Welche Distanz zu China suchen? – über Reisen, Kaiser Kangxi und Hans Jonas

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 Erster Upload am 17. 9. 2017

Gelegenheit, über die passende Distanz zu China nachzudenken. Welche Distanz soll denn wozu passen?

 Gespräche und Anfragen zu China machen mir klar, wie lange ich nicht mehr selbst im Land gewesen bin, fast dreißig Jahren, und dennoch sprudeln heute die Gedanken nur so.

 

Studium am Schreibtisch

Was soll nach dreißig Jahren überhaupt noch ‚Distanz’ bedeuten?

Ein Beispiel. Ich las das fiktive, in Wahrheit von Jonathan Spence aus Zitaten montierte „Selbstporträt des Kaisers Kangxi “ (1654-1722) und dazu parallel das Porträt eines ganz unauffälligen Landkreises in Mittelchina. („Geschichte der Frau Wang – Leben in einer chinesischen Provinz“ 1978, dt. Wagenbach 1987) Ich suchte mir zudem Material über die berühmte Porzellanherstellung in Jingdezhen auf der schwedischen Webseite http://www.gotheborg.com.

Anlass für das Selbststudium war die kleine, aber feine Präsentation von Wanli Blau und Weiß aus dem 17. Jahrhundert, die 2017 im Museum für Angewandte Kunst Frankfurt zu sehen war. Höhepunkt war ein Studientag am 2. September. Für diesen Tag dachte ich mich fit zu machen. Und ich hatte Spaß daran, obwohl feines Porzellan nun wirklich nicht mein Sammelgebiet ist.

Je länger die Lektüre andauerte, desto mehr Schichten legte sie frei. Ereignisse beleuchteten Einschätzungen des Kaisers Kangxi und umgekehrt. Historische Fakten und Deutungen färbten auf mein Bild der Gegenwart Chinas ab, die heute scheinbar von so vielen völlig neuen Faktoren bestimmt wird, dass dahinter Chinas Geschichte und alte Zivilisation fast unsichtbar sind.

 

Die unmittelbare Nähe ?

Was würde mich auf einer Reise heute an relevanten Erfahrungen erwarten? Vor allem sehr viele disparate Eindrücke, also ‚Rohdaten’, stark erklärungsbedürftige Beobachtungen. Auf Reisen ist man paradoxerweise fast unausweichlich zu nah dran.

Wer sollte sie mir entschlüsseln, etwa routinierte Reiseführer oder zufällige kurze Begegnungen? Vielleicht im Einzelfall einmal ein Mitreisender, der etwa dieselbe Gruppenreise im Jahr zuvor auch schon mitgemacht hat und in dasselbe tibetische ‚Wohnhaus’ geführt wurde, wo ihm aber als ‚Bewohner’ eine andere Familie präsentiert wurde. Als mir mein Freund die Anekdote erzählte, erinnerte mich das an meine geführten Besuche von ‚Arbeiterwohnungen’ in ein paar Städten im Jahr 1973. Erst später war mir an meinen Fotos aufgefallen, dass die schmucken Räumlichkeiten über und über frisch dekoriert und blitzsauber waren. Im Zentrum saß die Dolmetscherin, die uns von früh bis spät bemutterte.

Reiseleiter und Dolmetscher sind die wichtigsten Bezugspersonen bei Gruppenreisen. Sie sind auch auf ‚kritische Fragen’ eingestellt, nicht anders überall in der Welt das PR-Personal. Sie genießen ein gewisses Vertrauen der Gäste. Und was sollen in Tibet schon für kritische Fragen entstehen? Die könnte doch jeder halbwegs Informierte sich selber beantworten, und zwar gleich aus unterschiedlichen Perspektiven.

Und bei dem Rundgang um ein revolutionäres Musterdorf konnte 1973 unsere Reisegruppe  auf dem gegenüberliegenden Hang bereits die nächste Besuchergruppe sehen, oder war es die vorige? Fabriken und Behörden hatten für Besucher extra Vizedirektoren, habe ich einmal gehört.

