Republik, welche die Unabhängigkeit ihrer Vollbürger verteidigte.

Die Debattenkultur, die von England ausgeht, ist eine des Duells, des hoch konventionellen Spiels um Alles, wie Huizinga es beschrieben hat. Nichts ist daran demokratisch bis auf den Machtwechsel überhaupt, bis auf das Risiko eines Machtverlusts durch Verlust des Ansehens, Herkunft hin oder her.

Wenn die Ideologie des Nationalsozialismus in England keinen Erfolg hatte, obwohl sie Anhänger in den Eliten fand, so wegen seines drögen, die Konkurrenz scheuenden und einer gleichmacherischen Bürokratie zuarbeitenden Charakters.

 

Edmonds und Eidinow haben ein dramatisches und tief schürfendes Buch geschrieben.

Den ersten Eindruck prägt das hochenergetische Zusammenkrachen zweier voll ausgebildeter Platzhirsche im Zeichen einer akademischen Gastfreundschaft, die sich zumindest unter Wittgenstein als hohle Fassade erweist, und zwar durchgängig. (Kapitel „Jünger“, S.37ff.) Dann wird mir die ungeheure Wucht seiner Lebensentscheidungen und seines einsiedlerischen in ihm verschlossenen Denkens und Redens bewusst. Zeuge Hijab: „Er war wie eine Atombombe, wie ein Tornado. Die Leute begreifen das einfach nicht.“(21) Seine Bombenkrater deformierten den Campus von Cambridge, dessen Markenzeichen eigentlich die gelassene gegenseitige Toleranz war. Seine „Jünger“ kleiden sich sogar uniform.

Jetzt muss ich diese Eindrücke an „Philosophische Untersuchungen“, erschienen 1953, überprüfen. Ich stelle erstaunt fest, dass ich das Buch 1966 in Wien las. Damals hatte ich offenbar etwas Sekundärliteratur zur Seite. Den Inhalt hat mein Gedächtnis völlig getilgt. Jetzt bin ich damit in einer halben Stunde fertig. – An anderer Stelle noch einmal einsetzen?

Ich habe das Gefühl, mich in einem niedrigen Tunnel bewegt zu haben, in dem man sich in hockender Stellung fortbewegen soll. Es gibt nichts als die Sätze des Meisters. Schon die Enge macht Angst, er muss gar nicht schlagen.

Er stellt wiederholt sehr abstrakte, unentrinnbare Fragen, die nur er befriedigend beantworten kann, weil er darüber Stunden, Tage gebrütet hat, oder auch er es auch nicht geschafft hat. Den Text etwa ins Englische zu übersetzen wäre dagegen ein Kinderspiel. An seinen hypothetischen Fragen im Text spüre ich das (aktuell S.16)

„Zeig auf ein Stück Papier! – und nun zeig auf seine Form, – und nun auf seine Farbe, – nun auf seine Anzahl (das klingt seltsam)! – Nun, wie hast du es gemacht? – Du wirst sagen, du habest jedes Mal beim Zeigen etwas anderes ‚gemeint’. – Und wenn ich frage, wie das vor sich geht, wirst du sagen ….“

Selbst die hilflosen Versuche des Gegenüber werden hier vorgeschrieben. Welch einen Mut muss es gekostet haben, auch nur den Vorschlag ‚gemeint’ zu machen! Die Methode hartnäckigen Nachfragens wirkt auf Argumentationsketten zersetzend, wofür im Buch auch Beispiele genannt werden. Popper ließ sich Wittgensteins  Attacken aber nicht gefallen. Das Publikum reagierte entgeistert.

 

Dringend: Die Wittgenstein-Rezeption Vilem Flusser überprüfen   25.12..

Ich befrage den Aufsatz von Matthias Kross: „Zwischen Logik und Existenzialismus. Flussers Wittgenstein“. Erste überraschende Antwort: „Kein Hinweis auf die „Philosophischen Untersuchungen“ – 1953 erschienen. (89) Und weiter: Er „ignorierte geflissentlich alle werkimmanenten Bezüge und Verwicklungen“. (81) Kross vermutet, „dass er glaubte, das Neuartige der Spätphilosophie im Vergleich zum Tractatus vernachlässigen zu dürfen.“ Deshalb beschränke sich auch seine überschwengliche Rezension der „Philosophischen Bemerkungen“einzig auf  das Vorwort des „auf existenzielle Authentizität gerichteten Denkers“, der bereits im Tractatus gefordert hatte, „die Sätze des Buches zu überwinden und fortzuwerfen, um die Welt richtig zu sehen, indem er sich Schweigen verordnet hatte.“ (84)  Und Flusser nutze sie eigennützig (90). Für ihn müssen eben Sätze der Logik die Leere, das Nichts bedeuten, statt wie für W. allein die Möglichkeit des Bedeutens überhaupt. (91f.) Frage des Laien: Macht das nicht generell mathematische Sätze aus und solche, die sich nach ihrer Logik entwickeln, ebenso? – Wieviel Ahnung hatte eigentlich Flusser von Mathematik?

Er konnte sich aber mit W. identifizieren, ein Vorbild im Erneuerer oder vielleicht größenwahnsinnigen „Zerstörer der traditionellen Philosophie“ (83) sehen: Auch sein eigenes Werk „begann aus dem Monolog der philosophierenden Solitüde zu erwachsen“. (85) Als Schüler dieser figura gigantesca (81) in Cambridge wäre er ohnehin in hohem Bogen hinausgeflogen.

Jetzt richtet sich mein Blick aber auf die Optik vermittelnder Sekundärliteratur. Wenn ich doch nur überwinden könnte, die Forderung, zu den Quellen zu gehen, nicht nur auf Sachverhalte, sondern auch auf deren weitschweifigste Interpreten anzuwenden! Für Wittgenstein gilt wohl noch mehr als für Flusser der Erfahrungssatz:  Je höher die Interpreten problematische Originaltexte überfliegen, desto schöner erstrahlen diese. Denn das Original lügt nicht wie seine Verdünnungen und Verschnitte. Und es zeigt den Gestus des Schreibens und Redens und Auftretens. Jetzt bin ich aber auf den stürmischen Karl Popper gespannt, wo der in den mir zugänglichen Bereichen seines Denkens einen so banalen Common Sense zu repräsentieren scheint.

 

Die Revolutionäre im Wiener Kreis                    27.12.

Bin im Wesentlichen durch. Ich sehe den Paradigmenwechsel deutlich vor mir. Bertrand Russell und seine „logischen Atomisten“ setzen sich nicht mit „Erkenntnistheorien“ auseinander, sie beginnen einfach anderswo neu: beim „rigorosen Gebrauch logischer Techniken“ aus der gerade erfolgreichen Mathematik – sie sind auch dort noch nicht wirklich erprobt? – auf die zeitlosen Probleme der Metaphysik (202), zwirbeln ein paar Traditionsfäden über zweihundert Jahre hinweg zu den englischen Empiristen. Das Kapitel „Tod in Wien“ (S.135ff.) zeigt, wie der Wiener Kreis „heilige Kühle schlachtete“. – Die Parallele der Klassischen Moderne in der bildenden Kunst gegenüber dem Akademismus kommt mir in den Sinn. Die klassische Gymnasialbildung scheint auszureichen, um in der verachteten Tradition (Plato, Hegel) Feindbilder auszumachen und anzugreifen, ganz so, wie Feyerabend im Interview des wdr 1993 die Bengel, schilderte, die neue Disziplinen gründeten.  Lächerlich klein und desorganisiert, aber äußerst selbstbewusst probierte man Methoden der Verifizierung aus, bis man sich verhedderte. Wurschtigkeit, Hemdärmeligkeit, mangelnde interne Abstimmung, Intrigen, Platzhirsche, persönliche Abhängigkeiten, Konkurrenzen und Animositäten (sogar milieubegründete), kurzzeitig wirksame Dominanzen – das typische Verhalten moderner primitiver Horden, und dazu eine große Schar Jungkademiker als desorientierte Mitläufer im Gefolge. Doch sind nicht Wissenschaft  und Philosophie immer schon so menschlich gewesen?