 

Vorauswahl und Komprimierung durch Außenstehende, Journalisten und Wissenschaftler?

Der Kompetenz und den Möglichkeiten langjährig ansässiger Auslandskorrespondenten vertraue ich lieber als meinem improvisierenden ‚investigativen’ Scharfsinn. ‚Insider’ bekommt man als Tourist nicht zu Gesicht. Zufallsbekanntschaften würde man hierzulande auch mit Vorsicht genießen. Das touristische Reisen generell kann vielleicht nicht schaden, aber nützt auch wenig.

Zeitungsberichte wie Fernsehberichte bieten Information in fasslicher und konzentrierter Form, mit dem das Nachdenken etwas anfangen kann. Auch wird auf dieser Verarbeitungsstufe noch sehr oft das Ausmaß an menschlichem Leid deutlich, das sich auf Entscheidungen oder Nichtentscheidung zurückführen lässt. Doch die Publikumsmedien bieten solche Beiträge so planlos an, dass der große Horizont unsichtbar wird. ARTE, 3sat, phoenix und wenige andere Sender versuchen wenigstens, sie an bestimmten Terminen zu bündeln. Ich weiß nicht, wie viele Zuschauer sie noch mit solchen “Themenabenden” locken können.

Westliche Propaganda hat sich seit den Bettelbriefen der christlichen Missionare im 19. Jahrhundert gegen ‚China’ gern des ‚human interest’ bedient, so wie die chinesische Propaganda traditionell den idealisierenden, schmerzliche Details überstrahlenden Überblick bevorzugt.

 Und warum fällt mir zu den Wissenschaftlern nichts Rechtes ein? Werden sie nicht eingeladen? Sind die Publikationen zu exklusiv? Arbeiten sie zu arbeitsteilig? Haben sie keine Zeit für so etwas, außer sie werben für Bücher oder das ‘Konfuzius-Institut’, eine erfolgreiche regierungsamtliche PR-Organisation Chinas?

 

Was lässt sich an einem so gigantischen Land überhaupt beobachten? Viellecht aus der Zentralperspektive der Staatsspitze?

Vor zweihundertfünfzig Jahren war Kaiser Kangxi an der Reichsspitze theoretisch in der idealen Position. Doch wie hatte er um halbwegs realistische Einschätzungen zu kämpfen, die schon im nächsten Monat oder Jahr Makulatur sein konnten! Als Beispiel erörtert er selber einige letztlich verfehlte Personalentscheidungen.

Palastmuseum Peking, Berlin1985, S.8 Kat.1 (Ausschnitt) Kangxi

Palastmuseum Peking,Berlin 1985, S.36 Kat. 2 Kangxi

 

 

 

 

 

 

 

Als Außenseiter, erzogen als Mandschu, Erbe fremder ‚Usurpatoren’, vor allem aber als überragender Staatsmann stellte Kangxi höhere Anforderungen an Information, als die Konventionen der Berichte an den Hof hergaben. Ein Leben lang kämpfte er dagegen an. Dabei sah er sich auch gezwungen, eigene Irrtümer als Fehlerquellen anzuerkennen, vor allem wegen eines aus seiner Fehlkalkulation resultierenden Bürgerkriegs.

Der von J. Spence in seinem politischen Denken und Werk nach 250 Jahren rekonstruierte Kaiser ist ein Glücksfall für die historische China-Information. Leider habe ich von dem bereits 1973 in Amerika und 1984 in Deutschland erschienene Buch viel zu lange nicht erfahren, das jetzt rar und teuer ist, obwohl es sich wunderbar liest. – Eine Neuauflage bitte, lieber (?) Insel-Verlag! Sie würde sich rentieren!