Jedenfalls hat Bertrand Russell in Cambridge am Ende die destruktive Wirkung Wittgensteins auf die Theorieproduktion Bauchschmerzen verursacht. Es kam zum Bruch. Wittgenstein wollte die Philosophie letztlich liquidieren (vgl. 208f.), andere ihr bloß eine methodische Trense ins Maul schieben, etwa Russells „logische Notation“(205) – nichts schien im natürlicher – und sie nach Art der Lipizaner zu einer erkünstelten Gangart, etwa einem „komplizierten logischen Dreischritt“ (205) veranlassen innerhalb der Arena, die „Welt der Logik“ genannt wird.

 

„Wittgenstein II“ predigt das Vertrauen in die Oberfläche der Alltagssprache – „völlig funktionstüchtig“  – wie in den Gebrauch, den die Menschen davon „eingebettet in unserer Lebenspraxis“ (208) machen. So sei, sagen die Autoren, der missverständliche Satz zu verstehen: „Wir selbst, nicht die Welt, sind die Herren. Wir können mit der Sprache tun, was wir wollen. Wir wählen die Regeln aus und bestimmen, was es heißt, eine Regel zu befolgen. …“ (208). Die Autoren sprechen von einer art „sprachlicher Therapie“. „Der Philosoph behandelt eine Frage; wie eine Krankheit.“ (zit. 209) Die Optimierung von Regeln entsprechend den Interessen unserer Lebensformen wird das Programm. Letztbegründungen werden aufgegeben zugunsten des „Trial and Error“ (216); ebenso soll „Legitimität nicht mehr unsere Hauptsorge sein“. (216) Die Art der Wahl sei beileibe nicht so wichtig wie die Möglichkeit der Abwahl. (217) – Auch das ein Vorteil der Entkopplung von Herrschaft und Sinnstiftung von der Metaphysik. Popper und Russell wurden wütend. Das Buch bringt das mit deren politischer Ader in Verbindung. Popper soll sich bei „W.II“„ganz entsetzlich“ gelangweilt haben.

Kann ich selber nach Jahrzehnten der Freiheit noch ermessen kann, wie groß dieser Schritt historisch gewesen ist? Diese Leute sahen scharfäugig die ständige Versuchung für die Metaphysiker, in eine Legitimierung diktatorischer Macht zu rutschen, sie zu verharmlosen, gar zu beschönigen, Rechte wie Linke! Wie hat sich etwa die deutsche Zunft der Berufsphilosophen im Dritten Reich blamiert, von Heidegger bis Liebrucks, Cramer u. Co., und ebenso die auf der Linken, die zu Bänkelsängern des Stalinismus wurden!

 

Abspann: Undank!

Edmonds und Eidinow gehen dem weiteren Schicksal der Rivalen in der Nachwelt nach. Sir Poppers Ruhm sei verblasst, selbst an der LSE (261). Seine politischen Ideen „sind mittlerweile Allgemeingut geworden“ (260). Mir selber kommen sie banal vor. „Geistige Fragen haben ihre Dringlichkeit verloren“ (ebd.), auch das eine Folge des Sieges ihrer intellektuellen Revolution. Wittgenstein heimst als W.I –  als Teil der analytischen Philosophie – und II – als Guru und Eremit mitten in Cambridge – gleichermaßen Nachruhm ein (260ff.). Denn ohne authentische Prophetengestalten ist das Leben arm.

Die Analytiker aus Wien haben nicht Recht behalten, bloß in ihren eigenen Augen und denen ihrer Jünger, aber sie haben unsere Welt verändert. „Leben ist Problemlösen“ sagt bekanntlich irgendwo Popper.

Und Flusser? – Der wollte alle Stile und hat sich an seine Sagrada Familia  verloren, als Genie vom Lande in einer Epoche der multiplen Kollektive.

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