 

Auf jeden Fall empfiehlt sich eine Fernethik

Dass der Blick aus der Höhe oder der Ferne die Einzelschicksale aus dem Auge verliert, ist wohl unvermeidbar. Am schlimmsten ist es, wenn wir den üblichen Vortänzern in der  westlichen Öffentlichkeit folgen und besinnungslos zwischen Empörung oder Mitleid und strategischem Sandkastenspiel wechseln. Denn die alten Nahethiken, einst für staatsferne Untertanen entwickelt und im 20. Jahrhundert von der Linken aufpoliert, geben keine Orientierung mehr. Aber das ist ein anderes Thema. Also ist eine entsprechende Fernethik wie die von Hans Jonas entwickelte gefragt.

Das war bereits das Problem des Kaisers Kangxi, der im Interesse der ‚Staatsräson’, des ‚Systemerhaltung’ oder edler formuliert: des ‚Gemeinwohls’ versuchte, die Handlungen ‚seiner’ tief gestaffelten Bürokratie auszubalancieren und zu korrigieren, im Einzelfall ebenso wie präventiv im Sinne einer Richtlinienkompetenz.

Der gebildete westliche Leser wird ihm grausame Entscheidungen wohl übel nehmen. Die von J. Spence zusammengetragenen Erzählungen aus dem Landkreis verdeutlichen aber, wie viel höher der Preis an Leiden und Zerstörungen war, den die Menschen dem Chaos eines Machtvakuums zahlen mussten. Die aus Chroniken zitierten Greueltaten der Banditen und ‚regulären’ Soldaten sind dieselben wie die von aufständischen ‚Milizen’ im Kongo oder  die im „Simplicius Simplizissimus“ geschilderten Kriegsverbrechen während des Dreißigjährigen Kriegs in Mitteleuropa.

Die von Hans Jonas aufgestellten Maximen in „Das Prinzip Verantwortung“ hätten Kangxi sicher gefallen, selbstverständlich angepasst an seine Zeit und Position. So stellt Jonas am menschlichen Handeln die individuelle Verantwortung dem Element des Glücksspiels oder der Wette gegenüber, hinsichtlich des Ausgangs wie der Nebenwirkungen. Er fragt, um welchen Einsatz man ethisch gesprochen wetten darf. Da es sich nicht vermeiden lässt, dass unser Handeln das Schicksal anderer in Mitleidenschaft zieht, muss dies Element der Schuld in allem Handeln oder Nichthandeln übernommen werden. „Der Handelnde ist immer gewissenlos“, zitiert er Goethe, der übrigens als fürstlicher Beamter am Weimarer Hof wusste, wovon er sprach. Wieviel von solcher “Gewissenlosigkeit” das höhere ethische Gewissen zulassen kann, ist jeweils Frage einer Kasuisitik der Verantwortung. Prinzipiell sind nach Jonas nur Mutwille und Leichtfertigkeit zu verwerfen – das heißt, die Gewissenlosigkeit darf nicht gedankenlos sein; und mutwillig wäre zum Beispiel der Einsatz des Bedeutenden um nichtiger Ziele willen. So kommen, schreibt er, die furchtbaren aber moralisch vertretbaren Entscheidungen über Krieg und Frieden zustande, wo um der Zukunft willen der Einsatz die Zukunft selbst wird. Nur muss man hinzufügen, dass dies nicht wegen der Lockung einer herrlichen, sondern nur unter der Drohung einer fürchterlichen Zukunft geschehen darf.

Im Blick auf die gesamte moderne Welt bilanzierte Hans Jonas im Spiegel-Interview 1992 unter dem Titel „Dem bösen Ende näher“: Menschengeschichtlich könne ‚Untergang’ das tragische Scheitern höherer Kultur überhaupt bedeuten, ihren Absturz in eine neue Primitivierung, dass es zu Massenelend, Massensterben und Massenmorden kommt, dass es dabei zum Verlust aller der Schätze der Menschlichkeit kommt, die der Geist ja auch hervorgebracht hat.

Ich bin mir nicht sicher, ob das Regime in Peking oder seine Thinktanks an Hans Jonas’ Ideen zur Verantwortungsethik interessiert sind. Vielleicht sagen sie auch wie damals Kangxi: das hat bei uns der XY bereits gesagt, vielleicht Sunzi (Die Kunst des Krieges), im Zweifelsfall Konfuzius. Man hat in China jedenfalls immer wieder zukunftsfähige strategische und ökologische Konzepte nicht nur entwickelt, sondern in Angriff genommen. Macht das uns in unserem kleinteiligen und kleinmütigen Europa nicht neidisch, wenn wir davon erfahren? Mich jedenfalls. Bereits Kangxi hat die Prävention bei Gefahren sehr ernst genommen, das hieß auch Überwachung, Zensur und andere Freiheitsbeschränkungen.

 

Der Aspekt „Zensur“

Natürlich kommt in seinem solchen fern von China geführten Gespräch unweigerlich auch die „Zensur“ zur Sprache. Mein Freund erzählte auch eine Anekdote vom Surfen im Internet: Deutsche öffentlich-rechtliche Nachrichtensendungen waren nach Themen differenziert zensiert, was sehr aufwendig sein muss.

Wenn aber inzwischen weltweit die bekannten Netzgiganten – plus professionelle Hacker – die Kontrolle der Internet-Kommunikation übernommen haben und durch niedrige Zugangsschwellen fake news, Gewaltbilder, Hasskommentare und shit storms erlauben, müssen nach langem Zögern auch westliche Staaten gegen ihre heiligen Prinzipien der Informations- und Meinungsfreiheit verstoßen. Sie wollten sie ohnehin immer nur selektiv verstanden wissen, gerade im auch ideologisch geteilten Deutschland nach den Nazis.

Wenn aber auch in chinesischen Städten die Menschen permanent am Tropf des smartphone hängen, wie mein Freund einwendet, steht das vielleicht in einem etwas anderen Kontext: die große Menge unternehmungslustiger Untertanen durch Gewährenlassen in einem flexibel definierten Rahmen zu befrieden, so zynisch das klingen mag.

 

Der Aspekt „Korruption“

Natürlich kommt in einem solchen weitab von China geführten Gespräch unweigerlich auch die „Korruption“ innerhalb der Machtelite zur Sprache, Mit welchem Ergebnis? An eine radikale Ausrottung ist in keiner Gesellschaft der Welt zu denken. Auch die chinesischen Kaiser waren damit konfrontiert, und Kangxi hat sich explizit damit auseinandergesetzt. Doch sind bei maßvoll tolerierter Korruption Verschwendung und unrechtmäßige Aneignung kein Hauptproblem, solange der Primat der Politik – im Sinne des Gemeinwohls – gewahrt bleibt.

So sehr sich westeuropäische Gesellschaften wegen ihrer „good governance“ im Ranking von „transparency international“ auf die Schulter klopfen, ihre Politiker sind Gefangene ebenso mächtiger wie verantwortungsloser Privatinteressen. So fahren die Manager der Autokonzerne ungebremst und ungestraft ihren Wirtschaftszweig gegen die Wand. So schamlos wie sie haben in den letzten Jahrzehnten auch Vorstände der Großbanken betrogen. Und das Wahlvolk wird sich an ihnen ein Vorbild nehmen, so weit die eigenen schwachen Kräfte reichen. Man kann das Notwehr nennen, muss aber nicht.

 

Die Aspekte „Parteiherrschaft“ und „Staatskapitalismus“

Was hierzulande oft als Verteidigung der „Parteiherrschaft“ disqualifiziert wird, hat den vernünftigen Traditionskern, die ökonomische Elite unter Vormundschaft zu stellen. Die Porzellanmanufakturen um Jingdezhen, eine wenigen Jahrhunderten noch im Weltmaßstab boomende Exportindustrie, kann als Modell eines Staatskapitalismus dienen.

Sie gedieh auch unter – partieller – Kontrolle der kaiserlichen Bürokratie. Diese reichte hinunter bis zur Verwaltung des zeitweise riesigen Industriegebiets, und dort bis zum für seine Gasse persönlich verantwortlichen Blockwart hinunter. Kaiserliche Manufakturen kooperierten wo nötig mit den Steuern zahlenden privaten Produzenten, die ihr Geld hauptsächlich im Außenhandel verdienten. Das Regime konnte sich auf den Erfindergeist und den Geschäftsinn der Unternehmer verlassen. Um die Qualitätssicherung im privaten Sektor musste sie sich nicht kümmern. Die übernahm der internationale ‚Markt’.

Mit Verspätung entwickelten sich in Westeuropa leider zwei gegensätzliche Industrialisierungkonzepte, eines mit bürokratischer – ‚merkantilistischer’- Qualitätssicherung um jeden Preis, womit Frankreich schon im 18.Jahrhundert ins Hintertreffen geriet, und das eines laisser-faire-Kapitalismus in England. Letzterer setzte sich global durch.

Uneingeschränkte individuelle Freiheit wird bei uns immer heftiger als europäische ‚Errungenschaft’ glorifiziert, obwohl sie westliche Gesellschaften zu sprengen droht. Im Ringen mit dem international gewordenen Großkapital hat das Prinzip schon dazu geführt, dass Global Players alle Gesetzgeber, deren Kontrollbürokratie, Bankenaufsicht und die detailverliebte blinde Justitia vor sich hertreiben. Wenn niemand sonst das letzte Wort hat, hat das freie Kapital das letzte Wort. In der Volksrepublik war das Kapital bisher hingegen immer noch ein wenig das vogelfreie Kapital. Auch bei ‚Joint Ventures’ hatte bisher immer die chinesische Seite ein Übergewicht. Warum sollte das chinesische Regime sich dieses vorteilhafte Prinzip abschwatzen lassen, wo doch mit Trump ein amerikanischer Präsident zeigt, wie weit ‚Freihandel’ sich kneten lässt?

Und damit enden wir mit einer abrupten Wendung überraschend bei der speziellen Kunst der Manufakturen in Jingdezhen, eine besonders feine Porzellanerde zu bereiten, zu formen und erfolgreich zu brennen. Ausschuss gibt’s immer.

 

Postscriptum den Tag darauf: Darknet

Ein Feature in 3sat (8.9.17, 20.15) über das “Darknet”. Nicht  erst beim Streiflicht auf den Firewall der VR China erscheint mir meine Darstellung irgendwie unangemessen harmlos, eben knöchern, blutleer. Als hätte ich etwas nicht begriffen…

Begonnen hat das Feature mit praktischen Ratschlägen zum Ausprobieren, geht dann auf  kriminelle bis menschenverachtende Aktivitäten ein, denen das “Darknet” das “Tor” öffnet, sowie auf die Probleme der Behörden. Davon entfernen wir uns mit der Reportage allmählich im Gespräch mit wechselnden Partnern, welche die Reporterin an die Hand nehmen und für das “Darknet” als Zuflucht werben, für Verfolgte ebenso wie für ihre Nerd-Utopie des freien anonymen Internets. Die Aufmerksamkeit wandert sich über Edward Snowdon zu verfolgten Journalisten in der Türkei und  Dissidenten in Syrien und mündet bei einem jungen Menschen in China, der im “Darknet” verzweifelt die individuelle Freiheit sucht, die er ‘draußen’ in seiner Gesellschaft nicht findet. Ich glaube sein persönliches Leiden nachvollziehen zu können, aber es macht doch keinen Sinn, wenn westliche Medien ihm für sein Bedürfnis ein  ‘informationelles Menschenrecht’ ohne praktischen Nutzen in seiner Lebenswelt anbieten?

Die Visionen romantischer freier Kämpfer im durch Verschlüsselung anonymen digitalen Untergrund könnten übrigens vom Vilém Flusser der achtziger Jahre inspiriert sein, als er das technologische Wettrüsten zwischen kompetenten Individuen und “dem Apparat” als letzte Freiheitsperspektive prognostizierte. Ihm war freilich klar, welche Seite Sieger bleiben würde.

Im Strickmuster des Features finde ich die ‘Glorifizierung unbeschränkter individueller Freiheit’ wieder, von der ich oben sprach, eine Glorifizierung, welche die Kosten vergisst und die Risiken für den westlichen Rechtsstaat ausblendet. Wollen “wir” – in diesem Moment vom Medium 3sat vertreten – etwa nicht den Preis für den Schutz unserer verfassungsmäßigen Freiheiten zahlen, soll der gratis sein?   “Wir”  wollen wie kleine Kinder Alles und das gleich. Unserer 1968er-Generation hat man lange diese Mode vorgeworfen. Neue Generationen scheinen auf allen möglichen Gebieten aber noch viel ungehemmter extreme Positionen  zu vertreten und zu leben. “Grenzen” und “Grenzen setzen” ist in weiten Kreisen zum “Unwort” geworden. Na denn Gute Nacht.

 

 Zweites Postskriptum : Nordkorea, USA, China

Die nukleare Aufrüstung und provokative Raketenstarts Nordkoreas sind seit Wochen in den Schlagzeilen. Die Bedrohung, sagt man uns, wird immer größer. Gestern ist der rotblonde Sheriff aus Amerika mit Gegendrohungen vor großem Publikum voll aus der Deckung gegangen. Er steht  in einer virtuellen Kinokulisse der 50er Jahre auf der staubigen Gasse, die Hände neben den Colts und wartet, ob Kim Yong Il endlich kommt. Er droht ihm und seinem Land etwas an, das den Nachbarn überhaupt nicht gefallen kann: völlige Zerstörung. Da wären doch beträchtliche Kollateralschäden unvermeidlich. Will er damit etwa die im Eingang des Saloon wie unbeteiligt herumstehenden Chinesen unter Druck setzen?

Das einzige Drohpotential liegt bei den Chinesen, sagt man, und in zweiter Linie bei dem sibirischen Anrainer Putin, den wir hier gleich wieder vergessen. Jeder fragt sich: Warum tun die nichts? Die könnten den Kim doch erdrosseln, rösten, in mundgerechte Stücke teilen und frühstücken.

Doch warum sollten sie momentan etwas tun?  Wo doch Donald T. Duck  als jähzorn’ger Ritter von der traurigen Gestalt für ein imaginäres Duell posiert. Endlich ein ‘Stellvertreterkrieg’ der USA – ‘America First’ – als Sühne für die vielen Stellvertreterkriege anderer? Viel wahrscheinlicher ist ein verstohlener Rückzug der USA – dem aus Vietnam vergleichbar. Der käme China doch nur recht. Die USA fallen China seit 1949 lästig – als Schutzmacht der Philippinen, Taiwans, Japans und Südkoreas und mit ihren Stützpunkten (Guam).

Wartet die VR China also die weitere Entwicklung der Krise in Ruhe ab, um irgendwann die letzte Rettung zu sein, für das abtrünnige Taiwan, das historisch undankbare Korea und das vergreisende hohlköpfig nationalistische Japan? Alle gehörten sie einmal zur großen Familie! Warum nicht erneut?  Wäre das etwa unmoralisch? 

Jetzt fehlt mir nur noch ein passendes Zitat ihres Großen Strategen Sunzi  (um 544 v.Chr.)  in “Die Kunst des Krieges”. Aus taiwanesischem Munde habe ich es vor ein paar Jahren bereits gehört.  Etwas von Früchten, die einem schließlich von selbst in den Schoß fallen.

Vorher ist vielleicht ein anderes Zitat auch nicht ohne Witz: “Schwäche die feindlichen Anführer, indem du ihnen Schaden zufügst; machen ihnen Schwierigkeiten und halte sie ständg in Atem; täusche sie mit Verlockungen und lasse sie jeweils zu dem Ort eilen, den du bestimmst.”  (c : James Clavell, dt. 1988,1999 S.81)               20. Sept. 2017

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